Hermann Hesse - O Freunde, nicht diese Töne! (November 1914)
Die Völker liegen einander in den Haaren, und jeden Tag leiden und sterben Ungezählte in furchtbaren Kämpfen. Mitten zwischen den aufregenden Nachrichten vom Kriegsschauplatz fiel mir, wie das so geht, ein längst vergessener Augenblick aus meinen Knabenjahren ein. Da saß ich, vierzehnjährig, an einem heißen Sommertag in Stuttgart in dem berühmten schwäbischen Landexamen, und als Aufsatzthema wurde uns diktiert: >Welche guten und welche schlechten Seiten der menschlichen Natur werden durch den Krieg geweckt und entwickelt?< Meine Arbeit über dies Thema beruhte auf keinerlei Erfahrung und fiel entsprechend traurig aus, und was ich damals, als Knabe, unter Krieg sowohl wie unter Kriegstugenden und Kriegslasten verstand, stimmt nicht mehr mit dem zusammen, was ich heute so nennen würde. Aber im Anschluß an die täglichen Ereignisse und an jene kleine Erinnerung habe ich dem Krieg in dieser Zeit viel nachgedacht, und da jetzt doch einmal der Brauch eingerissen ist, daß Männer der Studierstube und des Ateliers ihre Meinungen hierüber kundgeben, scheue ich mich nicht länger, auch die meine auszusprechen. Ich bin Deutscher, und meine Sympathien gehören Deutschland, aber was ich sagen möchte, bezieht sich nicht auf Krieg und Politik, sondern auf die Stellung und Aufgaben der Neutralen. Damit meine ich nicht die politisch neutralen Völker, sondern all diejenigen, die als Forscher, Lehrer, Künstler, Literaten am Werk des Friedens und der Menschheit arbeiten.
Da sind uns in letzter Zeit betrübende Zeichen einer unheilvollen Verwirrung des Denkens aufgefallen. Wir hören von Aufhebung der deutschen Patente in Rußland, von einem Boykott deutscher Musik in Frankreich, von einem ebensolchen Boykott gegen geistige Werke feindlicher Völker in Deutschland. Es sollen in sehr vielen deutschen Blättern künftig Werke von Engländern, Franzosen, Russen, Japanern nicht mehr übersetzt, nicht mehr anerkannt, nicht mehr kritisiert werden. Das ist kein Gerücht, sondern Tatsache und schon in die Praxis getreten.
Also ein schönes japanisches Märchen, ein guter französischer Roman, von einem Deutschen noch vor Kriegsbeginn treu und liebevoll übersetzt, muß jetzt totgeschwiegen werden. Eine schöne, gute Gabe, mit Liebe unserm Volk dargebracht, wird zurückgestoßen, weil einige japanische Schiffe Tsingtau bekriegen. Und wenn ich heute das Werk eines Italieners, eines Türken, eines Rumänen lobe, so darf das nur mit dem Vorbehalt gelten, daß nicht vor Beendigung des Abdrucks in diesen Völkern ein Diplomat oder Journalist die politische Lage ändert!
Anderseits sehen wir Künstler und Gelehrte mit Protesten gegen kriegführende Mächte auf den Plan treten. Also ob jetzt, wo die Welt in Brand steht, solche Worte vom Schreibtisch irgendeinen Wert hätten. Als ob ein Künstler oder Literat, und sei er der beste und berühmteste, in den Dingen des Krieges irgend etwas zu sagen hätte.
Andere nehmen am großen Geschehen teil, indem sie den Krieg ins Studierzimmer tragen und am Schreibtisch blutige Schlachtgesänge verfassen oder Artikel, in denen der Haß zwischen den Völkern genährt und ingrimmig geschürt wird. Das ist vielleicht das Schlimmste. Jeder, der im Felde steht und täglich sein Leben wagt, habe das volle Recht zur Erbitterung und momentanem Zorn und Haß, und jeder aktive Politiker ebenso. Aber wir anderen, wir Dichter, Künstler, Journalisten - kann es unsere Aufgabe sein, das Schlimme zu verschlimmern, das Häßliche und Beweinenswerte zu vermehren?
Gewinnt Frankreich etwas, wenn alle Künstler der Welt gegen die Gefährdung eines schönen Bauwerkes protestieren? Gewinnt Deutschland etwas, wenn es keine englischen und französischen Bücher mehr liest? Wird irgend etwas in der Welt besser, gesünder, richtiger, wenn ein französischer Schriftsteller den Feind mit gemeinen Schimpfworten bewirft und das Heer zu tierischer Wut aufzustacheln sucht?
Alle diese Äußerungen, vom frech erfundenen >Gerücht< bis zum Hetzartikel, vom Boykott >feindlicher< Kunst bis zum Schmähwort gegen ganze Völker, beruhen auf einem Mangel des Denkens, auf einer geistigen Bequemlichkeit, die man jedem kämpfenden Soldaten ohne weiteres zugute hält, die aber einem besonnenen Arbeiter oder Künstler schlecht ansteht. Ich nehme von vorneherein alle diejenigen von meinem Vorwurf aus, denen schon vorher die Welt bei den Grenzpfählen aufhörte. Die Leute, denen jedes der französischen Malerei erteilte Lob ein Greuel war und denen bei jedem Fremdwort der Zornschweiß ausbrach, die sind es nicht, von denen hier die Rede ist, die tun weiter, was sie vorher taten. Aber die anderen alle, die sonst mit mehr oder weniger Bewußtsein am übernationalen Bau der menschlichen Kultur tätig gewesen sind und jetzt plötzlich den Krieg ins Reich des Geistes hinübertragen wollen, die begehen ein Unrecht und einen großen Denkfehler. Sie haben so lange der Menschheit gedient und an das Vorhandensein einer übernationalen Menschheitsidee geglaubt, als dieser Idee kein grobes Geschehen widersprach, als es bequem und selbstverständlich war, so zu denken und zu tun. Jetzt, wo es zur Arbeit, zur Gefahr, zum Sein oder Nichtsein wird, an jener größten aller Ideen festzuhalten, jetzt kneifen sie aus und singen den Ton, den der Nachbar gerne hört.
Wohlverstanden, dies geht nicht gegen die vaterländische Gesinnung und die Liebe zum eigenen Volkstum. Ich bin der letzte, der in dieser Zeit sein Vaterland verleugnen möchte, und es würde mir nicht einfallen, einen Soldaten vom Erfüllen seiner Pflicht abzuhalten. Da man jetzt einmal am Schießen ist, soll geschossen werden - aber nicht des Schießens und der verabscheuungswürdigen Feinde wegen, sondern um so bald wie mögliche eine bessere, höhere Arbeit wiederaufzunehmen! Es wird jetzt jeden Tag viel von dem vernichtet, wofür alle Gutgesinnten unter den Künstlern, Gelehrten, Reisenden, Übersetzern, Journalisten aller Länder sich ihr Leben lang bemühten. Das ist nicht zu ändern. Töricht und falsch aber ist es von jedem, der je eine einzige helle Stunde lang an die Idee der Menschheit, an eine internationale Wissenschaft, eine nicht national beschränkte Schönheit in der Kunst geglaubt hat, wenn er jetzt, über das Ungeheure erschrocken, die Fahne wegwirft und sein Bestes mit in den allgemeinen Ruin schmeißt. Ich glaube, es sind sehr wenige, es ist vielleicht nicht einer unter unseren Dichtern und Literaten, in dessen Gesamtwerk später einmal das Beste das sein wird, was er heute im Zorn der Stunde gesagt und geschrieben hat. Es ist auch unter ihnen, soweit sie überhaupt ernst zu nehmen sind, nicht einer, dem Körners Vaterlandslieder im Herzen lieber wären als die Gedichte jenes Goethe, der sich vom großen Befreiungskrieg seines Volkes so merkwürdig fernhielt.
Ja eben, rufen jetzt die Nurpatrioten, dieser Goethe ist uns immer verdächtig gewesen, er war nie ein Patriot, und er hat den deutschen Geist mit jener milden, kühlen Internationalität verseucht, an der wir lang gelitten haben und die unser deutsches Bewußtsein merklich geschwächt hat.
Da sitzt der Kern der Frage. Goethe war nie ein schlechter Patriot, obwohl er Anno 1813 keine Nationallieder gedichtet hat. Aber über die Freude am Deutschtum, das er kannte und liebte wie nur einer, ging ihm die Freude am Menschentum. Er war ein Bürger und Patriot in der internationalen Welt des Gedankens, der inneren Freiheit, des intellektuellen Gewissens, und er stand in den Augenblicken seines besten Denkens so hoch, daß ihm die Geschicke der Völker nicht mehr in ihrer Einzelgewichtigkeit, sondern nur noch als untergeordnete Bewegungen des Ganzen erschienen.
Mag man das einen kühlen Intellektualismus schelten, der im Augenblick ernster Gefahr zu schweigen habe - es ist dennoch der Geist, in dem die besten deutschen Denker und Dichter gelebt haben. An ihn zu erinnern und an die Mahnung zu Gerechtigkeit, Mäßigung, Anstand, Menschenliebe, die er enthält, dazu ist es jetzt mehr Zeit als je. Soll es denn dazu kommen, daß Mut dazugehört für einen Deutschen, ein gutes englisches Buch besser zu finden als ein schlechtes deutsches? Soll der Geist unserer Kriegführenden selber, der den feindlichen Gefangenen schont und erhält, den Geist unserer Denker beschämen, der den Feind auch da, wo er friedlich ist und Gutes bringt, nicht mehr anerkennen und schätzen will? Was sollte da nach dem Kriege werden, in jener Zeit, vor der wir alle schon ein wenig bangen, wo Reisen und geistiger Austausch zwischen den Völkern darniederliegen werden? Und wer soll dazu beitragen und daran arbeiten, daß es wieder anders wird, daß man sich wieder versteht, wieder anerkennt, wieder voneinander lernt - wer soll das tun, wenn nicht wir, die wir am Schreibtisch sitzen und unsere Brüder im Felde stehen wissen? Ehre jedem, der mitkämpft, mit Blut und Leben, auf dem Schlachtfeld unter den Granaten! Uns andern, die es mit der Heimat gut meinen und an der Zukunft nicht verzweifeln wollen, uns ist die Aufgabe geworden, ein Stück Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, Wege zu suchen, aber nicht mit dreinzuhauen (mit der Feder!) und die Fundamente für die Zukunft Europas noch mehr zu erschüttern.
Noch ein Wort für jene vielen, die man unter diesem Krieg verzweifelnd leiden sieht und denen jede Kultur, jede Menschlichkeit dadurch vernichtet scheint, daß jetzt Krieg ist. Krieg war immer, seit wir von Menschengeschicken wissen, und es waren keine Gründe für den Glauben da, er sei nun abgeschafft. Es war lediglich die Gewohnheit langen Friedens, die uns das vortäuschte. Krieg wird so lange sein, als die Mehrzahl der Menschen noch nicht in jenem Goetheschen Reich des Geistes mitleben kann. Krieg wird noch lange sein, er wird vielleicht immer sein. Dennoch ist die Überwindung des Krieges nach wie vor unser edelstes Ziel und die letzte Konsequenz abendländisch-christlicher Gesittung. Der Forscher, der das Mittel gegen eine Seuche sucht, wird seine Arbeit nicht wegwerfen, wenn eine neuen Epidemie ihn überrascht. Noch viel weniger wird >Friede auf Erden< und Freundschaft unter den Menschen, die eines guten Willens sind, jemals aufhören, unser höchstes Ideal zu sein. Menschliche Kultur entsteht durch die Veredelung tierischer Triebe in geistige, durch Scham, durch Phantasie, durch Erkenntnis. Daß das Leben wert sei, gelebt zu werden, ist der letzte Inhalt und Trost jeder Kunst, obgleich alle Lobpreiser des Lebens noch haben sterben müssen. Daß Liebe höher sei als Haß, Verständnis höher als Zorn, Friede edler als Krieg, das muß ja eben dieser unselige Weltkrieg uns tiefer einbrennen, als wir es je gefühlt. Wo wäre sonst sein Nutzen?
#HermannHesse #peace #love #NoWar #NoHate
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