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Fundstück. Ein Artikel von Herbert Wehner :)))

Der Arbeiter darf wählen

Herbert Wehner (1906–1990) schloss sich 1923 für einige Jahre den Anarchisten an. 1926 schrieb er den Regierungssozialisten etwas ins Stammbuch

Durch die Novemberrevolution vom Jahre 1918 wurde die Monarchie von der Republik abgelöst. Das alte Regierungssystem brach mit dem verlorenen Krieg zusammen. Während sich die bisherigen Herrscher aus dem Staube machten, waren schon neue Männer da, die bereit waren, die leeren Regierungssessel zu belegen. Sofort nach dem Sturz der Monarchie dekretierten die Nachfolger, dass Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, und dass die bewaffneten Revolutionäre ruhig in ihre Behausungen zurückzukehren hätten. So war es auch ganz natürlich; denn Leute, die nach der Regierungsmacht streben, brauchen keine Störenfriede, die es wagen weiter vorzudringen, als es im Programm vorgesehen ist (…)

Die meisten Menschen fügten sich den Erlassen der neuen Männer und warteten auf das versprochene Himmelreich. Nur eine kleine Zahl entschlossener Kämpfer sah voraus, was notwendig kommen musste, wenn die arbeitenden Massen tatenlos zusahen. Verzweifelt focht diese Minderheit, und vergebens versuchte sie, die Massen mitzureißen. Ermüdet von dem langen Krieg und unfähig, ihr Geschick kühn in die eigenen Hände zu nehmen, verharrten die Arbeiter in ihrer Untätigkeit. Sie waren durch jahrzehntelangen Unterricht in Partei und Gewerkschaften daran gewöhnt worden, auf andere zu vertrauen. Ihr Sozialismus bestand darin, die Arbeit von den lieben Nächsten ausführen zu lassen. Einer wartete auf das Handeln des andern, und die einzigen, die etwas taten, waren einerseits die kaisersozialistischen Regierungsmänner und andererseits die wenigen Spartakisten und Anarchisten (…)

Scheidemann, Ebert und Noske, dieses leuchtende Dreigestirn am engen Horizont des deutschen Sozialdemokraten, kamen sofort nach der »Umwälzung« in leitende Stellen. Es war für sie nur ein Wechsel des Brotherrn; hatte doch Scheidemann schon während der letzten Zeit der Monar­chie in Staatsdiensten gestanden (Philipp Scheidemann war vom 4. Oktober 1918 bis zum 9. November 1918 Mitglied der Reichsregierung, jW) (…) Der Sattler und spätere Reichspräsident Ebert rühmte sich seiner patriotischen Gesinnung. Ein großes Heer ähnlicher »Sozialisten« besetzte sofort die maßgebenden Stellen und hatte nur die eine Sorge: möglichst hohe und sichere Einkommen zu beziehen. Das System blieb das alte! Lediglich der Name des Staates wurde geändert. Der Staat selbst, der, gleichviel welche Form und welchen Namen er innehat, immer Unterdrückung der Freiheit und Vergewaltigung des wirklichen Lebens bedeutet, blieb unangetastet. Fortab wurden die Gesetze erlassen »im Namen des Volkes«, während es vorher »im Namen Seiner Majestät des Kaisers« geschah (…)

Im Januar 1919 wählte das Volk eine Nationalversammlung zu dem Zwecke, dass sie eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Dann ging es, befriedigt darüber, dass es einmal mitbestimmen durfte, nach Hause und legte die Hände in den Schoß. Die Nationalversammlung trat zusammen und arbeitete, d. h. sie schaufelte das Grab der deutschen Revolution, bei deren Beginn manche Hoffnung auf ein Erwachen der deutschen Arbeiter rege geworden war (…) Kühne Versuche sind unternommen worden, um den Gang der Dinge in andere Bahnen zu lenken. Ich erinnere an Max Hölz, den mitteldeutschen Aufstand, die Münchener Räterevolution. Die Reaktion, im Bunde mit den Republikanern, ging gegen die Aufständischen mit allen Mitteln vor, und sie fand für alle Maßnahmen eine gesetzliche Unterlage in der deutschen Verfassung. Die Zuchthäuser sind gefüllt mit Gefangenen, die nicht etwa als politische Gefangene bezeichnet werden; nein, das wäre zu offen! Die deutsche Republik hat ein fein ausgeklügeltes System der Rechtsprechung, mit dessen Hilfe es möglich ist, jeden, der rebelliert, als »kriminellen Verbrecher« hinzustellen. Das ist für uns Anarchisten keine Schande, denn wir bekennen, Verbrecher zu sein gegenüber der heutigen »Ordnung«. Auf den frommen Menschen wirkt dieses »kriminell« beruhigend. »Kriminelle« Verbrecher können ja nach geltender Moral bestraft werden.

Hat der Arbeiter Vorteile in der Republik? Man wird entgegnen: »Er darf wählen«. Aber diese Handlung ist ohne Belang. Durch die Abgabe meiner Stimme verzichte ich darauf, während der Legislaturperiode mitzubestimmen. Der Wähler legalisiert die Handlungen, die später gegen ihn unternommen werden. Es sind »Vertreter« da, die für den andern denken und handeln. Nachdem die Wahl stattgefunden hat, versinkt der Wähler wieder in Unmündigkeit. Eifrige Republikaner werden mir entgegenhalten, dass als letzter Ausweg der Volksentscheid offensteht. Aber der Volksentscheid ist nur eine umständlichere Form des Parlamentarismus. Worüber auch das »Volk« entscheiden soll, niemals darf der Gegenstand der Abstimmung ein staatsfeindlicher sein.
- Herbert Wehner: Was ist zu tun? In: Revolutionäre Tat, Dresden, Mai 1926, Seiten 1 und 2. Hier zitiert nach dem Faksimile der Zeitung Revolutionäre Tat, einer Beilage »Für den sozialdemokratischen Leser« vom 22. November 1969 im Westberliner extradienst. Die in Dresden ansässige Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung hat auf ihrer Internetseite die drei Ausgaben der Zeitung Revolutionäre Tat komplett als Faksimile veröffentlicht: hgwst.de

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