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Gedicht über den Anschlag von Hanau: Die Nacht, die Schüsse, die Namen
Wir zählen die Städte, schreibt Lyrikerin Tanasgol Sabbagh: Hanau, Halle, Solingen, Rostock, Einzelfall nach Einzelfall. Eine Spoken-Word-Performance über das Erinnern
Tanasgol Sabbagh hat ein Gedicht über Hanau geschrieben. Eine Spoken-Words-Performance, begleitet von Drummerin Linda-Philomène Tsoungui.
Neun Menschen starben in der Nacht vom 19. Februar 2020 in Hanau: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu. Der rechtsextreme Täter erschoss sie in und vor Bars, auf einem Parkplatz und in einem Kiosk. Später tötete er seine Mutter und anschließend sich selbst.
Dieser Anschlag reiht sich ein in die Geschichte rechtsextremer und rassistischer Gewalt in der Bundesrepublik. Der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, der rechtsextreme, antisemitische Anschlag in Halle, die Mordserie des NSU oder die Morddrohungen des sogenannten NSU 2.0 sind Beispiele der jüngeren deutschen Geschichte.
Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau hat die Lyrikerin Tanasgol Sabbagh ein Gedicht geschrieben. Für ZEIT ONLINE performt sie den Text im Video mit Linda-Philomène Tsoungui.
Hier gibt es den gesamten Text zum Nachlesen:
Du musst in einem Februar frieren
Die Nacht, die Namen
Du sprichst es Erinnern aus
als würdest du Entrinnen meinen
ist mir aufgefallen.
Du sagst: Erinnern und schon fließt es aus dem Kopf und durch die Finger
Stimmt es: Ein Jahr muss vergangen sein
Was lag in der Nacht
was nahm sich die Nacht heraus
Stimmt es: Du musst in einem Februar frieren
Lange sagten sie: Integration, wenn sie an den Tüchern zerrten und an der Sprache
lange sagten sie: Multikulti, wenn wir für sie singen durften und tanzen
lange sagten sie: Allen Menschen steht alles offen – wenn sie denn nur wollen –
Doch wir kennen die Grenzen, die sich durch Viertel, durch Schul- und Arbeitswege,
durch die Architektur der Wohnsiedlungen ziehen
wir kennen die Statistik
vielleicht nicht ihre genaue Zahl, aber wir kennen ihre Wahrheit
Wir zählen die Städte seit den Neunzigern
in den neuen Bundesländern und den alten
zählen Einzelfall nach Einzelfall nach Einzelfall
Du sprichst Erinnern aus.
Du sagst: Errrinern und schon fließt es aus dem (Kopf)
Du kannst es kaum fassen:
Die Nacht die Schüsse die Namen
Die Nacht die Schüsse die Namen
Die Nacht die Schüsse die Namen
Die Nacht
Wir sagen: Das Problem liegt im System
wir buchstabieren i n s t i t u t i o n e l l
und warten geduldig, bis unser Antrag bearbeitet wird
Uns überraschen keine Talkshows
wir kennen sie alle
wir wissen, wie sie konzipiert sind,
worauf sie abzielen
wir kennen den Preis der Einschaltquoten
wir wissen, wer ihn bezahlt
wir kleben an unseren Handys und sprechen seit einem Jahr von einer Nacht und neun Namen –
wir kennen auch die anderen
wir kennen die davor. Und die danach
wir vergessen nicht
wir erkennen uns an dem Maß, das voll ist
an dem Gras, das nicht mehr wachsen wird
über diese Vergangenheit,
die uns noch immer in die Augen starrt in der Bahn
oder im Park
dort, wo wir durch Haut und Haar auffallen,
erkennen wir sie an ihrem Atem
wir müssen nicht erst nach der Farbe der Schnürsenkel suchen
Wir kennen alle Namen.
Die, die sie uns geben,
so gut
wie die, die sie uns nehmen
Neun Namen,
wir denken an sie und ihre Familien
wir stellen ihre ungelösten Fragen
hier: Wo die Geschichte schon zu vielen Nächten einen Namen gab
hier: Kein Errrrinnern, kein Entrinnen mehr.
W i r e r i n n e r n.
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