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Verfahren im Land der Täter
Vor 60 Jahren begann der Erste Auschwitz-Prozess (Von Ralph Dobrawa)
Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt am Main der Erste Auschwitz-Prozess. Welchen Anteil am Zustandekommen dieses größten Strafprozesses in der deutschen Nachkriegszeit der langjährige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte, ist erst in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt worden. Bauer, 1903 in Stuttgart geboren, studierte in den 1920er Jahren Rechtswissenschaft und wurde 1930 Amtsrichter. Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, konnte er diese Tätigkeit nicht mehr ausüben. Er emigrierte letztlich 1936 nach Dänemark und blieb dort bis 1949. Dann kehrte er nach Deutschland zurück und übte verschiedene Funktionen in der bundesdeutschen Justiz aus, bis er 1956 zum Hessischen Generalstaatsanwalt ernannt wurde. Seine Erwartungshaltung, er würde auf ein »aufklärungswilliges Volk« stoßen, wurde bereits frühzeitig enttäuscht. In der jungen Bundesrepublik wollte kaum jemand über die Naziverbrechen sprechen und schon gar nicht über die Täter und deren Verfolgung. Bauer merkte sehr schnell, welch eisiger Wind ihm entgegenwehte, als er sich für die Ergreifung namhafter Naziverbrecher wie Adolf Eichmann einsetzte. Das gipfelte in dem bekannten ihm zugeschriebenen Zitat: »Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Territorium!«
Beweisaufnahme
Nachdem es bereits im Raum Stuttgart Hinweise auf einen ehemaligen SS-Angehörigen von Auschwitz gegeben hatte, erhielt Bauer 1959 Material von einem Journalisten. Es handelte sich um Erschießungslisten aus dem KZ Auschwitz, die zum SS-Hauptsturmführer Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß, führten. Mulka war inzwischen längst in das gesellschaftliche Leben der BRD integriert und als wohlsituierter Kaufmann in Hamburg ansässig. Da der Tatort sich nicht auf deutschem Territorium befand, war eine Zuständigkeitsbestimmung durch den Bundesgerichtshof erforderlich, die Bauer herbeiführte. Danach legte der BGH fest, dass künftig das Landgericht Frankfurt am Main für diese Delikte zuständig sein solle. Damit wurden sämtliche nunmehr notwendigen Ermittlungshandlungen zu diesem Tatkomplex bei der dortigen Staatsanwaltschaft geführt. Zunächst bedeutete das, vor allem Überlebende des Holocaust ausfindig zu machen, die als Zeugen zu den Geschehensabläufen in Auschwitz zu hören waren, um dann späterhin entscheiden zu können, welche Tatverdächtigen für welche Handlungen anzuklagen sind. Mit dieser Aufgabe war maßgeblich der Untersuchungsrichter Heinz Düx befasst. Er teilte die Auffassungen von Fritz Bauer zur Notwendigkeit der Strafverfolgung nazistischer Gewalttäter. Im Frühjahr 1963 erfolgte die Anklageerhebung.
Am 20. Dezember 1963 wurde die Hauptverhandlung gegen Mulka und andere vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt am Main eröffnet. 22 Angeklagte fanden sich jetzt auf der Anklagebank wieder. Darunter waren neben dem Adjutanten des Lagerkommandanten mehrere Gestapo-Angehörige, aber auch Ärzte und sogenannte Sanitätsdienstgrade. Von ihnen war niemand bereit, Verantwortung zu übernehmen für die in Auschwitz begangenen grausamen Verbrechen. In der Beweisaufnahme mussten in den folgenden etwa eineinhalb Jahren 360 Zeugen gehört werden, die aus aller Welt anreisten. Für viele von ihnen war dies beklemmend und belastend zugleich. Sie sollten sich an Erlebnisse erinnern, die inzwischen rund zwei Jahrzehnte zurücklagen. Das Internationale Auschwitz-Komitee hatte zuvor geholfen, geeignete Zeugen zu ermitteln. Mancher von ihnen haderte mit sich, ins »Land der Täter« zu kommen. Unter den Zeugen waren allerdings auch ehemalige SS-Angehörige, die bei ihren Aussagen vor allem vermeiden wollten, sich selbst und die Angeklagten zu belasten. Derartige Zeugen waren der Verteidigung natürlich angenehm, während mit Überlebenden des Grauens bei deren Befragung oft respekt- und würdelos umgegangen wurde.
Lügen der Angeklagten
Manche der beschriebenen Szenen waren mehr als beschämend. Die Zuhörer im Saal erfuhren trotzdem von grausamen Foltermethoden und unmenschlichen Behandlungen. Dazu gehörte unter anderem die von dem Angeklagten Wilhelm Boger »erfundene« und nach ihm benannte Boger-Schaukel, bei der ein Häftling gefesselt auf eine Eisenstange gebunden wurde, um ihn dann mit wahllosen Schlägen gegen alle Körperteile und in völlig hilfloser Lage zu malträtieren. Berüchtigt waren auch die sogenannten Stehzellen von nicht einmal einem Quadratmeter Grundfläche mit nur geringer Luftzufuhr, wo manche mitunter Wochen zubringen mussten. Viele haben das nicht überlebt. Andere wurden wahllos erschossen, mit Phenolspritzen zu Tode gebracht oder ihnen wurde – am Boden liegend – ein Holzknüppel über den Hals gelegt, auf dem stehend dann ein SS-Mann so lange hin und her wippte, bis er kein Lebenszeichen mehr von seinem Opfer wahrnehmen konnte. Besonders berührten auch die Schilderungen von Überlebenden, die in Güterwaggons zusammengepfercht an der sogenannten Rampe von Auschwitz ankamen und dort bereits einer unmenschlichen Behandlung unterzogen wurden. Die Nazis nannten das Selektion. Es wurde entschieden, wer von den Angekommenen noch einige Zeit durch Arbeit gequält werden sollte oder sofort den grausamen Tod in den Gaskammern durch das Giftgas Zyklon B fand. Die Szenen an dieser Rampe waren für die Betroffenen unerträglich, weil oft Familien auseinandergerissen wurden und die SS nicht davor zurückschreckte, auch kleine Kinder sofort für den Gastod zu bestimmen. Die Angeklagten wollten von alledem nichts gewusst und nichts mitbekommen haben. Auch der Hauptangeklagte Mulka log einem der Staatsanwälte ins Gesicht und gab sich als völlig unwissend.
Am Prozess nahmen drei Rechtsanwälte teil, die die Interessen von zugelassenen Nebenklägern vertraten. Das waren Angehörige von Überlebenden der Ermordeten, die sich dem Verfahren angeschlossen hatten. Zu ihrem anwaltlichen Beistand gehörte auch Friedrich Karl Kaul, der Nebenkläger aus der DDR vertrat. Zwischen ihm und einem der Verteidiger der Angeklagten, Hans Laternser, kam es immer wieder zu heftigen Wortgefechten, die nicht selten auch durch den Kalten Krieg geprägt waren. Kaul achtete vor allem darauf, dass die Würde der Zeugen gewahrt und respektvoll mit ihnen umgegangen wurde.
Nach dem Schluss der Beweisaufnahme im Mai 1965 plädierte zunächst die Staatsanwaltschaft mehrere Tage und stellte Anträge zur Bestrafung der Angeklagten. Danach erhielten die Vertreter der Nebenklage das Wort. Rechtsanwalt Kaul machte vor allem deutlich, dass es sich bei den von den Angeklagten begangenen Verbrechen um keine konventionelle Kriminalität handelt, sondern um solche, die staatlicherseits gewollt und gefördert wurde. Er verlangte die Anwendung von Völkerrecht, weil es sich bei den Delikten um Verbrechen gegen die Menschheit handelte. Bevor den Angeklagten das letzte Wort gewährt wurde, sprachen deren Verteidiger.
Urteilsverkündung
Am 19. und 20. August 1965 verkündete das Landgericht sein Urteil. Von den im Verfahren verbliebenen 20 Angeklagten wurden sechs zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe, elf zu Freiheitsstrafen zwischen 39 Monaten und 14 Jahren wegen Mordes oder gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord verurteilt. Hierzu gehörte auch ein Angeklagter, der nach Jugendrecht bestraft wurde, weil er zur Tatzeit noch keine 21 Jahre alt war. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Im Revisionsverfahren erreichte der zunächst verurteilte Angeklagte Lucas die Aufhebung seines Urteils und die Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof an das Landgericht. Dieses sprach ihn im Oktober 1970 ebenfalls frei und billigte ihm einen angeblichen Putativnotstand zu.
Die Urteile stießen teils auf Unverständnis, da das verhängte Strafmaß bei manchem Angeklagten in keinem Verhältnis zu den begangenen Unrechtshandlungen stand. Hinzu kommt, dass keine Verurteilung nach Völkerrecht erfolgte und das Gericht sich zur damaligen Zeit noch nicht davon leiten ließ, dass jeder, der in einem Konzentrationslager »Dienst« tat und das Funktionieren des Mordsystems damit unterstützte, »Rädchen im Getriebe« war und demgemäß als Mittäter zu bestrafen ist. Diese Rechtsauffassung sollte sich erst Jahrzehnte später im Verfahren gegen John Demjanjuk ändern.
- https://www.jungewelt.de/artikel/465403.naziverbrechen-verfahren-im-land-der-t%C3%A4ter.html
Die Ermittlung: Oratorium in 11 Gesängen (Peter Weiss, 1966)
Die Ermittlung" ist ein Theaterstück des Dramatikers Peter Weiss von 1965, das den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters thematisiert....