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Heute verschwindet jüngste Geschichte, wie sie der Irak-Krieg bereithält, nahezu vollständig hinter der moralischen Bewertung des Krieges in der Ukraine. Das Gespür für historische Zusammenhänge und Ursachen wird ersetzt durch eine Haltung ohne Kenntnisse. Eine Wendezeit ohne Vorzeit, die um so ahistorischer wird, je mehr das als kognitives Desaster ins Auge auffällt.

Irak-Krieg 2003: Der Haager Strafgerichtshof hatte allen Grund, aktiv zu werden

Rück- und Ausblick: Vor und nach dem Irak-Krieg ist Deutschland weit von einer publizistischen und politischen Tonalität entfernt, die so uniform wirkt wie beim Thema Ukraine-Krieg seit gut einem Jahr. Ein Vergleich taugt zum Offenbarungseid (von Lutz Herden)

Mitten hinein in die Flut der Solidaritätsadressen Richtung USA nach 9/11 fährt diese Stimme, leidenschaftlich, aber ohne Pathos, kompromisslos, aber nicht feindselig. Mit Wut ist der Schlüssel findet sich ein Aufsatz der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy überschrieben, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 28. September 2001 als Gastbeitrag veröffentlicht.

17 Tage nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York. Osama bin Laden, schreibt die Autorin, „ist das amerikanische Familiengeheimnis“. Er sei „der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“. Eine unerhörte Provokation? Fehlender Respekt gegenüber den mehr als 3.000 Terroropfern? Oder vor allem zutreffende Analyse dessen, was Amerika sich selbst zuzuschreiben hat durch Arroganz und Interventionismus gegenüber der arabisch-islamischen Welt? In den Debatten wird Roy nicht gesteinigt, die FAZ erst recht nicht.

„Kündigen Sie Bush“

Als vor 20 Jahren, im März/April 2003, die US-Armee nach dem Angriffskrieg gegen den Irak das Land einem drakonischen Besatzungsregime unterworfen hat, ist es wieder die FAZ, die am 26. Mai 2004 Roger Morris das Wort erteilt, einem Ex-Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates in Washington.

Der erhält ein Forum, um alle US-Diplomaten aufzufordern, wegen der Regierung des Präsidenten George W. Bush ihren Dienst zu quittieren: „Kündigen Sie Bush“, so die Überschrift. Und weiter: „Sie dienen einem Präsidenten, dessen Außenpolitik die mit Abstand Schlimmste in der Geschichte der Vereinigten Staaten ist.“ Auch andere Beispiele wie ein Artikel des Schriftstellers Ivan Nagel (Die Herrschaft der Ungleichheit), ebenfalls in der FAZ, vom 5. August 2003 ließen sich anführen.

Im Frühjahr 2014 schließlich bemängelt der US-Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer in einem Text für Foreign Affairs den fehlenden Weitblick des Westens, vor allem der USA. Bei ihrem Griff nach der Maidan-Ukraine hätten sie wissen müssen, wie sehr dieser „blockfreie(r) Staat als Puffer für Russlands Sicherheitsbedürfnis unabdingbar“ sei. Die Kernaussagen Mearsheimers oder der komplette Artikel werden von großen Zeitungen nachgedruckt, darunter wieder die FAZ. Das Journal für Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) übernimmt den Aufsatz unter der Überschrift: Putin reagiert. Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist.

Sturmreif geschossen

Jener „Dissens der Dissidenten“ ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten weder zu überhören noch zu übersehen, wenn sich US-Politik zu imperialer Hybris versteigt. Ihm ist es zu danken, dass in Deutschland keine publizistische und politische Tonalität dominiert, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – so uniform und parteiisch ausfällt, wie das beim Thema Russland und Ukraine-Krieg seit mehr als einem Jahr einem Offenbarungseid gleicht.

Als vor 20 Jahren der Irak angegriffen und in drei Wochen überrollt wird, ist das anders. Die von der Bush-Administration in Gang gesetzte Entladung militärischer Überlegenheit bestätigt, was Arundhati Roy für das schwer gestörte Verhältnis zwischen den USA und der arabisch-islamischen Welt geltend machte. „Dissidenten“ ihres Formats erfasst nicht nur geistiges Unbehagen. Sie artikulieren zugleich Widerspruch, der zum Widerstand demokratischer Öffentlichkeiten ermutigt, wie das in vielen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, vor dem Irak-Krieg der Fall ist.

Wie legitim dieses Aufstehen der Friedenswilligen und Friedfertigen ist, zeigen die Geschehnisse auf dem Kriegsschauplatz im Frühjahr 2003. Ende März sind die zuverlässigsten Wegweiser nach Bagdad die Leichenfelder an seiner Peripherie. Über 3.000 irakische Soldaten sterben allein am Wochenende 29./30. März, als die Schlacht um Bagdad beginnt, teilweise werden sie von der vorrückenden US-Armee unter Sandwällen begraben.

Die Stadt selbst ist durch die vorherigen Luftangriffe gezeichnet. Noch gibt es nur Mutmaßungen, wie viele Zivilisten beim Einschlag von Raketen oder Bomben gestorben, wie viele unter dem Schutt ihrer Häuser erstickt sind oder als Obdachlose durch Viertel taumeln, die sturmreif geschossen werden. Und was hat die zusammengebrochene Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln bewirkt?

An der Hundeleine

Als sich die USA Ende 2011 zum Abzug eines Großteils der Besatzungstruppen gezwungen sehen, geht die US-Studie Der Irakkrieg 2003 und vermeidbare menschliche Opfer davon aus, dass seit dem 20. März 2003 etwa 500.000 Zivilisten ums Leben gekommen sind. Andere Analysen nennen die Zahl eine Million.

Emblematisch für die Jahre zwischen 2003 und 2011 sind die Fotos und Videoaufnahmen aus dem Gefängnis Abu Ghraib nahe Bagdad. Dort werden nackte Iraker von US-Aufsehern an Hundeleinen geführt oder der Tortur des Waterboardings ausgesetzt. Einen Rückfall in die Perversitäten des Vietnam-Krieges werde es nicht geben, hieß es vor der Irak-Invasion. Abu Ghraib jedoch erinnert an die Tigerkäfige auf der südvietnamesischen KZ-Insel Con Son Ende der 1960er Jahre, an die Kellerzellen mit angeketteten Gefangenen, die durch ein Gitter in den blanken Himmel starren und Glück haben, wenn sie beim Verteilen von Lebensmitteln nicht vergessen werden.

Spätestens als Abu Ghraib zu Schauder und Entsetzen führt, ist klar: Die Rechtsprechung eines Internationalen Strafgerichtshofes ICC in Den Haag hat nur dann einen Sinn, wenn die politische Verantwortung von US-Präsident George W. Bush wie des britischen Premiers Tony Blair wenigstens zu Anklagen führt, auch wenn es wohl nie einen Prozess geben wird. Aber weder der Tatbestand einer Aggression, noch die verübten Kriegsverbrechen, noch die im Irak verletzten Menschenrechte lassen die ICC-Ermittler tätig werden. Ganz anders, als das jetzt gegenüber dem russischen Staatschef Wladimir Putin und dem gegen ihn ergangenen Haftbefehl des ICC wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder gehandhabt wird.

Haltung statt Wissen

„Im Irak“, schreibt Roger Morris 2004 in der FAZ (s. o.), „das schreit Ihnen aus jedem Kanal entgegen, erleben wir einen außenpolitischen Albtraum, sind gefangen in einem Teufelskreis von Gewalt und bitterem, zunehmendem Hass, aus dem wir nur herauskommen um den Preis riskanter Demütigung im Ausland und scharfen Konflikten daheim.“

Heute verschwindet jüngste Geschichte, wie sie der Irak-Krieg bereithält, nahezu vollständig hinter der moralischen Bewertung des Krieges in der Ukraine. Das Gespür für historische Zusammenhänge und Ursachen wird ersetzt durch eine Haltung ohne Kenntnisse. Eine Wendezeit ohne Vorzeit, die um so ahistorischer wird, je mehr das als kognitives Desaster ins Auge auffällt. Sicher hat das auch einiges damit zu tun, dass der „Dissens der Dissidenten“ zu schwach, zu verhalten, zu vorsichtig ist, um so wahrgenommen zu werden wie vor 20 Jahren.
- https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/irak-krieg-2003-der-dissens-der-dissidenten-ermutigt-zum-widerspruch

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