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Boris Kagarlitzki in Haft

Russland: Autor wird Befürwortung von Terrorismus vorgeworfen (Von Reinhard Lauterbach)

Die russischen Behörden haben offenbar beschlossen, gegen linke Kritiker des politischen Kurses unter Präsident Wladimir Putin vorzugehen. Am Dienstag wurde bekannt, dass der Chefredakteur des Internetmagazins Rabkor, Boris Kagarlitzki, in Moskau verhaftet und auf Initiative des Geheimdienstes FSB in die 1.000 Kilometer von Moskau entfernte Provinzstadt Syktywkar deportiert wurde. Am Mittwoch steckte ein dortiges Gericht Kagarlitzki für zwei Monate in U-Haft. Ursprünglich war der Haftprüfungstermin erst für Donnerstag vorgesehen. Wegen der großen Entfernung war Kagarlitzkis Anwalt jedoch nicht in der Lage, so kurzfristig zu erscheinen. Drei weitere Mitarbeiter des Onlinemagazins wurden kurzzeitig festgenommen, sind inzwischen aber wohl wieder auf freiem Fuß.

Kagarlitzki wird dem FSB zufolge »Billigung des Terrorismus« vorgeworfen. Darauf stehen bis zu sieben Jahre Haft und ein anschließendes fünfjähriges Verbot, bestimmte Funktionen auszuüben. Als Argument zog der Dienst einen Beitrag Kagarlitzkis auf Rabkor über den ersten ukrainischen Angriff auf die Krimbrücke vom Oktober 2022 heran. Der nicht namentlich gezeichnete Text, um den es mutmaßlich geht, ist auf der Seite nachzulesen: Er wirft der russischen Führung vor, mit ihrer damaligen Reaktion – der Bombardierung ukrainischer Kraftwerke – eine unkluge Entscheidung getroffen zu haben, die keinen nachhaltigen Erfolg mit Blick auf die angestrebte Lähmung des ukrainischen Energiesystems haben werde. Diese Prognose hat sich im wesentlichen bestätigt. Von einer Billigung des ukrainischen Anschlags auf die Brücke kann in dem Artikel keine Rede sein. Dieses Thema wurde weder in diesem noch in anderen Texten aus der entsprechenden Zeit erörtert.

So ist es, soweit man es angesichts der lückenhaften Berichterstattung der russischen Medien erschließen kann, wahrscheinlich eher die Gesamthaltung des Portals zum Ukraine-Krieg, die den Geheimdienst veranlasst hat, gegen Rabkor vorzugehen. Sie lässt sich in der Parole »Das ist nicht unser Krieg« zusammenfassen. Das Magazin sympathisiert nicht explizit mit der ukrainischen Seite, lässt aber an den offiziellen russischen Kriegsbegründungen kein gutes Haar und wirft der Putinschen Führung insbesondere vor, durch die kapitalistische Restauration in Russland alle Mängel heraufbeschworen zu haben, die sich aus Sicht eines aufrichtig patriotischen Russen schmerzlich bemerkbar machen: Inkompetenz, Korruption und Selbsttäuschung über die wahre Lage.

Als im Herbst 2022 die Teilmobilmachung verkündet wurde, publizierte Rabkor einen Text, der auf die Rechtsberatung der liberalen Gruppe OWD-Info verwies, und riet seinen Lesern im mobilisierungspflichtigen Alter indirekt dazu, sich der Einberufung zu entziehen. Ein nicht namentlich gezeichneter, wahrscheinlich von Chefredakteur Kagarlitzki persönlich verfasster Text von Anfang Juli über die »Wagner«-Revolte sagt unter anderem: »Es ist erschütternd, mit welcher Leichtigkeit der Oberkommandierende faktisch seine völlige Hilflosigkeit zugegeben hat. Von welcher Effizienz der Staatsmacht und welcher normalen Verwaltung kann man sprechen, wenn der Führer des Landes die Hoffnung äußert, Prigoschin habe ›weniger gestohlen als andere‹? Das heißt: Ihn empört die Möglichkeit der Unterschlagung nicht einmal!« Die Revolte Jewgeni Prigoschins sei nur möglich geworden, weil in der Zeit seit 1991 immer mehr wesentliche Staatsfunktionen privatisiert worden seien – bis hin zum Gewaltmonopol.

Rabkor wies immer wieder auf eine angebliche tiefe Distanzierung der russischen Bevölkerung von der politischen Führung hin. Der FSB nimmt diese Analyse offenbar ernst genug, um der weiteren Verbreitung solchen »Defätismus« auch mit drastischen Mitteln zuvorzukommen. In einer Erklärung sichert das Kollektiv von Rabkor zu, auch ohne Kagarlitzki seine Arbeit fortzusetzen, und ruft die internationale sozialistische Bewegung auf, gegen die Inhaftierung des Autors zu protestieren. Die vorübergehende Inhaftierung auch anderer Mitarbeiter macht aber deutlich, dass das Portal unter Beobachtung steht.
- https://www.jungewelt.de/artikel/455790.konflikt-in-osteuropa-linker-soziologe-in-haft.html

foto: Sunhild Pflug/jW

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