#sozialdemokratie

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #geschichte #ermordung #luxemburg #liebknecht #sozialdemokratie #klassenkampf

Der wahre Runge

Wilhelm Pieck und die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

Die Umstände der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht müssen nach aktuellen Recherchen neu bewertet werden. Jörn Schütrumpf, Historiker und Experte für Leben und Werk Rosa Luxemburgs, hat bisher unveröffentlichtes Archivmaterial ausgewertet. Dabei erscheint auch die Rolle von Wilhelm Pieck in neuem Licht.

Es geht um die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 mitten in Berlin. Der Hauptmann und Schreibtischtäter Waldemar Pabst, der den Befehl zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gab; der Staatsanwalt Paul Jorns, der 1919 die Morde vertuschte, um die wahren Mörder zu schützen; und der Gerichtspsychiater Leppmann, der den hippokratischen Eid verletzte, um einen Unterfeldwebel als angeblich geistig minderbemittelten Mörder zu diskreditieren, fügten dem Jahrhundert-Mord eine Jahrhundert-Lüge hinzu.

«Ihr Opfer hieß Otto Runge. In einer Mischung aus Verführung und brutalem Zwang wurde er dazu gebracht, sich als Einzeltäter zu bekennen», so die Erkenntnis von Schütrumpf, der bisher nicht berücksichtigte Dokumente aus dem Bundesarchiv ausgewertet hat. Dabei handelt es sich vor allem um Schriftstücke aus dem Nachlass von Willi Schoenbeck (1886–1957) sowie einen Bericht über zwei Besuche eines KPD-Funktionärs bei Otto Runge vom 22. Oktober 1929.

"In Wirklichkeit hatte Runge mit der Ermordung Karl Liebknechts überhaupt nichts zu tun. Auch Rosa Luxemburg hat er – nach der Drohung, selbst an die Wand gestellt zu werden – allenfalls an der Schulter verletzt, aber nicht den Kopf eingeschlagen."

Außerdem müsse die Rolle von Wilhelm Pieck neu bewertet werden. Er war zusammen mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 verhaftet und ins Hotel Eden gebracht worden und konnte später fliehen. Während der Schreibtischmörder Papst 1962 in einem Spiegel-Interview Pieck des Verrats an seinen Genossen bezichtigte, verwies Pieck selbst auf einen gefälschten Pass, der seine Identität verschleiert und seine Flucht ermöglicht habe.

Das falsche Bild vom Einzeltäter Runge ist jahrzehntelang verbreitet worden. Das wäre laut Schütrumpf nicht passiert, wenn die Historiker ihre Hausaufgaben gemacht hätten: «Stattdessen verbreitet die Geschichtsschreibung bis heute die Jahrhundert-Lüge, in der – neuerdings zumeist etwas gemildert – Runge als gedungener Mittäter und nicht mehr als Einzeltäter dargestellt wird. Damit haben die Täter der Vergangenheit über die Geschichtsschreibung der Zukunft gesiegt.» Mit den neuen Schriftstücken aus dem Bundesarchiv kann das jetzt korrigiert werden.
- https://www.rosalux.de/publikation/id/51484

DER WAHRE RUNGE - Die Dokumentation: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Online-Publikation_Der_wahre_Runge.pdf

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #linke-debatte #migration #arbeit #klasse #kapitalismus #ausbeutung #rassismus #populismus #nation #sozialdemokratie #wagenknecht #festung-europa #eu-grenzregime #dielinke

Endlich mal eine wirklich inhaltliche Kritik an dem was Wagenknecht&Co vertreten. Tausendfach höher zu bewerten als das denunzierende Geschwätz und Anpissen, die sonst zu diesem Thema zu finden sind

Linke Debatte: Im Geiste der Nation

Es werden mal wieder Stimmen laut, die sich in »linker Migrationskritik« üben. Sieben Widerlegungen und ein Schluss (Von Peter Schadt)

Die Zahl derer, die den Fluchtweg über das Mittelmeer suchen, steigt wieder. Bereits im Juli meldete dpa mehr als 75.000 Migranten, die an Italiens Küsten angelandet sind. Im vergangenen Jahr waren es zu diesem Zeitpunkt 31.900. Die Aktualität der Migrationsfrage trifft dabei auf die größte Krise der Partei Die Linke seit ihrer Gründung. Nachdem zuerst die Kovorsitzende Amira Mohamed Ali und dann auch Dietmar Bartsch ihren Rückzug von der Fraktionsspitze bekannt gegeben hatten, ist nicht nur die »tiefe Krise« (»Tagesschau«) der Parteilinken einmal mehr in aller Munde. Bei den Wahlen zum Fraktionsvorstand am 4. September werden auch verschiedene »strategische« Debatten darüber geführt, welchen Kurs eine zukünftige Linke einschlagen müsse. Dabei tritt vor allem das Lager derer, die sich um Sahra Wagenknecht sammeln, immer wieder mit der These auf, man müsse eine »linke Migrationskritik« vorantreiben, die sich von der von rechts unterscheide, weil darin die Arbeiter und deren Interessen im Mittelpunkt stünden.

1. »Von der Migration profitieren die kapitalistisch maßgeblichen Nationen«¹

Wer solche Überlegungen anstellt, sollte schon unterscheiden, von welcher Sorte Migration eigentlich gesprochen wird. Der Weltmarkt – und die Weltmächte, die ihn einrichten – hat die ganze Welt und deren Bewohner zur Manövriermasse des Kapitals und der Staaten gemacht hat. Er verdammt alle Leute dazu, von Arbeit leben zu müssen, die der Bereicherung anderer dient. Wo menschliche Arbeitskraft und die Natur bloß ein Kostenfaktor sind, sorgt deren Vernutzung zu Verwüstungen von Land und Verelendung von Menschen. Das ist auch einer der Gründe, warum es Abermillionen Leute da nicht mehr aushalten, wo sie herkommen. Hinzu kommen, aktueller denn je, aber eigentlich ein Dauerbrenner, die Geflüchteten aus den Kriegsgebieten. Das ist kein beabsichtigtes Ergebnis, sondern eine Wirkung des globalisierten Kapitalismus.

Auf diese Wirkung beziehen sich nun die Staaten und machen die Migration selbst wieder zum Gegenstand ihrer Politik. Da gibt es die riesige Zahl von Menschen, über die das Urteil »untauglich« gefällt wird und gegen die ganze Grenzregime eingerichtet werden. Dann gibt es aber auch jene, die mit Transitabkommen und zwischenstaatlichen Agreements in die unteren Abteilungen der jeweiligen »Arbeitswelten« überführt, also immer da eingesetzt werden, wo der Lohn besonders dürftig und die Arbeit besonders hart ist. Ergänzt wird diese Benutzung der billigen und willigen Hände um die staatliche Konkurrenz um die Wissenschaftler und Künstler aller Nationen in den oberen Rängen der beruflichen Hierarchie, wo die Vorzeichen gerade umgekehrt stehen: Hier will man sich als besonders attraktiver Standort präsentieren, wo etwa Berlin nicht hinter Tel Aviv oder New York zurückfallen soll.

Neben diesen doch sehr unterschiedlichen Abteilungen von Arbeitsmigranten kommen auch die Flüchtlinge in der staatlichen Kalkulation vor. Dabei sind es die Staaten, die zunächst darüber entscheiden, wer überhaupt diesen Titel tragen darf und damit als solcher anerkannt wird, und wer statt dessen zur großen Abteilung der Unberechtigten zählt. Wer dann anerkannt wird, dem wird wieder eine sehr unterschiedliche Behandlung zuteil: Man denke hier nur an jene, die »geduldet« sind, weil sie als menschliches Beweismaterial dafür dienen, dass die eigene Staatlichkeit derjenigen sittlich überlegen ist, vor der sie fliehen mussten, oder an jene, die durch ihre Flucht vor den Bomben des Feindes als politisch höchst bedeutsam eingeschätzt werden. Jüngst sind es die ukrainischen Flüchtlinge, die als Beleg dafür herhalten müssen, dass Deutschland als Fluchtort der dortigen Bevölkerung selbst »betroffen« und damit natürlich auch als »berechtigt« gilt, seine Interessen bis nach Kiew zu vertreten. Eine Funktion, die traditionell auch das Asylrecht für Dissidenten erfüllt. Der Humanismus, politisch Verfolgte aufzunehmen, hatte schon immer die handfeste Seite, damit ein negatives Urteil über den Staat zu fällen, dessen Oppositionellen man Obdach bietet. Sie waren und sind staatliches Belegmaterial für die Bösartigkeit des Staates, aus dem sie geflohen sind.

Dass inzwischen erkleckliche Teile der Welt den Kalkulationen der Weltmächte unterworfen sind und deren Rechnung weder dem in- noch ausländischen menschlichen Inventar sonderlich gut bekommt, hält »linke Migrationskritiker« nicht davon ab, genau diese Instanzen mit ihren globalen Gewaltkompetenzen als Instrumente für mehr Migrationsverhinderung anzusprechen. Damit wird die gewaltträchtige Ursache der modernen Migration in ihre gewaltbewährte Lösung verwandelt. Und weil man sich für keinen Zynismus zu schade ist, wird noch der geforderte Ausschluss von Migranten aus allerlei Ländern und Jobs zu ihrem eigenen Nutzen umgelogen, weil man – besonders »als Linker« – doch wohl gegen den Gebrauch der halben Welt als industrielle Reservearmee sein müsse. Für diesen gedanklichen Kurzschluss muss man ignorieren, dass die Forderung nach Migrationsbegrenzung von links eben nicht der Angriff gegen die Machtbasis der Weltmächte ist, sondern deren globale Zuständigkeit unterstellt.

Will man ganz auf dem Niveau der Parole bleiben, kann man auch antworten: Es mag ja sein, dass nur die Migranten ins Land kommen, von welchen sich Kapital und Staat etwas erhoffen, sei es politischer oder ökonomischer Natur; umgekehrt gilt das aber auch für jeden Grenzzaun und jedes »Anker-Zentrum«: Die Migration unterbleibt auch nur da, wo der Staat sie aus Kalkül und mit seiner Gewalt unterbindet.

Gegen die (deutschen) Arbeiter, für die dieses politische Lager gleichzeitig Politik machen will, scheint es dabei gar nicht zu sprechen, dass es auch deren Arbeitsplätze nur gibt, weil und insofern sie nützlich für das Kapital und ein Beitrag für das Wachstum der Nation sind. Es ist Migranten und Deutschen gerade gemeinsam, dass ihre Existenzen nur gelten, wenn sie sich für die maßgeblichen Instanzen dieser Gesellschaft lohnen. Aus dieser gleichen Abhängigkeit lässt sich eben nicht ableiten, dass »migrationskritische Linke« die einen als ihr Schutzobjekt und die anderen als »zusätzliche Konkurrenz« identifizieren. Es muss schon umgekehrt sein: Wer so redet, der weiß schon, für und gegen wen er ist, und fällt deswegen an der gleichen Abhängigkeit sehr unterschiedliche Urteile.

2. Durch die Migranten wird die Konkurrenz verschärft²

Apropos »zusätzliche Konkurrenz« – da entdeckt eine »linke Migrationskritik« schon wieder an der allen Arbeitern gemeinsamen Zumutung, nämlich dass sie gegeneinander ausgespielt werden, den entscheidenden Unterschied: Die Migranten verschärfen die Konkurrenz, die deutschen Arbeiter leiden unter ihr. Warum sind es eigentlich nicht die Migranten, die unter der Konkurrenz der Deutschen leiden? Oder, wenn man schon die Gleichung nicht einfach umdrehen will, warum ist es nicht der Arbeiter, der darunter leidet, mit allen anderen Arbeitern in Konkurrenz gesetzt zu sein? Wer so redet, der weiß schon wieder an einer Gemeinsamkeit den entscheidenden Unterschied zu finden. Das heißt aber auch, dass nicht das Argument zur »Migrationskritik« führt, sondern die schon unterstellt ist und sich damit nur rechtfertigt.

3. Die Migranten senken die Löhne³

Wie »resultieren« eigentlich sinkenden Löhne aus der Migration? Sitzen »die« in den Personalbüros und entscheiden darüber, wie ein Job eingruppiert wird? Entscheiden sich Migranten eigentlich dafür, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten und so die Tarifbindung aufzukündigen? Man muss schon sehr entschlossen vom Unternehmer, also dem wirklichen Subjekt, absehen, das die Höhe des Lohns bestimmt und ihn auszahlt, um solchen Sätzen etwas abgewinnen zu können. Auch hier gilt wieder: Mit dem gleichen ökonomischen Recht stimmt der Satz, dass deutsche Arbeiter eingesetzt werden, um die Löhne anderer Deutscher zu senken.

4. Das Angebot an die deutschen Arbeiter

Aber stimmt es nicht, dass wenigstens die deutschen Arbeiter wirklich bessere Löhne und Arbeitsbedingungen hätten, wenn die Migranten entschlossen draußen gehalten würden? Auch hier muss ausgeklammert werden, dass sich ein »Fachkräftemangel« – wie er aktuell ja in aller Munde ist – nicht unmittelbar in bessere Löhne und Arbeitsbedingungen übersetzt. Der trifft nämlich als eine ökonomische Rahmenbedingung auf die unternehmerische Freiheit, zu entscheiden, wie damit umgegangen wird. Wenn dem Kapital »das Angebot« an Arbeitskräften nicht passt, dann kennt es verschiedene Arten, damit umzugehen: Eine Variante ist, dass die Unternehmen selbst Arbeiterinnen und Arbeiter ausbilden und so für eine Korrektur bei der Konkurrenz der Arbeiter sorgen.⁴ Eine andere Reaktion ist die erneute betriebswirtschaftliche Prüfung aller technisch möglichen »Rationalisierungen«. Wenn Fachkräfte nur noch mit potentiell höheren Löhnen zu haben sind, mag sich die eine oder andere technische Lösung plötzlich lohnen, die bisher nicht wirtschaftlich war. Kein Wunder, dass hohe Löhne in der »Volkswirtschaftslehre« deshalb auch den zweifelhaft guten Ruf haben, »Innovationstreiber« zu sein. Wer also gerade noch dachte, dass die »Entschärfung« der Konkurrenz ihm endlich einen Job oder ein besseres Gehalt bringt, sieht sich plötzlich mit der technischen Wegschaffung ganzer Abteilungen konfrontiert. Da werden dann – erneut deutsche wie ausländische – Arbeitskräfte freigesetzt, und direkt steigt die Konkurrenz der Arbeiter wieder.

Eine andere Reaktion auf mangelnde Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt heißt Enthaltsamkeit: Während der Arbeiter einen Lohn braucht, kann das Unternehmen auch bestimmte Arbeitsplätze nicht ausschreiben, die sich bei höherem Lohn einfach nicht mehr lohnen. Es gibt eben gewisse Arbeitsplätze, die nur unter der Bedingung einen Beitrag zum Unternehmenszweck stiften, dass die Stellen unschlagbar billig ausgeschrieben werden. Aber selbst da, wo die Arbeit notwendig ist für den Betriebsablauf, gibt es Lösungen ohne Einstellung oder technische Innovation: So wird die zusätzliche Arbeit nicht selten auf die Schultern derjenigen verteilt, die bereits »in Arbeit« sind. Arbeitsverdichtung kann ebenfalls ein Schluss sein, den Unternehmer aus dem Fachkräftemangel ziehen. Anschauungsmaterial liefert hier u. a. die Pflege, in der wenig Personal seit jeher dazu genutzt wird, den Pflegerinnen und Pflegern kontinuierlich mehr Arbeit aufzubürden. Beliebt ist die öffentliche getätigte Überlegung, das ganze Unternehmen direkt ins Ausland zu verlagern und so die Arbeitsplätze gleich dahin zu bringen, wo das ist, was ein Unternehmer sucht: Leute, die sich seine Bedingungen gefallen lassen.

Gegen diese unternehmerische Freiheit und ihre ruinöse Wirkung auf die Arbeitskraftanbieter bestehen »migrationskritische Linke« auf das Verbot: Migranten ins Land zu holen, um damit die Löhne niedrig zu halten, soll gefälligst nicht mehr stattfinden. Andere Arten und Weisen, die Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen, werden dagegen sogar gefordert und sind etwa nach Wagenknecht viel zuwenig im Einsatz: »Der Kapitalismus ist schon lange nicht mehr so produktiv und innovativ, wie er einmal war und wie es ihm heute noch zugeschrieben wird.«⁵ So verzaubert sie die kapitalistische Rechnung mit den Arbeitern zu einer eigentlich für alle vorteilhaften Rechnung, wenn man sich nur an die Regeln »echter Unternehmerschaft« hielte und u. a. die Ausländer rausgehalten würden: »Die Motivation echter Unternehmer ist (…) eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen.«⁶

5. Die Ausländer stören das Sozialsystem

Das ist dann auch der Kern der »Migrationskritik von links«. Eine Idealisierung der bestehenden Verhältnisse unter dem Vorzeichen, wie gut sie wären, wenn die Migration endlich (weiter) begrenzt würde: »Jedes echte Solidarsystem muss die Zahl der Einzahler und Empfänger in einer gewissen Balance halten, um nicht zusammenzubrechen. Normalerweise wird das dadurch gewährleistet, dass solche Systeme nur einem bestimmten Kreis von Menschen offenstehen. Wer potentiell die ganze Menschheit einbezieht, nimmt in Kauf, dass Solidarsysteme, die im globalen Vergleich überdurchschnittliche Leistungen bieten, nicht länger existieren können. Denn soziale Absicherungen auf dem Niveau der westlichen Länder wären auf globaler Ebene selbstverständlich unfinanzierbar.«⁷

Auch hier ist der Nationalismus wieder nicht begründet, sondern vorausgesetzt: Immerhin ist jeder deutsche Arbeitslose, Kranke, Rentner oder Verunglückte eine Belastung für das Sozialsystem, so wie jeder arbeitende Ausländer ein Einzahler ist. Wagenknecht »widerlegt« hier darüber hinaus etwas, das keine politische Partei fordert, nämlich »eine globale soziale Absicherung auf dem Niveau der westlichen Länder«. Gegen Migranten in den existierenden Sozialkassen soll also sprechen, dass ein ganz anderes – von niemandem gefordertes – System von Sozialkassen »selbstverständlich unfinanzierbar« wäre.

Entscheidender ist hier wieder das falsche Ideal der bestehenden Verhältnisse: Ausgerechnet die Sozialversicherungen als staatlich organisierter Abzug vom Lohn, damit Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Lebensabend nicht direkt die proletarische Existenz ruinieren, werden zu einem System in »gewisser (?) Balance« umgedichtet, die von Migranten gestört würde: Das Missverhältnis zwischen dem, was aus dem prozentualen Abzug vom Lohn zu holen und dem, was an staatlichen Leistungen davon zu erbringen ist, hat seine Friktionen für die Volkswirtin Wagenknecht also nicht etwa darin, dass hier zwei völlig disparate ökonomische Größen mit staatlicher Gewalt passend gemacht werden sollen, sondern darin, dass hier Arbeiter ohne den richtigen Stammbaum in diese Rechnung miteingepasst werden.

6. Und was ist mit den Ländern, wo die Arbeiter dann fehlen?⁸

Dies ist ein beredeter Widerspruch dieser »Migrationskritik von links«. Gerade will man noch nachweisen, dass Migrationskritik im Interesse der Arbeiter ist; kaum entscheiden sich Arbeiter dann in ihrem Interesse gegen den Nutzen ihrer Nation, wollen sich also nicht mit schlechtem Lohn am »Aufbau ihres Landes« beteiligen, sondern lieber in den USA oder in Deutschland ihr Glück suchen, fordern diese Linken die Unterordnung aller privaten Kalkulationen und Hoffnungen unter das nationale Interesse an der eigenen Arbeitskraft.

7. Die Arbeiter sind gegen mehr Migration

Das wird schon so sein.⁹ Entsprechend wollen »linke Migrationskritiker« gleich gar nichts von den Widersprüchen einer solchen Position wissen, sondern sehen die Zustimmung in der Arbeiterschaft zu einer solchen Kritik gleich als Argument dafür an, sich als Fürsprecher für sie zu machen. Wer gegen das falsche Bewusstsein argumentiert, gilt als überheblich, wer sich ihm anbiedert, bewegt sich auf Augenhöhe. Ein kleiner Widerspruch, weil die Kritik immerhin unterstellt, dass man den anderen als jemanden anspricht, der zur Revision seiner Fehler bereit und in der Lage ist, während das Nacherzählen von Argumenten einer Migrationskritik, die man selbst als fragwürdig, aber dienlich zur Mobilisierung der Arbeiter als Stimmvieh ansieht, dem Inhalt nach kaum als freundliche Ansprache gewertet werden sollte: Man erklärt sie für zu dumm, ihre Fehler einzusehen, und erzählt Lügen, von denen man meint, sie wollten sie hören. Das fällt aber kaum ins Gewicht, weil das Nachplappern jeder Form bürgerlicher Ideologie, die von großen Teilen der Arbeiter geteilt wird, der Form nach ziemlich friktionslos und daher auch mit viel Einvernehmen passiert. Der Opportunismus wird hier zum schlagenden Argument. So wird das linke Programm zur abhängigen Variablen von Umfragewerten und der erhoffte Erfolg aus dieser Tour zum einzigen Maßstab. Dieser »Erfolg« – wenn er sich denn einstellt und die so Angesprochenen nicht gleich die originalen, alternativen Ausländerkritiker wählen – hat dann auch genau den Inhalt, zu dem man die Leute agitiert hat. Man hat sie einmal mehr darin bestärkt und dazu aufgerufen, dass eine richtige Gestaltung der kapitalistischen Klassengesellschaft zur Versöhnung aller ihrer Widersprüche führt, wenn die schädlichen Elemente nur draußen gehalten werden. Man hat einmal mehr die Lebenslüge des Kapitalismus erzählt und erfolgreich für sie mobilisiert.

Schluss: Der Nationalismus ist der Migrationskritik vorausgesetzt

Warum ist der Nationalismus die vorherrschende Art, wie sich die Bürger nicht nur dieses Staates zu ihrer Nation stellen? Aus keinem besseren Grund, als dass sie vom Wachstum dieser Wirtschaft und von der Gewalt des Staates abhängen, umgekehrt aber ökonomisch ruiniert sind, wenn es hier nicht vorangeht. Sie machen sich den falschen Umkehrschluss zu eigen, dass das Wachstum ihrer Nation auch zu ihrem Nutzen wäre, wenn deren Niedergang ihr Schaden ist. Weil sie also als variables Kapital der Unternehmer und als Bürger der Nation leben müssen, sind sie entschlossen zu glauben, dass das auch möglich sein muss. So werden sie zu Idealisten dieser Verhältnisse. Sie sind dafür! Für Deutschland, für die Türkei, für USA; wo man eben geboren ist, macht man die vorgefundenen Verhältnisse, in denen man leben muss, zum Ausgangspunkt aller Kalkulationen: »Das ist doch mein Land.« Das ist der nationalistische Übergang des Bürgers, der seine Abhängigkeit von seiner Nation für sein Mittel hält.

Das passt einerseits nicht gut zu den Härten eines Daseins als Arbeiter, das ja durch die Lüge von der »Heimat« nicht einfach verschwindet: Überstunden auf der einen, Kurzarbeit auf der anderen Seite, Armut, Stress, Burnout – eben die Folgen auch des modernen Dienstes am Wachstum der Nation, zu der man gehört und sich die meisten auch zugehörig fühlen. Andererseits geht es dann doch gut zusammen, indem patriotische Freunde dieser Gesellschaft ihren Schaden als Folge lauter »unheimatlicher«, »unpatriotischer«, »fremder« Elemente umdeuten. So wird der Klassenverhau zur »eigentlichen« Heimat, wären da nicht »die anderen«, die Pflichtvergessenen. So gehört zum Heimatgedanken das Feindbild dazu. Und bei allen Unterschieden der verschiedenen politischen Lager, welches Feindbild jeweils besonders betont wird – mal die Banker, mal die gierigen Kapitalisten, mal die Juden, Sinti, Roma, fast immer die »korrupten Politiker« – eine Gruppe ist fast immer dabei, weil sie per definitionem nicht hierher gehört: die Migranten.

So erklärt sich dann auch die Merkwürdigkeit, wie eine »linke Migrationskritik« ständig aus der gleichen ökonomischen Situation von Migranten und Deutschen ganz unterschiedliche Schlüsse zieht. Gegen den Ausländer spricht von Anfang an, dass er kein Deutscher ist, denn es muss ja Gründe dafür geben, warum man selbst ständig hart arbeitet, es sich aber nie lohnt. Einmal den grundverkehrten, aber durchgesetzten Fehler gemacht, davon auszugehen, dass sich »ehrliche Arbeit« doch eigentlich lohnen müsste, weil das hier doch eigentlich »unsere« Heimat ist; wer sich also brav an seine Pflichten hält und ständig feststellt, dass ihm das nichts bringt, der sucht nach Schuldigen, die das verbrochen haben. Und so landen die einen bei den Migranten, die die »Konkurrenz verschärfen« und die »Löhne drücken« und das »Sozialsystem aus dem Gleichgewicht« bringen.

»Links« ist diese Migrationskritik dann in dem Sinne, dass das Feindbild Migrant nie das von den »gierigen Kapitalisten« ersetzt, sondern ergänzt. Gerade in der Benutzung der Ausländer für die Lohndrückerei entdecken Wagenknecht und Co. die Abweichung der gierigen Kapitalisten von ihrem eigentlichen Auftrag: »Die Motivation echter Unternehmer ist (…) eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen.« So ist endgültig die ganze Klassengesellschaft umgelogen in »Heimat«, die von »den Migranten« und gierigen Kapitalisten gestört wird.

Wer sich der »linken Migrationskritik« anschließt, irrt sich in seiner Stellung zu dieser Nation und ihrer Rechenweise. Die leidige Debatte, ob eine solche Forderung überhaupt links sei, ist aber das Gegenteil von Kritik. Wer so redet, will Wagenknecht und diejenigen, welche mit ihr in dieser Frage übereinstimmen, nicht widerlegen, sondern exkommunizieren. Über diesen lästigen Streit, wer dann die »wahren« und wer die »Pseudolinken« sind, verwandelt sich jeder Dissens in der Sache in die langweilige Frage, wer für sich in Anspruch nehmen darf »links« zu sein. Pragmatisch beantwortet: Ganz offensichtlich kann sogar der Appell an den Staat, endlich noch entschlossener mit seinen »Anker-Zentren« und Abschiebebehörden zu sein, noch als links durchgehen, wenn man sieben schlechte Argumente dafür hat, warum das alles im Interesse der deutschen Arbeiter sein sollte.

Anmerkungen

1 So lautet eine These (nicht nur) von Hannes Hofbauer in dessen Schrift »Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert«, Promedia Verlag, Wien 2018
2 »Doch nicht nur verschärfte Konkurrenz um Arbeitsplätze und sinkende Löhne sind ein aus hoher Migration resultierendes Problem für die untere Hälfte der Bevölkerung«; Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021, S. 164 f.
3 Ebenda
4 Auch hier kann man ruhig noch mal an die ersten drei Argumente denken: dass nämlich die neu ausgebildeten Fachkräfte ebensogut als »Verschärfung« der Konkurrenz vorgestellt werden können wie die Migranten.
5 Ebenda, S. 272
6 Ebenda, S. 293
7 Ebenda, S. 129 f.
8 vgl. ebenda, S. 142
9 »Die meisten Menschen verstehen sich auch eher nicht als Weltbürger, sondern identifizieren sich mit ihrem Land und – ganz schlimm! – ihrer Nationalität. In Deutschland etwa fühlen sich 74 Prozent ›stark oder sehr stark‹ als Deutsche«; ebenda, S. 32

deutschewelle@squeet.me

Gerhard Schröder: Kein Büro mehr, keine Mitarbeiter, keinen Chauffeur | DW | 19.05.2022

Sich von Putin distanzieren? Seine lukrativen Jobs in Russland aufgeben? Das kommt für Altkanzler Schröder nicht in Frage. Jetzt verliert er staatlich finanzierte Privilegien, auf die er bisher Anspruch hatte.#GerhardSchröder #Ukraine #Russland #WladimirPutin #SPD #Sozialdemokratie #Bundestag #Altkanzler #Gaswirtschaft #Energie
Gerhard Schröder: Kein Büro mehr, keine Mitarbeiter, keinen Chauffeur | DW | 19.05.2022

deutschewelle@squeet.me

Gerhard Schröder: Der tiefe Fall eines Ex-Bundeskanzlers | DW | 10.05.2022

Sich von Putin distanzieren? Seine lukrativen Jobs in Russland aufgeben? Das kommt für den früheren Bundeskanzler Schröder nicht in Frage. Sein Starrsinn befremdet, es wird aber auch über seinen Alkoholkonsum spekuliert.#GerhardSchröder #Ukraine #Russland #WladimirPutin #SPD #Sozialdemokratie #Bundestag #Altkanzler #Gaswirtschaft #Energie
Gerhard Schröder: Der tiefe Fall eines Ex-Bundeskanzlers | DW | 10.05.2022

olladij_tudajev@joindiaspora.com

Buchbesprechung: Revolutionärer Feminismus
Es ist ja keineswegs so, dass der #Feminismus überholt wäre, weil er sein Ziel erreicht hat. Im Gegenteil. Oder ist etwa die „abolition of #gender“ eingetreten? Leben wir in einer Gesellschaft, in der das biologische #Geschlecht eines Menschen keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat? Nein, sondern wir leben im Gegenteil in einer #Gesellschaft, die sich das gegen alle Evidenz einreden muss; deren ganzes Selbstverständnis daran hängt, so zu tun. Dass das schreiend unwahr ist, wird überall gespürt; um so erbitterter muss es verdrängt werden, am meisten unter den jüngeren, die es nicht mehr anders kennen. Und wir sehen die Formen, in denen diese Verdrängung versucht wird und in denen sie notwendig scheitert, jeden Tag greller um uns.
Der #Queerfeminismus ist ein Ausdruck dieser verrückten Lage. Er selbst scheint mir nicht, wie Jeffreys meint, einfach ein Wiedergänger des liberalen Feminismus zu sein. Es ist dazu zuviel von dem älteren lesbischen Feminismus auf ihn übergegangen, durch dessen Niedergang hindurch, auch wenn beide Seiten es nicht wahrhaben wollen; er ist der Rumpf, der nach der Implosion übrigblieb, wenn auch alliiert mit einigen anderen Tendenzen; es ist gewissermassen die Gründung und Selbständigkeit des lesbischen Feminismus rückgängig gemacht worden, und sein Anschluss an den revolutionären Feminismus.
Der Queerfeminismus ist weniger eine Strömung als eine Ansammlung von Widersprüchen, ein Bündel widerstreitender Tendenzen, die es vielleicht nur miteinander aushalten, weil die richtige politische Spannung fehlt. Zusammenzuhalten scheint ihn zunehmend das Denken in Identitäten. Der Widerspruch darin ist erst langsam sichtbar geworden. Er ist heute selbst in seiner letzten #Krise; er hat sich zunehmend die Möglichkeit verstellt, dass darüber überhaupt gesprochen wird, wie man geworden ist, was man ist. Das aber ist die erste Arbeit des Feminismus. Man kann nicht verstehen, wenn man nicht hinterfragen kann. Und eine Bewegung, die sich selbst nicht mehr verstehen kann, kann sich auch nicht behaupten. Sie wird den Platz räumen müssen gegen eine andere, die es kann. Reden wir also von der Wiederaufnahme des revolutionären Feminismus.

https://dasgrossethier.noblogs.org/2022/01/buchbesprechung-revolutionaerer-feminismus/ #revolution #sexualität #marcuse #psychoanalyse #arbeit #herrschaft #frauen #pornografie #liberalismus #gleichheit #identität #kritik #linke #debord #diversität #sozialdemokratie #gewalt #rassismus

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #gesundheit #fortschritt #rationalitäten #corona #covid19 #sozialdemokratie #lobbyismus

Mit dem zugegebenermaßen drögen Fortschrittsgedanken des 20. Jahrhunderts ist gleich die Rationalität mit abgeschafft worden. Es gibt jetzt Rationalitäten, die parallel nebeneinander bestehen, einander ausschließen und trotzdem gleichzeitig durchgesetzt werden. So empfiehlt die von einer Regierung eingesetzte Expertenkommission vor der nächsten Welle einer Pandemie den dringenden Lockdown – die Regierung hat jedoch eine weitere Rationalität in petto, die der Mitmenschlichkeit. Seit Wochen erfüllen ihre Lobbies klagende Petitionäre: der Hotelverband, der Einzelhandel, die Eventbranche, die Gastronomie, die Lufthansa. Wer, der noch ein menschlich’ Herz im Busen trägt, ließe sich nicht erweichen?

Nun könnte man einwenden: Nun ja, die Unternehmen haben Geschäftsmodelle verfolgt, die davon ausgingen, dass die Menschheit auch in nächster Zukunft von globalen Pandemien verschont bliebe. Und sie haben diese Geschäftsmodelle auch in zwei Jahren kaum der neuen Wirklichkeit angepasst, sondern setzten darauf, dass irgendwer die sogenannte Normalität wiederherstellte. Ein strenger Liberalismus könnte da auch mit den Schultern zucken. Aber die neue Regierung ist auch sozialdemokratisch, sie hat ein Herz für die Bedürftigen, sofern sie es bis in die Lobby schaffen. So wird für die Hoffnung auf Normalität die Normalität wieder ausgesetzt.

olladij_tudajev@joindiaspora.com

Die AutorInnen der #Plattform waren alle auf die eine oder andere Weise persönlich mit den revolutionären Ereignissen im ehemaligen russischen Reich, insbesondere in der #Ukraine und in #Polen, verbunden. Sie hatten alle mitangesehen, wie die anarchistische Bewegung trotz ihrer zeitweisen großen Selbstaufopferung nicht in der Lage war, der Situation als Ganzes gerecht zu werden. Auf jeden Anarchisten, der für die Sowjetmacht kämpfte, kam ein anderer, der die Prämisse des Klassenkampfes von vornherein ablehnte oder sogar die Idee der "freien Sowjets“ als "Etatismus" abtat.
Die Plattform versuchte, diese individualistischen und organisationsfeindlichen Fehler zu korrigieren, und forderte die „anarchistischen #Organisationen, die es verstreut in verschiedenen Ländern der Welt gibt, sowie einzelne anarchistische Aktivisten dazu auf, sich in einem revolutionären Kollektiv auf der Basis der allgemeinen Organisationsplattform zusammenzuschließen.“ Obwohl ihr Bezugspunkt eher #Bakunin und #Kropotkin als #Marx und #Engels waren, ist der uneingestandene Beitrag der Autoren des Kommunistischen Manifests doch deutlich spürbar. Die Plattform stellt fest, dass wir in einer kapitalistischen #Gesellschaft leben, die in zwei große Klassen gespalten sei: „das #Proletariat im weitesten Sinne und die Bourgeoisie.“ Der #Staat sei nur das „ausführende Organ der Bourgeoisie", und selbst die #Demokratie „eine der Formen bürgerlicher #Diktatur, trügerisch getarnt durch fiktive politische Freiheiten und Scheingarantien.“ Die Lösung für die #Gewalt, die Ausbeutung, die Sklaverei und die Unterdrückung, die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnen, sei die soziale #Revolution. Tragende Kräfte dieser sozialen Umwälzung sei] „die städtische Arbeiterklasse, die Bauernschaft und teilweise die arbeitende Intelligenz.“ Nur durch den #Klassenkampf könne eine freiheitliche und egalitäre kommunistische Gesellschaft erreicht werden, die auf dem Grundsatz beruht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen".
Die Plattform verstand den #Anarchismus (oder den libertären/anarchistischen #Kommunismus) als ein Produkt der ArbeiterInnenbewegung und nicht als Ergebnis humanitärer Bestrebungen oder abstrakter Überlegungen von Intellektuellen. Sie übte auch #Kritik an den anderen großen politischen Strömungen in der ArbeiterInnenbewegung jener Zeit. So bspw. an der #Sozialdemokratie, die versuche, die Macht mit friedlichen Mitteln der Reform und der Wahlurne zu erobern, dabei aber niemals Erfolg haben würde, da die tatsächliche politische und wirtschaftliche Macht immer noch in den Händen der Bourgeoisie liege. Des Weiteren wurde argumentiert, dass diejenigen, die die Macht mit revolutionären Mitteln zu erobern suchten (Bolschewiki, linke SR), aber dennoch die Notwendigkeit eines "proletarischen Staates" sähen, am Ende nur die Grundlage der kapitalistischen Macht wiederherstellen würden. AnarchistInnen würden daher sowohl den „Staat und die Autorität" als auch die „Diktatur des Proletariats" und die „Übergangsperiode" ablehnen. Die Plattform äußerte sich auch zum #Syndikalismus, der nicht als Gegensatz zum anarchistischen Kommunismus gesehen wurde, sondern als eine Form des Klassenkampfes, in dem Anarchistinnen und Anarchisten präsent sein sollten (sei es in anarchistischen oder nicht-anarchistischen Gewerkschaften). Im konstruktiven Teil lehnt die Plattform, die unter AnarchistInnen heute übliche Vorstellung ab, innerhalb des Systems Freiräume erkämpfen zu können:

https://www.leftcom.org/de/articles/2021-10-13/eine-linkskommunistische-kritik-des-plattformismus-%E2%80%93-zweiter-teil-die
#machno #arschinow #italien #bulgarien #malatesta #berneri #fauri #fabbri #nettlau #mett #pkk #anarkismo #gewerkschaft #kuba

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #geschichte #wahlen #sozialdemokratie #anarchismus #herbert-wehner

Fundstück. Ein Artikel von Herbert Wehner :)))

Der Arbeiter darf wählen

Herbert Wehner (1906–1990) schloss sich 1923 für einige Jahre den Anarchisten an. 1926 schrieb er den Regierungssozialisten etwas ins Stammbuch

Durch die Novemberrevolution vom Jahre 1918 wurde die Monarchie von der Republik abgelöst. Das alte Regierungssystem brach mit dem verlorenen Krieg zusammen. Während sich die bisherigen Herrscher aus dem Staube machten, waren schon neue Männer da, die bereit waren, die leeren Regierungssessel zu belegen. Sofort nach dem Sturz der Monarchie dekretierten die Nachfolger, dass Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, und dass die bewaffneten Revolutionäre ruhig in ihre Behausungen zurückzukehren hätten. So war es auch ganz natürlich; denn Leute, die nach der Regierungsmacht streben, brauchen keine Störenfriede, die es wagen weiter vorzudringen, als es im Programm vorgesehen ist (…)

Die meisten Menschen fügten sich den Erlassen der neuen Männer und warteten auf das versprochene Himmelreich. Nur eine kleine Zahl entschlossener Kämpfer sah voraus, was notwendig kommen musste, wenn die arbeitenden Massen tatenlos zusahen. Verzweifelt focht diese Minderheit, und vergebens versuchte sie, die Massen mitzureißen. Ermüdet von dem langen Krieg und unfähig, ihr Geschick kühn in die eigenen Hände zu nehmen, verharrten die Arbeiter in ihrer Untätigkeit. Sie waren durch jahrzehntelangen Unterricht in Partei und Gewerkschaften daran gewöhnt worden, auf andere zu vertrauen. Ihr Sozialismus bestand darin, die Arbeit von den lieben Nächsten ausführen zu lassen. Einer wartete auf das Handeln des andern, und die einzigen, die etwas taten, waren einerseits die kaisersozialistischen Regierungsmänner und andererseits die wenigen Spartakisten und Anarchisten (…)

Scheidemann, Ebert und Noske, dieses leuchtende Dreigestirn am engen Horizont des deutschen Sozialdemokraten, kamen sofort nach der »Umwälzung« in leitende Stellen. Es war für sie nur ein Wechsel des Brotherrn; hatte doch Scheidemann schon während der letzten Zeit der Monar­chie in Staatsdiensten gestanden (Philipp Scheidemann war vom 4. Oktober 1918 bis zum 9. November 1918 Mitglied der Reichsregierung, jW) (…) Der Sattler und spätere Reichspräsident Ebert rühmte sich seiner patriotischen Gesinnung. Ein großes Heer ähnlicher »Sozialisten« besetzte sofort die maßgebenden Stellen und hatte nur die eine Sorge: möglichst hohe und sichere Einkommen zu beziehen. Das System blieb das alte! Lediglich der Name des Staates wurde geändert. Der Staat selbst, der, gleichviel welche Form und welchen Namen er innehat, immer Unterdrückung der Freiheit und Vergewaltigung des wirklichen Lebens bedeutet, blieb unangetastet. Fortab wurden die Gesetze erlassen »im Namen des Volkes«, während es vorher »im Namen Seiner Majestät des Kaisers« geschah (…)

Im Januar 1919 wählte das Volk eine Nationalversammlung zu dem Zwecke, dass sie eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Dann ging es, befriedigt darüber, dass es einmal mitbestimmen durfte, nach Hause und legte die Hände in den Schoß. Die Nationalversammlung trat zusammen und arbeitete, d. h. sie schaufelte das Grab der deutschen Revolution, bei deren Beginn manche Hoffnung auf ein Erwachen der deutschen Arbeiter rege geworden war (…) Kühne Versuche sind unternommen worden, um den Gang der Dinge in andere Bahnen zu lenken. Ich erinnere an Max Hölz, den mitteldeutschen Aufstand, die Münchener Räterevolution. Die Reaktion, im Bunde mit den Republikanern, ging gegen die Aufständischen mit allen Mitteln vor, und sie fand für alle Maßnahmen eine gesetzliche Unterlage in der deutschen Verfassung. Die Zuchthäuser sind gefüllt mit Gefangenen, die nicht etwa als politische Gefangene bezeichnet werden; nein, das wäre zu offen! Die deutsche Republik hat ein fein ausgeklügeltes System der Rechtsprechung, mit dessen Hilfe es möglich ist, jeden, der rebelliert, als »kriminellen Verbrecher« hinzustellen. Das ist für uns Anarchisten keine Schande, denn wir bekennen, Verbrecher zu sein gegenüber der heutigen »Ordnung«. Auf den frommen Menschen wirkt dieses »kriminell« beruhigend. »Kriminelle« Verbrecher können ja nach geltender Moral bestraft werden.

Hat der Arbeiter Vorteile in der Republik? Man wird entgegnen: »Er darf wählen«. Aber diese Handlung ist ohne Belang. Durch die Abgabe meiner Stimme verzichte ich darauf, während der Legislaturperiode mitzubestimmen. Der Wähler legalisiert die Handlungen, die später gegen ihn unternommen werden. Es sind »Vertreter« da, die für den andern denken und handeln. Nachdem die Wahl stattgefunden hat, versinkt der Wähler wieder in Unmündigkeit. Eifrige Republikaner werden mir entgegenhalten, dass als letzter Ausweg der Volksentscheid offensteht. Aber der Volksentscheid ist nur eine umständlichere Form des Parlamentarismus. Worüber auch das »Volk« entscheiden soll, niemals darf der Gegenstand der Abstimmung ein staatsfeindlicher sein.
- Herbert Wehner: Was ist zu tun? In: Revolutionäre Tat, Dresden, Mai 1926, Seiten 1 und 2. Hier zitiert nach dem Faksimile der Zeitung Revolutionäre Tat, einer Beilage »Für den sozialdemokratischen Leser« vom 22. November 1969 im Westberliner extradienst. Die in Dresden ansässige Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung hat auf ihrer Internetseite die drei Ausgaben der Zeitung Revolutionäre Tat komplett als Faksimile veröffentlicht: hgwst.de