podcast / Artikel, Deutschlandfunk - Essay und Diskurs, 11.10.2020
Thomas Piketty interviewt zu: Ungleichheit und Ideologie
Meine Meinung zum Thema/Artikel/Podcast
Die Sendung "Essay und Diskurs" ist in der deutschen mainstream-Medienlandschaft ein kleiner Lichtblick, weil hier wirklich einigermaßen regelmäßig die großen Fragen gestellt werden und aus meiner Sicht ergebnisoffen diskutiert wird und auch unbeliebte Sichtweisen und Sichtweisen, die den angeblich so guten gesellschaftlichen/politischen Status-Quo in seinen Fundamenten hinterfragen, präsentiert werden.
Thomas Piketty scheint mir einer der wenigen sehr bekannten Ökonomen zu sein, der genügend deutlich und offen betont was falsch läuft und wie es besser gemacht werden müsste.
Ein wenig erstaunlich finde ich es schon, dass es so viele Menschen gibt, in unserem Zeitalter in dem so vieles was Menschen sagen und tun für die Nachwelt erhalten bleiben wird, die ohne jede Scham behaupten, es liefe alles einigermaßen gut.
Natürlich ist nicht alles schlecht. Vieles ist gut. Aber vieles könnte auch viel besser sein.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass häufig beschworen wird, es gehe doch heutzutage den Ärmsten besser als den Reichen vor Ein- oder Zweihundert Jahren. Warum also hätten die heute Armen überhaupt Grund zur Beschwerde.
Es ist schon fast traurig, dass man manchen Menschen scheinbar erklären muss, dass Wohlstand etwas absolut (haha) relatives ist. So ist eben die Psychologie von Menschen grob gestrickt.
Ich behaupte, dass eigentlich alles was für eine gerechtere Welt getan werden muss, grundsätzlich gemeinsam hat, dass der zu starke Matthäus-Effekt zum Teil kompensiert/gebremst/aufgehoben wird.
In allen stabilen Systemen (natürlicher/technischer/physikalischer Art), werden selbstverstärkende Effekte ab einem gewissen Maß progressiv gebremst (und irgendwann umgekehrt), denn sonst wäre das betrachtete System nicht stabil, sondern würde sich selbst zerstören (bzw in einen unerwünschten extremen Zustand übergehen).
Damit die Weltgesellschaft ein stabiles System sein kann, muss sie den Matthäus-Effekt - also die selbstverstärkende Wirkung von gesellschaftlichem Erfolg - limitieren.
Behaupte ich.
Arikelbeschreibung
Wird der Kapitalismus seinem Anspruch gerecht, langfristig Ungleichheit zu reduzieren und allen Menschen zugutezukommen? Wie rechtfertigen Gesellschaften die vorherrschende Ungleichheit? Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty erforscht genau diese Fragen seit mehr als 20 Jahren.
Ein paar Zitate ...
Piketty: Ebenso wie es viele Formen des Sozialismus gibt – und ich verteidige die Idee eines partizipatorischen, dezentralisierten, demokratischen Sozialismus, der nichts mit den Staatssozialismen zu tun hat, die wir im Osten im 20. Jahrhundert gesehen haben, ebenso gibt es auch viele Formen des Kapitalismus, und das kapitalistische System heute hat wirklich wenig mit dem System vor 1914 zu tun. Man muss also versuchen, im Hinblick auf diese Debatte Abstand zu nehmen und die Idee zu akzeptieren, dass wir verschiedene mögliche Wirtschaftssysteme haben.
Mythos der Meritokratie
von Westphalen: Ungleichheit gilt oft als natürlicher Zustand der Menschen, Resultat unterschiedlicher Fähigkeiten und Talente. Daher stellt die Meritokratie eine zentrale Rechtfertigung für Ungleichheit dar, also die Überzeugung, dass Menschen im Kapitalismus für ihre Leistung gerecht belohnt werden. Deshalb die Frage: Verdient das oberste Prozent der Gesellschaft nicht ihr Vermögen zu Recht? Anders ausgedrückt: Aktuell besitzen drei Menschen jeweils mehr als 100 Milliarden US-Dollar (Jeff Bezos 187, Bill Gates 123 und Elon Musk 102). Vor zehn Jahren besaßen die drei reichsten Menschen der Welt gerade mal um die 50 Milliarden. Haben die Milliardäre in zehn Jahren ihre Leistung verdoppelt beziehungsweise gar verdreifacht?
Piketty: Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, wenn die Milliardäre, die Sie gerade erwähnt haben, die Steuern gezahlt hätten, die sie hätten zahlen müssen, dann würden sie heute vielleicht eine oder zwei Milliarden statt 100 Milliarden besitzen. Diese Situation wurde also durch ein Wirtschaftssystem und insbesondere durch ein internationales Steuersystem geschaffen, das es den Reichsten erlaubt, am Ende der gemeinsamen Steuer zu entkommen, während der durchschnittliche Unternehmer und erst recht die mittleren und unteren Schichten nicht der Steuer und dem Gesetz entgehen können.
von Westphalen: Thomas Piketty, Sie haben konkrete Lösungsvorschläge ausgearbeitet, um die Ungleichheit zu reduzieren. Da Sie herausgefunden haben, dass Vermögen eine viel entscheidendere Rolle bei der herrschenden Ungleichheit spielt, als Einkommen, erklären Sie: „Die ideale Einrichtung, um der endlosen Ungleichheitsspirale Einhalt zu gebieten und Kontrolle über die gegenwärtige Dynamik zurückzugewinnen, (wäre) eine globale progressive Kapitalsteuer.“
Piketty: ... Piketty: Wenn man die Verteilung von Vermögen und Eigentum in den heutigen Gesellschaften betrachtet, stellt man fest, dass die ärmste Hälfte der Bevölkerung praktisch überhaupt nichts besitzt.
..,
Piketty: Heute haben wir eine Hyperkonzentration des Vermögens, die sich nicht verbessert. Das heißt: Die Vorstellung, der gemäß es ausreicht, darauf zu warten, dass das Wachstum, der Wettbewerb das Vermögen verbreitet, das entspricht nicht der Realität. Betrachtet man die Einkommensungleichheit, so hat sich die Ungleichheit im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich verringert, aber bei der Ungleichheit der Vermögen und dem Eigentum besitzen die ärmsten 50 Prozent der Menschen in einem Land wie Deutschland oder Frankreich heute weniger als fünf Prozent des Gesamtvermögens, während die zehn reichsten Prozent 60 Prozent des Gesamtvermögens besitzen. Wir haben es also mit einer extremen Konzentration zu tun, und die progressive Besteuerung von Vermögen und auch Erbschaften ist eine natürliche Weise, darauf zu reagieren, um die Besteuerung der unteren und mittleren Schichten zu senken. Und idealerweise schlage ich in meinem Buch „Kapital und Ideologie“ vor, dass jeder im Alter von 25 Jahren eine Mindesterbschaft erhalten könnte, die 120.000 Euro betragen könnte, das heißt etwa 60 Prozent des durchschnittlichen Erbes, das derzeit in Frankreich etwa bei 200.000 Euro pro Erwachsenem liegt, und etwas weniger in Deutschland, weil die Immobilienpreise etwas niedriger sind, aber das kommt in etwa auf das Gleiche raus. 120.000 Euro das sieht nach nichts aus, für Menschen, die Millionäre oder Milliardäre sind, mag es das Gleiche sein wie null Euro, aber in Wirklichkeit macht es einen großen Unterschied, denn es bedeutet, dass man nicht alles akzeptieren muss, was Arbeitsbedingungen oder das Lohnniveau betrifft, man hat eine andere Verhandlungsposition gegenüber der Gesellschaft, für das eigene Leben. Denn darum geht es beim Eigentum, es geht in erster Linie um Macht, es ist nicht nur eine Frage des Geldes, es geht auch darum, ein Unternehmen gründen zu können, ein Wohnung kaufen zu können, was bedeutet, dass man nicht irgendeine Arbeitsbedingung akzeptieren muss, irgendeinen Job, um die Miete bezahlen zu können, um die Familie ernähren zu können. Das schüfe so eine egalitärere Gesellschaft, auch in den Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen und wäre auch dynamischer, weil sie es jungen Menschen aus den unteren Schichten erlaubte, Projekte entwickeln zu können. Und dafür brauchen wir ein progressives Besteuerungssystem von Vermögen, Einkommen und Erbe, um diese Umverteilung zu finanzieren.
####Ungleichheit und COVID-19
von Westphalen: Die COVID-19-Krise verschärft die Ungleichheiten in mehrfacher Hinsicht. In diesen sechs Monaten konnten beispielsweise die amerikanischen Milliardäre, 643 an der Zahl, ihr Vermögen um fast ein Drittel beziehungsweise 845 Milliarden US-Dollar erhöhen. Gleichzeitig haben 30 Millionen Menschen in den USA nicht genug zu essen.
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Welche Maßnahmen raten Sie, um das Risiko zu vermeiden, dass die angesichts der COVID-19-Krise notwendige staatliche Kreditaufnahme langfristig nicht zu einer Verschärfung der Ungleichheit führt? Würden Sie für eine Sondersteuer stimmen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Deutschland, Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern sowie in den USA und Japan eingeführt wurde?
Piketty: Ja, ich denke, wir brauchen in Zukunft in Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt die Einführung von Sondersteuern auf die höchsten Vermögen. Und ich denke, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, und wir müssen hierfür auch über die Weise nachdenken, wie wir zu einer Mehrheitsentscheidung in Steuerfragen in Europa kommen werden. Und wenn einige Länder nicht daran teilnehmen wollen, kann man sie nicht dazu zwingen, aber das sollte diejenigen der 27 nicht hindern, die vorankommen wollen. Ich hoffe auf Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, die zusammen 75 Prozent der Bevölkerung und des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone ausmachen.
...
Natürlich müssen sich so viele Länder wie möglich in diese Richtung bewegen, aber wir können nicht mit diesem System der Einstimmigkeitsregel fortfahren. Deshalb muss man jetzt ein europäisches parlamentarisches System einrichten, mit Entscheidungsbefugnis, mit einer europäischen Versammlung, die meines Erachtens nicht nur das derzeitige Europäische Parlament sein kann, sondern der auch Abgeordnete der nationalen Parlamente angehören müssen, des Bundestages, der französischen Assemblée Nationale und des italienischen Parlaments, und zwar im Verhältnis zur Bevölkerung und zu den verschiedenen politischen Gruppen. Und ich denke, dass wir in diesem Fall eine Mehrheit hätten, um ehrgeizigere Konjunkturpläne in Bezug auf Klima-, Steuer- und Wirtschaftsgerechtigkeit zu verabschieden, und wir werden dies sehr schnell brauchen, denn die provisorische Lösung, insbesondere zur Bewältigung des Anstiegs der Staatsverschuldung, besteht darin, die Europäische Zentralbank schlussendlich einen wachsenden Anteil der Staatsverschuldung in ihrer Bilanz übernehmen zu lassen. Das ist eine Lösung, die sehr schnell ihre Grenzen erreichen wird, denn tatsächlich führt diese sehr kräftige Geldspritze, die wir auf den Finanzmärkten haben, zu steigenden Börsenkursen, zu steigenden Immobilienpreisen, all dies führt schließlich oft zur Bereicherung der Reichsten und nicht unbedingt zur Verringerung der Ungleichheiten. Wir glauben also einerseits, dass wir das Problem der Staatsverschuldung lösen, indem wir die Zinssätze auf null setzen, aber andererseits schaffen wir andere Ungleichheiten, sodass wir an einem bestimmten Zeitpunkt Maßnahmen wie Sonderabgaben für die Reichsten ergreifen werden müssen.
Darauf müssen wir uns vorbereiten, vor allem mit den dafür erforderlichen Umgestaltungen der europäischen politischen Institutionen, auch wenn dies bedeutet, dass wir mit einer kleineren Zahl von Ländern vorankommen müssen, und ich glaube, dies ist der schwierigere Teil der Überlegungen, bei dem heute viele zögern, der aber leider unvermeidlich sein könnte.
mp3:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/10/11/ungleichheit_und_ideologie_der_wirtschaftswissenschaftler_dlf_20201011_0930_655be31b.mp3
Artikel:
https://www.deutschlandfunk.de/gesellschaftssysteme-ungleichheit-und-ideologie.1184.de.html?dram:article_id=485376
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