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Klassenkampf im ICE: „Zu uns“ in die 1. Klasse
...Wie schon in den ersten Zügen des 19. Jahrhunderts bleibt der zentrale Unterschied zwischen den Klassen also die Frage, wie eng gedrängt man reisen muss. Das zeigt sich laut der Berliner und Hamburger Studie MobileInclusion übrigens auch im Stadtverkehr. „Über die Klassen hinweg steigen die Schnellbahn-Abfahrten in urbanen Gebieten mit der Kaufkraft an“, heißt es darin: Wo Menschen mit geringem Einkommen leben, müssen sie sich stärker in den ÖPNV quetschen als dort, wo Menschen mit höherem Einkommen leben.
Dass die Frage der Enge im Lebensalltag eine Klassenfrage ist, darauf wiesen auch Gesundheitsforschende in der Pandemie hin. Die Covid-19-Infektion sei „vor allem vom Sozialstatus abhängig“, so hieß es aktuell wieder in einer Studie der Universität Bielefeld. Als einen zentralen Grund hierfür nannten Ungleichheitsforscher anderer Studien zuvor die Unmöglichkeit, den Kontakt mit anderen Menschen zu meiden: Menschen mit geringem Einkommen nutzen öffentliche Verkehrsmittel und arbeiten teils dicht gedrängt ohne die Möglichkeit auf Homeoffice. Die Ausbrüche in den Fleischfabriken von Tönnies und in Hochhäusern waren schon 2020 erste Hinweise auf diese Klassen-Raum-Schieflage.
In der Mobilitätsforschung ist bekannt, dass mehr Raum pro Person die meisten CO2-Emissionen erzeugt: Das gilt für Autos, die stärker genutzt werden, je höher das Einkommen ist, und das gilt natürlich auch für die 1. Klasse in Flugzeugen, deren Plätze mehr Raum einnehmen und weniger Passagiere pro Flugzeug zulassen. Ähnliches gilt wohl auch für den Zug – einen der letzten Orte, an dem platzverwöhnte Gutverdienende und Enge-gequälte Wenigverdienende noch aufeinandertreffen. Umso stärker ist das Abgrenzungsbedürfnis: „Tut mir leid, aber wer zu uns in die 1. Klasse will, soll das auch gefälligst bezahlen. Das ist so, als würde man meckern, dass Autos unterschiedlich viel kosten“, wird auf Twitter gemeckert. Das „zu uns“ zeugt von einem für das 21. Jahrhundert beeindruckend ausgeprägten Klassenbewusstsein.
1.Klasse buchen und gefälligst auch bezahlen, das heißt für eine Hin- und Rückfahrt von Hamburg nach München im Juli: 271,80 Euro. Der Mindestlohn beträgt nun bald zwölf Euro, das sind 2.080 Euro brutto, knapp 1.500 Euro netto, wenn ich ledig bin. Wer gibt 18 Prozent des Monatslohns für eine Fahrt aus? Bei Hartz IV sind 40 Euro pro Monat für Verkehr vorgesehen und es wird bereits diskutiert, die 9-Euro-Tickets anzurechnen und die Differenz zu den normalen Tickets zumindest bei Schüler*innen zurückzahlen zu lassen.
Ginge es bei der 1. Klasse nicht um Geldbeutel, sondern um Bedürfnisse nach Ruhe und Raum, müsste sie hingegen allen kranken, alten und abgearbeiteten Menschen zur Verfügung stehen. Da chronische Krankheit und Arbeitsunfähigkeit mit die größten Armutsrisiken darstellen, ist jedoch das Gegenteil der Fall. Und wie (nicht reiche) Menschen mit Behinderung das 9-Euro-Ticket sehen, konnte man jüngst auch auf Twitter nachlesen: „Ja, ich hatte mich gefreut. Echt. Mit Freund_innen in weiter entfernte Museen fahren, Ausflüge machen, rauskommen“, schrieb eine Nutzerin, aber: „Pustekuchen. Wenn die Bahnen so dermaßen überfüllt sind und teils geräumt werden, ist es für Krüppel leider fast unmöglich. Es wird keine/kaum Hubkäfige geben. Anschlüsse werden nicht erreichbar sein. (…) ich tu das nicht behinderten Freund_innen nicht an – ein Ausflug, auf den 1 sich freute, nicht oder nur sehr verkürzt machen zu können, weil das Fahren mit ’nem Krüppel so problematisch und aufwendig ist.“ Kaputte Toiletten, kaputte Fahrstühle, zu wenig Hubkäfige: Menschen mit Behinderung beklagen immer wieder die mangelnde Barrierefreiheit in den Zügen. Überfüllung ist ein Faktor, der ihren Ausschluss weiter vorantreibt. In die 1. Klasse dürfen sie dadurch noch lange nicht.
Das ändert sich auch nicht durch den Vorschlag der Linke-Vorsitzenden Janine Wissler: Dass bei Überfüllung die Zugbegleiterinnen angewiesen sind, die 1. Klasse zu öffnen, ist längst Praxis. Das passiert beim ICE nur ganz selten mal, da ordnet unsere Gesellschaft schon von ganz allein vor. Oder, wie der Mobilitätsforscher Stephan Daubitz sagt: „Die unterschiedlichen Mobilitätsroutinen werden manifest, sie ändern sich nicht mehr. Weil Armut letztendlich in die Knochen kraucht.“
Vollständiger Artikel: https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/9-euro-ticket-klassemkampf-im-ice
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