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Ich hab den Artikel mal hinter der Bezahlschranke rausgeholt, weil er ein realistisches Bild der Situation der Arbeiter:innenklasse und ebenfalls von ihnen geäußerten realistischen Einschätzungen über die Klima-, aber auch darüber hinausgehende Politik gestattet. Eine Linke und diejenigen, die sich für eine realistische Politik zur Bekämpfung der Klimakatastrophe einsetzen, sollten das mitdenken.
Interview | Soziologe Klaus Dörre: „Die Grünen gelten vielen Arbeitern als Hauptfeind“
Mit 220 km/h über die Autobahn brettern und Teslas jagen, das wünscht sich ein Arbeiter in einer Studie des Arbeitssoziologen Klaus Dörre. Sind wirklich die Grünen schuld an diesem Hass? Oder gegen wen richtet er sich sonst?
Sie sind es, die die Verkehrswende bauen sollen: Die Schrauber bei VW im hessischen Baunatal und bei Opel im thüringischen Eisenach. Der Soziologe Klaus Dörre hat mit vielen von ihnen gesprochen und traf auf viel Wut und Frustration. Grünt es denn so gar nicht am Hallenboden der Autofabriken?
der Freitag: Herr Dörre, liegt Arbeitern in der Automobilindustrie der Klimaschutz am Herzen?
Klar. Dass in Sachen Klimaschutz was geschehen muss, hat sich über alle Klassen hinweg durchgesetzt. Für den Klimaschutz kann man auch Arbeiter gewinnen. Die Grünen können das aber nicht.
Warum nicht?
Die Grünen gelten vielen Arbeitern als Hauptfeind. Sie und die Klimabewegung werden so wahrgenommen, dass sie Klimaschutz ohne soziale Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit buchstabieren. Und von Produktion keine Ahnung haben.
Können Sie das konkreter machen? Erstmal: Von welchen Arbeitern sprechen wir?
Ich führe mit meinem Team Befragungen unter Beschäftigten der Automobilindustrie durch, auch des Braunkohlereviers oder der Post. Konkret haben wir im VW-Werk im hessischen Baunatal und im Opel-Werk im thüringischen Eisenach mit der dazugehörigen Zulieferindustrie Fallstudien gemacht mit weit über 100 Interviews.
Bei VW spielt wohl die Umstellung auf Elektromobilität eine große Rolle?
Genau. Im Management tritt man sehr selbstbewusst auf, was die Umstellung auf Batterie-elektrische Antriebe angeht, mit dem Gestus: 'Wir setzen auf grünes Wachstum.' Sie wollen zu einem der wichtigsten Plattform-Hersteller für E-Autos in Deutschland werden.
Wie finden das die Arbeiter bei VW so?
Je näher wir dem Hallenboden kommen, desto ausgeprägter wird die Kritik an dieser E-Mobilität. Das erste Argument lautet: Bevor ein E-Golf auf der Straße steht, hat er bis zu 20 Tonnen CO₂ emittiert. Da muss man, je nach Strommix, über 100.000 Kilometer fahren, um überhaupt einen Klima-Vorteil zu haben. Und das zweite Argument lautet: Wenn wir jedes Jahr über acht Millionen neue PKW in den Weltmarkt schieben, dann kann ein solches Geschäftsmodell nicht nachhaltig sein. Dazu kommen die technischen Mängel, die die Fahrzeuge noch haben.
Diejenigen, die unsere E-Autos zusammenschrauben, halten das also für großen Quatsch?
So kann man das zugespitzt formulieren. Die Schlussfolgerung der Betriebsräte ist: Wir brauchen nachhaltige Mobilitätssysteme und der Verkehr muss schrumpfen. Das ist allerdings nicht die Schlussfolgerung, die viele Arbeiterinnen und Arbeiter ziehen.
Sie zitierten in den Blättern für deutsche und internationale Politik einen IG-Metaller, der sich als „Autonarr“ bezeichnet, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“.
Gegen wen richtet sich diese krasse Wut?
Gegen all diejenigen, die die größeren Portemonnaies haben. Die nicht wissen, was Handarbeit ist. Die nicht wissen, was es heißt, in einem 50-Sekunden-Takt zu arbeiten, die keine Ahnung haben, was es bedeutet, um 5.30 Uhr bei der Frühschicht in Eisenach sein zu müssen: nämlich in Gotha um 3 Uhr früh aufzustehen. Die nicht wissen, was schwere körperliche Arbeit heißt, weil man unter das Fahrzeug klettern muss. Dass man eine Stunde vor der Mittagspause platt ist. Dass es 23 Minuten Mittagspause und zwei Neun-Minuten-Pausen gibt. Warum macht der das alles? Der macht es für 3800 Euro brutto, was in Thüringen für einen Arbeiter außerordentlich viel Geld ist, und er macht es wegen der Kolleginnen und Kollegen, die wie Familie sind und dafür sorgen, dass man sich nicht völlig kaputt macht. So. Und dafür will der aber in seiner freien Zeit tun und lassen können, was er will: 'Da lasse ich mir nicht reinreden.'
Sorry, aber ich muss mal kurz feststellen: Ihr Auto-Arbeiter da verdient mehr als viele von uns Journalistinnen.
Vorsicht, Sie legen da ein falsches Maß an. Sie gehören als Journalistin zu dem, was Soziologen neue prekäre Lohnarbeitsklasse nennen, das heißt, Sie verdienen unter dem gesellschaftlichen Median, aber Sie akzeptieren das deshalb, weil Sie sich inhaltlich mit Ihrer Arbeit identifizieren, stimmt das?
Bestimmt.
Und da Sie beim Freitag sind, verbinden Sie Ihre Arbeit auch noch mit politischen Ideen?
Natürlich.
Dazu gehört ein gehobener sozialer Status, der nicht nur am Lohn hängt, sondern auch am sozialen Background. Sie finden in Ihrer Arbeit Selbstentfaltung.
Das heißt, Ihr Auto-Arbeiter findet Selbstentfaltung nicht auf der Arbeit, sondern auf der Autobahn?
Es ist nicht so, dass man sich bei Opel in Eisenach oder VW in Baunatal gar nicht identifiziert mit der Arbeit. In Eisenach kennt man sich in der Stammbelegschaft seit 30 Jahren, und da sind soziale Bindungen entstanden, die man wertschätzt. Trotzdem gibt es das, was der österreichische Philosoph Günther Anders bezeichnet hat als die Trennung von Produktion und Gewissen. Die Arbeiter werden nicht gefragt, was produziert wird.
Es gibt doch Modelle der Mitbestimmung?
Ja, im Baunatal bei VW wird der Kasseler Weg praktiziert, eine besondere Form des Korporatismus, wo der Feind eher die Zentrale in Wolfsburg ist und nicht das eigene Werksmanagement. Aber selbst dort ist der Einfluss sehr begrenzt. Die Ingenieure von VW haben beispielsweise einen Prototyp eines E-Bikes entwickelt. Ich habe die Fotos gesehen. Sah klasse aus. Jeden Preis hätte ich dafür bezahlt! Der Vorstandsvorsitzende, der damals zuständig war, hat entschieden: Produzieren wir nicht. Es gab auch einen E-Roller, und zwar einen solchen, den man nicht überall rumstehen lassen muss, sondern den man in den Kofferraum packen kann. Wurde nicht gebaut. Und so weiter.
Die Arbeiter werden also stark fremdbestimmt bei der Arbeit, und dann kommen die Grünen und sagen: Wir sagen euch jetzt auch in eurer Freizeit, was tun oder lassen sollt?
Dazu kommt: Die Arbeiterinnen und Arbeiter fühlen sich abgewertet.
Oder gar nicht erst gesehen?
Das auch. Ich frage meine Studierenden gerne in meiner Vorlesung: Wie viele Arbeiter gibt es eigentlich noch in Deutschland, heutzutage? Da hat wirklich mal ein Student geantwortet: 200.000.
Wie groß ist der Anteil der Arbeiter an den Beschäftigten denn tatsächlich?
Als konventionelle Arbeiterklasse bezeichnen wir vorwiegend routinierte, monotone Arbeit, auch wenn sie inzwischen teilweise digitalisiert ist. Das sind etwa noch 34 Prozent der Beschäftigten. Das reicht vom gut verdienenden Arbeiter bei Mercedes-Benz bis zum Lagerist bei Amazon und von der Kassiererin im Supermarkt bis zur Krankenpflegerin. Die Arbeiterschaft ist größer als die Mittelklassen. Sie verschwindet keineswegs.
Haben diese Arbeiter eine politische Heimat?
Es gibt nie die eine politische Orientierung aus einer Klassenlage heraus. Aber wir können feststellen, dass die Grünen nicht in der Lage sind, die Beschäftigten bei Opel oder VW zu erreichen. Und für das Eisenacher Werk berichten die Betriebsräte von erheblichen Teilen der Belegschaft, in denen der Frust und die Wut zur AfD führen.
Aber Wut-Wahl ist etwas anderes als ein politisches Zuhause, oder?
Was politische Parteien angeht, stirbt die Orientierung. Die größte Wahlgruppe unter Arbeitern ist die Wahlenthaltung. Man traut der gesamten politischen Klasse überhaupt nichts mehr zu. Die Wahrnehmung ist: Politiker machen immer das Gegenteil dessen, was sie sagen. Die Wut wird von denen kanalisiert, die sich immer noch den Anschein geben können, dass sie ganz anders als die anderen sind.
Die Linke ist doch auch anders?
Der Linken traut man auch wenig zu. Obwohl es einen spontanen Antikapitalismus gibt: gegen „die da oben, die machen, was sie wollen, und wir haben ohnehin nichts zu melden.“ Die KPÖ in Graz und Salzburg hat es hinbekommen, diese Leute zu erreichen, mit dem Ansatz: „Wir machen, was wir sagen.“ Sie haben eine Gehaltsobergrenze, das macht sie glaubwürdig. Aber in Deutschland? Da sind sich die Arbeiter sicher: Die Politiker haben keine Ahnung von Produktion. Die Arbeiter halten die Grünen für nicht in der Lage, Antworten auf den Klimawandel zu finden.
Wollen die Arbeiter das denn? Eine Antwort auf den Klimawandel finden?
Ja, das wollen sie. In unseren Interviews gibt nur sehr wenige, die das Problem des Klimawandels nicht sehen – selbst unter denen, von denen wir vermuten, dass sie mit der AfD sympathisieren. Die meisten sagen nur: nicht so schnell machen, lieber überlegt. Die spüren ja schon viel Veränderung. Eine Studie des französischen Ökonoms Lucas Chancel von 2022 zeigt, dass die kleinen und mittleren Portemonnaies in den reichen Staaten die Pariser Klimaziele für 2030 erreichen. Das gilt leider nicht für die größeren Portemonnaies, und die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 sogar 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren.
Sehen die Arbeiter in Baunatal oder Eisenach diese Ungleichheit?
Was sie sehen, ist, dass die Preise für Nahrungsmittel, Mieten und Strom dramatisch gestiegen sind. Da ist in der Alltagswahrnehmung das CO₂-Emittieren im Werk selbst weniger bedeutsam als ein Heizungsgesetz, bei dem man fürchtet, dass die Kosten auf einen selbst abgewälzt werden. Da haben die Grünen schreckliche Fehler gemacht. Wenn mit dem Heizungsgesetz wirklich acht Prozent Mietsteigerungen auf die Mieter zukommen, ist das fatal. Das könnte den Grünen das Genick brechen.
Aber was sollen die Grünen tun? Sie müssen die Klimaziele einhalten, sie müssen also die Heizungswende durchsetzen.
Man muss die soziale Dimension dieser Wende klären, und zwar vorher. Für alle hier in Thüringen hat die Transformation seit 1989 nicht aufgehört. Der Vorwurf, nicht veränderungsbereit zu sein, stößt hier nur noch auf Achselzucken.
Ist der Unmut über grüne Politik unter Arbeitern im Osten nochmal anders als im Westen?
Ja. Nicht, weil die konkreten Zumutungen hier andere wären, sondern weil die Post-DDR-Gesellschaft eine arbeiterliche war und ist. Dazu kommt, dass die meisten Parteien hier nicht langsam aus der Gesellschaft erwachsen sind, sondern aus dem Westen übernommen wurden. Aber es gibt sowohl im Osten als auch im Westen eine Generationsverschiebung. Viele junge Auszubildende sagen uns: Doch, wir können auf etwas verzichten. Und wenn man nachfragt, dann sagen sie: aufs Auto.
Interessant – brauchen die denn kein Auto, um morgens um 5.30 Uhr am Werk zu sein?
Wir sprechen hier von meist migrantischen jungen Arbeitern. Die hängen teils noch in ihrer Herkunftsfamilie, und die haben nicht unbedingt vor, ewig bei VW zu bleiben. Die „Döner Industrie“ ist für viele eine Perspektive. Hier ändern sich Arbeitsmentalitäten. Das gilt für VW in Baunatal.
Wieso gilt das nicht für das Opel-Werk in Eisenach? Weil es eine tief verwurzelte DDR-Tradition der Arbeiterlichkeit und der Autokultur hat?
Auch. Vor allem liegt es aber daran, dass es hier keine jungen Auszubildenden gibt: In Eisenach ist Einstellungsstopp.
- Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitautor der Studie Auto- und Zulieferindustrie in der Transformation. Beschäftigtenperspektiven aus fünf Bundesländern
from
Der Freitag
by
Elsa Koester
Mon Jun 19 2023