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Revisionismus: »Helden« statt Denker

95 Straßen in Kiew umbenannt. Getilgt unter anderem die Namen Marx, Engels und Bakunin – dafür wird Neonaziregiment verherrlicht (Von Reinhard Lauterbach)

In Kiew hat der Stadtrat die Umbenennung von 95 Straßen und Plätzen beschlossen, deren Namen an Russland oder die Sowjetunion erinnern. Betroffen von der Umbenennung sind nicht nur – erneut – Generäle der Sowjetarmee, sondern auch geographische Bezeichnungen wie Astrachan, Brjansk oder der Baikalsee sowie Klassiker der russischen Literatur.

So müssen aus dem Kiewer Straßenbild russische Klassiker wie der Fabeldichter Iwan Krylow, der Poet Alexander Puschkin und der Romancier Lew Tolstoi weichen. Dass russische Kriegsgegner im Moment gern einen Text von Tolstoi posten, in dem dieser den Pa­triotismus – jeden, aber im Kontext den russischen – als nur den Herrschenden nutzende Dummheit kritisiert, war den Umbenennern wohl entgangen. Der romantische Lyriker Michail Lermontow, der wegen seiner Kritik an den russischen Zuständen in den Kaukasus verbannt wurde, muss ebenso aus dem Kiewer Straßenbild verschwinden wie der apolitische und zutiefst humanistische Dramatiker und Prosaist Anton Tschechow. Bei der Gelegenheit wurde auch die einzige literarische Berühmtheit »gesäubert«, die persönlich irgendeinen Bezug zu Kiew hat: Michail Bulgakow. Die in der Ukraine ans Ruder gekommenen Nationalisten nehmen ihm seit langem übel, dass er in seinem Bürgerkriegsroman »Die weiße Garde« ein wenig schmeichelhaftes Bild der damaligen ukrainischen »Befreiungskämpfer« der Jahre 1918/19 gezeichnet und den Nationalismus in der Ukraine als billige Konjunkturerscheinung verächtlich gemacht hat.

Bürgermeister Witali Klitschko begründete die Umbenennungsaktion am Donnerstag abend auf seinem Telegram-Account damit, dass dies ein wichtiger Schritt sei, »um die betrügerische Manipulation und den Einfluss des russischen Aggressors auf die Interpretation unserer Geschichte zu verringern«. Der »Derussifierungsprozess« sei noch nicht abgeschlossen. Bei dieser Gelegenheit kamen auch Karl Marx, Friedrich Engels und der Begründer des anarchistischen Kollektivismus, Michail Bakunin, unter die Räder. Das Erbe treten häufig mittelalterliche Fürsten an – Personen, die außerhalb des ukrainischen Nationalistenmilieus niemand kennt. Oder es wurden gleich Agitpropnamen wie »Straße der Helden von Mariupol«, »Melitopoler Partisanenboulevard« und dergleichen gewählt. Aber es gibt jetzt auch statt der nach dem früheren sowjetischen Verteidigungsminister benannten Marschall-Malinowski-Straße eine »Straße der Helden des Regiments ›Asow‹«, die einen neonazistischen Truppenteil der ukrainischen Armee verherrlichen soll. Der Tula-Platz wird nun »Heldenplatz der UPA« nach dem militärischen Flügel der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten heißen.

Auch Staatspräsident Wolodimir Selenskij hat mit offen faschistischer Symbolik kein Problem. Auf Twitter wurde in dieser Woche verbreitet, wie der Staatschef seine Botschaft zum Unabhängigkeitstag am Mittwoch mit einem ukrainischen Soldaten, der auf seinem Uniformärmel das Abzeichen der SS-Division »Galizien« trug, illustrierte. Dies ist allerdings in der heutigen Ukraine keine Seltenheit mehr, und im westukrainischen Lwiw ist der positive Bezug auf diese Tradition eine Art von Folklore: Fans des örtlichen Ligaklubs Karpaty Lwiw entfalten im Stadion regelmäßig Banner mit dem Emblem dieser Division, die von den Deutschen 1943 aus ukrainischen Kollaborateuren aufgestellt und im Sommer 1944 in der Schlacht von Brody östlich von Lwiw von der Roten Armee weitestgehend aufgerieben wurde.
- https://www.jungewelt.de/artikel/433384.revisionismus-helden-statt-denker.html

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