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Jenseits der Gerechtigkeit

Auch wenn da immer noch allen warm ums Herz wird, ist doch zu fragen, wohin diese Losung trägt. Vierzehn Paragraphen gegen die Umtriebe der Gerechtigkeit (von Franz Schandl)

§ 1

Gerechtigkeit ist die Anrufung der bürgerlichen Seligkeit durch das bürgerliche Subjekt gegen die bürgerliche Realität. Die Erzählung von der Gerechtigkeit gehört zu den fairy tales of commerce. Der Schrei nach Gerechtigkeit ist der bürgerliche Traum. Alle meinen in seinem Namen auftreten zu müssen. Kaum spielt es diesen Evergreen, ist das Publikum erleichtert. Es lauscht einer bekannten Melodie und fühlt sich heimisch. Von einigen Herrschaftszynikern ausgenommen, singen alle die gleiche Hymne. Besonders inbrünstig erklingt sie in den Gesängen der Linken. Gerechtigkeit gehört zu den Grundtermini unserer bürgerlich-liberalen Gesellschaft. Jedes Denken, Fühlen, Handeln hat sich in diese Hülsen zu stecken. Gerechtigkeit ist eine demokratische Göttin, an der sich alle anhalten wollen, wenngleich die Anschauungen extrem divergieren.

§ 2

Gerechtigkeit ist eines dieser Worte, die mehr sagen als wir denken. Alle sind dafür, die Linken, die Liberalen, auch die Rechten. Dritte-Welt-Gruppen fordern „Fairtrade“, Grüne sprechen von „Fairteilen“, der austrokanadische Multimillionär Frank Stronach setzte wie einst Jörg Haider auf eine „faire Marktwirtschaft“. „Infinite justice“ benannte der oberste Weltpolizist George Bush unmittelbar nach dem 11. September den sodann folgenden Kreuzzug gegen das Böse auf der Welt. Und mit der Formel der „Carbon justice“ wird eine Entwicklung hin zu gleichen Pro-Kopf-Emissionsrechten gefordert. Ohne Gerechtigkeit scheint kein Diskurs zu laufen und kein Vorhaben zu begründen.

§ 3

Gerechtigkeit sagt nicht, was man will, sondern nur wie viel man haben möchte. Alles ist anscheinend eine Frage der Proportion, nicht eine der Portion selbst. Im permanenten Vermessen liegt ihre imaginäre Kraft. Man kann sich vieles darunter vorstellen. Ziel der Gerechtigkeit ist nicht die Alternative zum System, sondern die Korrektur des Quantums. Nicht die politische Ökonomie ist demnach unser Problem, sondern dass nicht alle ausreichend partizipieren dürfen. Gerechtigkeit ist eine Chiffre für äquivalentes Tauschen. Sie meint eine gesellschaftlich kodifizierte proportionale Zuteilung von Ansprüchen, d.h. von Geld, Waren oder Leistungen an Personen oder Gruppen.

§ 4

Die Zukurzgekommenen wollen einfach länger treten. Statt „Wir sagen Nein!“, sagen sie: „Wir wollen auch!“, insbesondere: „Wir wollen mehr!“ Herrschaft soll nicht überwunden, sondern begradigt werden. Statt endlich zu sagen: „Wir haben genug!“, sagen sie: „Wir haben nicht genug!“, oder „Wir können gar nicht genug kriegen“. Mehr, mehr von alledem wollen wir, unbedingt. Mehr heißt übrigens meist nicht mehr als mehr Geld. Gerechtigkeit verlangt nach Wertung durch Aufwertung. „Ich bin diesen Preis wert“, proklamiert das preiswerte Bewusstsein. Gerechtigkeit fordern jene, die meinen, sie hätten zu wenig. Was natürlich die allermeisten meinen. Gerechtigkeit ist ihr normatives Futter. Es macht zwar nicht satt, aber es hält hungrig.

§ 5

Hinter der Parole der Gerechtigkeit verbirgt sich letztendlich doch nur die Formel von gerechten Preisen, gerechten Pensionen oder gerechten Löhnen. Was aber wäre nun Gerechtigkeit? Sind 5 Euro Stundenlohn für eine Textilarbeiterin ungerecht, 12 Euro aber gerecht? Sind 15 Euro für einen Stahlarbeiter ungerecht, 22 aber gerecht? Warum nicht 16 Euro für beide? Oder 32? Und warum soll ein Bundeskanzler oder ein Manager eigentlich mehr verdienen als ich? Dass der Benko mehr hat als der Schandl, das ist doch nie und nimmer gerecht, oder? Der kapitale Bub macht in einer Woche mehr Cash als ich im ganzen Leben. Das kann doch nur ungerecht sein, oder? Und ist es nicht megaungerecht, wenn meine allseits geschätzte Mutter 8600 Jahre als Näherin (also als anerkannte Minderleisterin) hätte arbeiten müssen, um das zu lukrieren, was irgendein gröberes Börsenburli in einigen Minuten zockt oder verzockt? Derlei ist nicht ungerecht, derlei ist irr!

§ 6

Gerechtigkeit ist eine Sackgasse. Solange sie im Zentrum der Forderungen steht, ist nichts Neues in Sicht. Mit dem Postulat der Gerechtigkeit bezieht man sich positiv, nicht kritisch auf die bürgerliche Sozietät. Die unreflektierte Forderung nach Gerechtigkeit zieht sämtliches Unbehagen auf den Boden einer seichten und klebrigen Moral. Man beliebt am bürgerlichen Leim zu haften. Wollen ist lediglich als herrschende Empfindung, in unserem Fall eben als Gerechtigkeit denkbar, spürbar, ausdrückbar. Bevor wir für etwas sind, sind wir schon einmal dafür. Gerechtigkeit meint, dass das, was ich möchte, in eine abstrakte Formel dieser Gesellschaft gegossen, also in einen Wert verwandelt wird.

§ 7

Es dünkt, dass es da noch anderes gibt als die Weltlichkeit von Gesetz und Recht, nämlich eine bürgerliche Geistlichkeit, die die Herzen wärmt. An die Gerechtigkeit zu glauben, unterscheidet sich nicht wesentlich davon, an Gott zu glauben. In Immanuel Kants „Metaphysik der Sitten“ war die Gerechtigkeit ja noch eindeutig an Gott gebunden. Unaufhörlich spricht er in religiöser Terminologie von „Schuld“, „Ehrfurcht“, „belohnender Gerechtigkeit“ und „Strafgerechtigkeit“. Das ist kein Zufall. Das gehört zusammen. Auch wenn mittlerweile eine Säkularisierung stattgefunden hat, ist der Götzendienst am Vokabular unüberhörbar. Es sind Gebete gegenseitiger Versicheurng. Der religiöse Geist hat sich nicht verflüchtigt, sondern bloß verweltlicht. Gerechtigkeit ist nunmehr eines dieser Serienprodukte kulturindustrieller Ideologiebewirtschaftung.

§ 8

Gerechtigkeit ist des Rechts religiöser Geist, ihr ideelles Wesen, unabhängig vom realen Gehalt. Auch wenn sie gegeneinander auftreten, treten sie gemeinsam auf. Die Diskrepanz von Sein und Sollen wird elegant in Stellung gebracht. Freilich offenbart Gerechtigkeit zugleich das Geständnis, dass es mit dem Recht alleine doch nicht funktioniert, sagt aber bereits via Begriff selbst, dass es nur mit den Kategorien und Prinzipien dieser Welt zu denken vermag. Gerechtigkeit ist keine über das Recht hinausweisende Größe, sondern ein ihr aufgeschraubter Scheinwerfer. In Gestalt der Gerechtigkeit erhält das Recht Besuch von seiner eigenen Sittenpolizei.

§ 9

Gerechtigkeit ist der Umweg über die Empörung zur Zustimmung. Gerechtigkeit ist eine Losung, die nie zu einer Lösung führen kann.Ihre Relevanz besteht lediglich in ersterer. So reproduziert sie immanente Haltungen und Handlungen. Kritik wird in die Kanäle der Affirmation geleitet. Wer jene protegiert, möchte – ohne es unbedingt zu wollen -, dass es so bleibt, wie es bereits ist. Das Postulat der Gerechtigkeit drückt Befangenheit aus, nicht Befreiung. Man will anknüpfen, nicht brechen.

§ 10

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Der Kapitalismus ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Gerecht ist die Weltwirtschaftsordnung, gerecht ist die Ausbeutung, gerecht sind Löhne und Mieten, Preise und Profite. So viel Gerechtigkeit hat es noch nie gegeben. Die Welt ist gerecht. Der Tausch ist die entsprechende und somit gerechte Form der Realisierung des Wertgesetzes. Und wenn dieses nicht mehr funktioniert, dann simulieren wir einfach weiter. An der Zerstörung der Welt, hat die Gerechtigkeit mehr Anteil als deren Aposteln lieb ist.

§ 11

Mit der Gerechtigkeit fährt man an die bürgerliche Wand. Die inflationäre Dynamik und die zunehmende Lautstärke der Schlagworte werden indes ihren Crash nicht verhindern. Das ist auch gut so. Weniger gut ist, dass wir bisher keine begrifflichen Alternativen haben, sodass wir beharrlich die Phrasen der bürgerlichen Epoche aufsagen. Nach wie vor entlehnen wir ihr „Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 115) Ein paar Zeilen vorher hält er apodiktisch fest: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“

§ 12

Mit der Gerechtigkeit kann man vielleicht noch mobilisieren, aber man vermag mit ihr nichts zu gewinnen, auch nicht mit einer Klimagerechtigkeit und einer Generationengerechtigkeit, was immer die überhaupt bedeuten könnten. Warum muss sich der vielfältige und begrüßenswerte Klimaaktivismus ausgerechnet als Klimagerechtigkeitsbewegung verstehen? Die Vernichtung der Lebensgrundlagen ist kein ethisches Problem, sondern Resultat der Kapitalherrschaft, Folge ökonomischer Zwangsgesetze. Das Muster der Gerechtigkeit zerbricht auch an den ökologischen Erfordernissen der Zeit. Mit Entschädigungen und Ausgleichszahlungen ist heute nicht einmal mehr Zeit zu gewinnen. Die substanziellen Zerstörungen müssen beendet, nicht mit einigen Millionen abgefedert und umverteilt werden. Doch genau das resultiert aus der Gerechtigkeit.

§ 13

Es geht nicht um die Herstellung einer proportionalen Betroffenheit, sondern um die Eliminierung der Verheerungen. Bevor der Welt die Lichter ausgehen, sollten wir dem Kapitalismus den Schalter abdrehen. Es geht also nicht darum, die ungleiche Verteilung der globalen Schäden unter Berücksichtigung des Verursacherprinzips auszugleichen. Es geht auch nicht darum, dass die, die Umweltmalaise angerichtet haben, für diese bezahlen (was sie übrigens nie könnten), es geht darum, dass dieses autodestruktive Treiben sein Ende findet. Es geht nicht um einen schlechten Ausgleich, es geht um ein schlichtes Aus.

§ 14

Die Muster der Gerechtigkeit sind ausgeleiert und ausgelutscht, ideologisches Geschwätz von gestern. Die bürgerliche Burg ist ein Zwinger des Geistes. Das Gerede von der Gerechtigkeit vernebelt nur die Gemüter. Man soll sagen, was man will und was man nicht will. Das dafür aber entschieden. Auf überkommene Glaubensbekenntnisse und abstrakte Werte kann man getrost verzichten. Gerechtigkeit vergiftet alle Anliegen durch ihre bürgerliche Mitgift. Das Wollen hat sich direkt zu artikulieren, nicht als Gerechtigkeit zu kostümieren.

P.S.: MARX-KASTEN

„Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehn, beruht darauf, dass diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als Äußerungen ihres gemeinsamen Willens und als der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht; ebenso der Betrug auf die Qualität der Ware.“ (Das Kapital, Band 3, MEW 25, S. 351f.)

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