Vollende die Wende?

Von zerbrochenen Zeitstrahlen, abgerissenen Fäden und den Scherben eines emanzipatorischen Aufbruchs. Ein Versuch einer schlaglichthaften Rekonstruktion und Aktualisierung. Eine Einladung zum Rekapitulieren und Diskutieren.

Vortrag mit Musik und Diskussion mit Paul Geigerzähler

*Februar 2022 – Spaziergang durch Wojerecy/Hoyerswerda *

Die Neustadt ist schon zur Hälfte abgerissen. Menschen, die hier aufgewachsen sind, zeigen als Antwort auf die Frage nach ihrem Kindergarten, ihrer Schule, ihrem Wohnblock auf grüne Wiesen. In den Straßen Rentner*innen, deren traurige Gesichter vergangenen Verlust widerspiegeln. Auf den Spielplätzen nur vereinzelt Mütter mit Kindern. Auch auf die wenigen Menschen scheint die deprimierende Grundstimmung abzustrahlen.
Dabei war hier doch mal Leben! Eine selbstbewusste Bergarbeiterstadt, Modell des realsozialistischen Städtebaus auf der geraden Straße zum Kommunismus. Allerorten spielende Kinder – die Zukunft noch vor sich. Die Zukunft – eine bescheidene Ebene vorbestimmter fordistischer Monotonie im Rhythmus der Schichtbusse und im Dunst von Schwarze Pumpe zwar aber eine Zukunft – immerhin!*

4. November ´89. Berlin Alexanderplatz

So! Viele! Menschen! Die Zeitungen werden später von 500000 schreiben oder von einer Million. Es macht keinen Unterschied. So viele Menschen und soviel Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft – auferstanden aus poststalinistischem Beton und der Zukunft zugewandt. Es ist, als hätte jemand die Fenster aufgerissen, so sagt es ein alter Mann auf dem Rednerpult. Statt stickiger Luft nun die Chance etwas Neues zu lernen – den aufrechten Gang. Der alte Mann** sagt auch etwas von einem „Sozialismus der des Namens wert ist“. Was bisher kaum jemand weiß: Der Zeitstrahl ist längst zerbrochen.

32 Jahre später

Wojerecy/Hoyerswerda ist ein extremes Beispiel aber ein Hauch davon schwebt über ganz Ostdeutschland, von einigen großen Zentren abgesehen. Den gesellschaftlichen Fortschritt längst hinter sich blüht die Hoffnungslosigkeit im verzweifelten Festhalten am Schlechten einer untergegangenen Gesellschaft. Doch den rührenden Erzählungen von der guten Gemeinschaft damals zum Trotz ist sich Jeder selbst die Nächste. Die Lektionen des realexistierenden Kapitalismus schmerzhaft gelernt und um so gründlicher verinnerlicht, erscheinen AfD und Pegida als logische Konsequenz. Die Fremdheit in einer neuen Gesellschaft mit neuem Koordinatensystem hat sich in Panik vor „den Fremden“, „dem Genderwahnsinn“, „der Umvolkung“ und Ähnlichem gewandelt. Eine linke Deutung des Umbruchs ist zwar vorhanden, dringt aber offensichtlich zu wenig durch.

Zeitraffer

Wie ein schlechter Film ziehen die Treuhand*, die Pogrome von Hoyerswerda/Wojerecy und Rostock Lichtenhagen, die Baseballschlägerjahre** und die „Neuen Länder“ als neoliberales Experimentierfeld vorbei. Die antiautoritäre Linke hat diese Zeit in den Scherben ihrer Hoffnung mit Selbstbehauptungskämpfen verbracht. Zurückgedrängt in die Nischen erst besetzter Häuser, später selbstverwalteter Projekte konnten bestenfalls die Baseballschläger gegen diejenigen gewendet werden, die sie ausgepackt hatten. Immerhin – jede Nische, die verteidigt werden konnte, jede Stadt, in der es noch etwas Anderes gibt als Mainstream und rechte Dominanz ist ein Erfolg! Aber was ist eine antiautoritäre Linke ohne Hoffnung? Welche Strahlkraft hat eine Bewegung deren gesellschaftliche Überlegungen sich nicht selten nur um die eigenen Nischen drehen?

*Und jetzt? *

Es gibt keine Zukunft, die frei wäre von den Gespenstern der Vergangenheit. Eine Binsenweisheit im Guten wie im Schlechten. Über die Desaster der Systemtransformation ist viel geschrieben worden. Zu recht! Aber was ist mit den am Wegesrand liegengebliebenen Gesellschaftsentwürfen, die ´89/90 so offen diskutiert wurden wie selten in der Geschichte? Was ist mit den tief vergrabenen Hoffnungen und Träumen von einer besseren Gesellschaft, die in irgendeiner dunklen, fest verschlossenen Ecke vieler Menschen mit Ostsozialisation noch schlummern dürften? Und was ist mit den Zielen, für die große Teile der DDR – Opposition angetreten sind?

Frieden: Nun ja.
Ökologie: Zwar verpestet Schwarze Pumpe nicht mehr die halbe Lausitz und die Elbe ist etwas sauberer. Zugleich macht der realexistierende Kapitalismus wenig Anstalten der Klimakatastrophe Einhalt zu gebieten, womöglich ist eine Kapitalistische Gesellschaft auch ihrer inneren Logik wegen dazu auch gar nicht in der Lage.
Menschenrechte: In den kapitalistischen Zentren mit Abstrichen, ansonsten egal.
Feminismus: Sehr ambivalent.
2/3 – Welt: Das Gleiche wie vor 30 Jahren nur schlimmer.*****

Die Liste ließe sich fortsetzen.

*„Vollende die Wende“ *

Vielleicht sollten wir – antiautoritäre Linke in Ostdeutschland – diese Phrase, die Björn Höcke auf Thüringer Marktplätzen herumtrötet für einen Moment ernstnehmen. Aber ganz anders als es sich der Faschist und Westler von der AfD vorstellt. Zeit für ein paar Fragen:

  • Bei welchen Ansätzen dieser Zeit lohnt es sich, den Staub wegzupusten. Was ist heute noch relevant?

  • Was setzen wir dem Geschichtsbild, das alles in Deutschlandfahnen ertränkt entgegen?

  • Inwieweit kann die Beschäftigung mit all diesen Dingen dabei helfe, die rechte Dominanz
    im ländlichen Raum zwischen Suhl und Sassnitz, Zittau und Wismar zurückzudrängen?

Bringt gern Euren Widerspruch und Eure eigenen Erfahrungen (bzw die aus Eurem Umfeld) mit.

25.9. ab 14 Uhr auf der Kulm: Alternativer Vernetzungsbrunch + Vortrag/Diskussion/Konzert zur heutigen Bewertung der Wende

* Zum Werden und Vergehen von Wojerecy lohnt es sich, das schöne Buch „Kinder von Hoy“ von Grit Lemke zu lesen.

** Der alte Mann war Stefan Heym. Als Sozialist mit jüdischem Background floh er vor den Nazis und kehrte 1945 mit der US-Army kurzzeitig zurück. Als Sozialist musste er in der McCarthy – Ära die Vereinigten Staaten verlassen und landete in der DDR. Hier machte er sich als Schriftsteller einen Namen gerade auch dann, als seine Bücher nur noch im Westen gedruckt wurden weil sie im Osten nicht mehr durch die Zensur kamen.

*** Die allseits beliebte Institution die von der vorletzten DDR-Regierung geschaffen und nach dem Anschluss der DDR von der Bundesregierung dazu benutzt wurde, das Volkseigentum (das ja nominell allen DDR-Bürger*innen gehörte) zu zerschlagen und ohne Sinn und Verstand zu verscherbeln. Unter Anderem die Eigentumsverteilung Ost/West erzählt davon, warum immer wieder daran erinnert werden sollte.

**** Sehr lesenswert an dieser Stelle der Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels

***** Es ist sehr aufschlussreich sehr, die Originaldokumente der DDR – Opposition vor und nach der Wende zu lesen und mit der heutigen Gesellschaft abzugleichen.


25.9. ab 14 Uhr auf der Kulm: Alternativer Vernetzungsbrunch + Vortrag/Diskussion/Konzert zur heutigen Bewertung der Wende

Ahoj ihr lieben, wir möchten euch auf diese anarchistische Kuktur und Diskussionsveranstaltung zur Wendezeit und danach aufmerksam machen und bitten um Verbreitung. Es ist wichtig, dass es auch bei Veranstaltungen auf dem Dorf voll wird. Liebe Grüße, die SRB
25. September ab 14 Uhr auf der Kulm: Alternativer Vernetzungsbrunch und Vortrag/Diskussion/Konzert zur heutigen Bewertung der Wende 199Nach lange Zeit möchten wir in der Sächsischen Schweiz mal wieder alle Linken und Soildarisch-Alternativen einladen zusammen zu kommen, sich kennen zu lernen und zu diskutieren. Dafür haben wir ein kleines Programm auf die Beine gestellt:

Wann: 25.9. ab 14 Uhr
Was:

14 Uhr bis 15:30 Uhr gegenseitiges Kennenlernen, vernetzen

ab 15:30 Uhr Konzert, Lesung und Diskussion von Paul Geigerzähler zu Wende-Erfahrungen und Nachwende-Reflexionen

Wo: Herberge Kulm, Weißig 7b, Struppen

Versorgung: Für einen Grundstock Essen und Getränke wird gesorgt, gerne könnt ihr noch was mitbringen, ebenso wie Flyer etc. von euren Projekten und Initiativen

Als Schwarz-Rote Bergsteiger:innen versuchen wir seit ca. 10 Jahren unseren Beitrag zum politischen Klima in der Sächsischen Schweiz zu leisten, dabei vernetzen wir v.a. nette Menschen, mischen uns in Naturschutz, Gedenk- und Bergsportkultur ein, veranstalten von Zeit zu Zeit Kultur- und Informationsveranstaltungen und betreiben einen (meist monatlichen) alternativen Newsletter für die Region.

Paul Geigerzähler aus Berlin treibt sich seit der Wendezeit auf ostdeutschen, dabei gerne v.a. auch in sorbischen Dörfern und selbstorganisierten Strukturen rum. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine spielt er auch verstärkt zur Unterstützung russischer Deserteur:innen, gegen den Krieg und für die Unterstützung der vom Krieg Betroffenen. Er lädt uns ein mit unseren Wende- und Nachwende-Erfahrungen zusammen in Austausch zu kommen. Schon der Vorstellungstext (im Anhang) lohnt.

Liebe Grüße und allzeit freie und heile Berge wünschen euch,
die Schwarz-Roten Bergsteiger:innen

#sachsen #srb #anarchismus

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