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...Nach jeder Tat wird versucht ein Motiv zu finden, und auch in diesem Fall werden in den nächsten Tagen sicher Vermutungen angestellt, sofern sich der*die Täter*in nicht äußert. Im Gegensatz zu anderen Fällen wird bei solchen Taten oft die „Überlastung” ins Spiel gebracht. So vermutet ein Polizeipsychologe in der rbb Sendung „Zibb“, dass das Tatmotiv auch „Erlösung von Leiden“ gewesen sein könnte. Damit entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr: weil die Bewohner*innen des Heimes wohl zu anstrengend seien, käme es zur Überlastung und damit zu der Tat. Dass diese Argumentation bemüht werden wird, ist meine größte Sorge. Denn dies ist gefährlicher, und in diesem Fall tödlicher Ableismus: Die Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen.
Noch einmal: Natürlich handelt es sich bei der gestrigen Potsdamer Gewalttat um eine sogenannte Einzeltat und Spekulationen sind deplatziert, auch über die psychische Gesundheit der Tatverdächtigen, die sich inzwischen in einer Spezialklinik befindet. Aber immer wieder gibt es in Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung Fälle von Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und Beleidigung. Dabei geht es nicht um Einzelfälle, es geht um eine diskriminierende Struktur, die in diesem Fall sogar viermal tödlich war. Kommen solche Fälle ans Tageslicht, ist dann stets von „Einzelfällen“ die Rede. Diese aber fügen sich zusammen zu einer Struktur. Denn diese Heime sind “totale Institutionen”. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt. Menschen mit Behinderung bekommen oft von Geburt an kaum eine Option, aus diesem System herauszukommen: Vom Internat zur Förderschule, dann Wechsel in ein anderes Wohnheim und von dort zur Werkstatt; später dann ins Altenheim, nicht selten finden sich all diese Adressen auf einem einzigen Gelände, wie auch beim Oberlinhaus, wieder. Und selten gelangen Informationen über Missstände von drinnen nach draußen an die Öffentlichkeit.
Es handelt sich also um Sonderwelten, um Parallelgesellschaften. Sie trennen. Sie schaffen angesichts mangelnder Selbstbestimmung und fast totaler Abhängigkeit ein Klima, in dem Gewalt leichter entstehen kann als anderswo. Ob diese „Einrichtungen“ immer das Richtige für Menschen sind, die dort nur landen, weil sie mit einer Behinderung leben, dahinter muss ein riesiges Fragezeichen gesetzt werden. Nur um eine Zahl zu nennen: Laut einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012 wurden mindestens sechs Prozent aller behinderten Frauen, die in Heimen und Werkstätten „untergebracht“ wurden, sexuell missbraucht. Und erst im Januar dieses Jahres wurde bekannt, dass gegen 145 Beschäftigte einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen wegen Verdachts auf Freiheitsberaubung und in einigen Fällen auf Körperverletzung ermittelt wird. 145 ist eine Zahl, die mit der Beschreibung „Einzelfall“ nicht mehr zu erklären ist. Da hilft es übrigens nicht, wenn Medien die Opfer solcher Angriffe als “besonders Schutzlose” oder als “Schwächste” beschreiben – damit wird Menschen mit Behinderung ihr so genannter Opferstatus noch einmal obendrauf serviert. Statt einer Spaltung in IHR und WIR fehlt es an einer realistischen Bestandsaufnahme ohne verklärenden Blick dem zur Verfügung stellen präventiver (inklusiver?) Strukturen.
Was das alles mit dem Ereignis von Potsdam zu tun hat? Solche Einrichtungen bergen strukturell gesehen ein Potenzial für Ungutes. Daher müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie es für Menschen mit Behinderung andere Perspektiven geben kann. Wie Ableismus besser bekämpft werden kann. Und wie wir es schaffen, in Tagen wie diesen den Fokus auf die Opfer zu richten.
- vollständiger Artikel: https://dieneuenorm.de/gesellschaft/vier-menschen-sind-tot-der-ableismus-lebt/