Heute vor 120 Jahren

Edita Morris

* 5. März 1902 † 15. März 1988

Die Blumen von Hiroshima

Edita Morris schrieb dieses Buch über die Opfer des Atombombenabwurfs, 1955 nach ihrem Besuch Hiroshimas.
Zusammen mit ihrem Mann stifte sie das Haus der Ruhe als Fürsorgeeinrichtung für die überlebenden Opfer.

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Der Titel der Originalausgabe lautet:
»The Flowers of Hiroshima« (New York 1959)
Ins Deutsche übertragen von Sophie Angermann

Bertelsmann Lesering | 1960
91 / ~2000 :)) #neverendingbookcoverchallenge

Nachwort von Robert Jungk:
Das Haus am Fluß
Aus allen Fenstern sieht man auf den Fluß. Er ist an dieser Stelle schon sehr breit, denn die Mündung, der er zustrebt, liegt ganz nah, und an stürmischen Tagen dringt der Wellenschlag des Meeres bis hierher. Aber die hoben Wogen haben sich dann schon fast geglättet, der Zorn des Sturms sich besänftigt.

Damals, an »jenem Tage«, trieben auf den grauen Fluten Trümmer und Leichen: die Männer auf dem Rücken, die Frauen das verbrannte Gesicht, die toten Augen dem trüben Flußgrund zugekehrt. Kamen sie in jene Zone, wo die Inlandsee und der Ohta ineinanderfließen, so schwemmte die Flut sie oft wieder flußaufwärts, zog sie die Ebbe abermals zum Meer, trieben die Gezeiten so noch lang ein unschuldig grausames Spiel mit den Opfern des großen »Pikadon« {Donnerblitzes), ehe sie endlich, endlich im Schlamm des Deltas ihre Ruhe fanden.
Stundenlang schauen die Gäste dieses »Hauses der Ruhe« hinunter auf den Fluß. Sie wollen den Tag, an dem die Bombe fiel, vergessen, aber sie können es nicht. Er ist in ihr Gedächtnis, in ihre Haut, in ihr Blut, in jede Zelle ihres Körpers eingeprägt. »Damals schätzte ich mich natürlich glücklich, der Katastrophe entronnen zu sein«, erzählt einer von ihnen. »Die paar Kratzer am Fuß, die oberflächlichen Brandwunden am Arm machten mir keine Sorgen.
Seither habe ich mich oft gefragt, ob jene, die sofort umkamen, nicht eigentlich das bessere Schicksal erlitten. Denn meine winzigen Verletzungen begannen zu schwären, mein Haar fiel aus, die Müdigkeit und der Weltüberdruß, die mir zuerst nur als vorübergehend erschienen waren, verließen mich nicht mehr. Erst Jahre später habe ich begriffen, daß ich »_atomkrank
« war, und erst seit kurzem weiß ich, daß es dagegen vorläufig kein wirksames Mittel gibt. Gewiß, ich bekomme Arzneien, Spritzen, Bluttransfusionen, aber viel hilft das nicht. So schleppe ich mich durchs Leben. Wie lange noch?!« Zwanzig, dreißig, oft bis zu sechzig Überlebende des Atom-Bombardements von Hiroshima sind täglich Gäste in diesem friedlichen schönen Haus am Fluß. Über ein Jahrzehnt lang hatte man so gut wie nichts für sie getan.
Die japanischen Stellen wollten lange nicht begreifen, daß Menschen, die oft kilometerweit vom Explosionszentrum der Bombe entfernt gewesen waren, noch Jahre danach an den Folgen dieses Angriffs litten, und die Amerikaner verschanzten sich hinter juristischen Argumenten, um zu begründen, daß sie die Opfer zwar medizinisch genau untersuchten, aber nicht behandelten.
Doch halt - man darf nicht sagen »_die Amerikaner
«
(sowenig wie man »die Deutschen« sagen sollte, wenn die Greuel von Auschwitz und Lidice zur Sprache kommen). Es haben gerade in Hiroshima nach dem Krieg einzelne amerikanische Bürger, wie der Botanikprofessor Floyd Schmoe, die Missionarin Mary MacMillan, die Lehrerin Mary Jones, der Schriftsteller Norman Cousins, die humanistische und philanthropische Tradition ihres Volkes hochgehalten und ohne viel zu fragen den unschuldigen Opfern des Pikadon geholfen. Zu dieser kleinen Schar gehören auch Edita und Ira Morris. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, daß dieses »Haus der Ruhe« gegründet wurde. In ihm können die Atomkranken, die von ihren gedankenlosen Mitbürgern oft wie Aussätzige behandelt werden, ein wenig Erholung, Unterhaltung, eine Spur von Lebensfreude wiederfinden. Ich war zufällig in Hiroshima, als das Heim am 2. Mai 1957 eröffnet wurde. Damals wurde in der auferstandenen Stadt manche kritische Stimme laut. Denn die Überlebenden sind mißtrauisch geworden. Zu oft schon hat man aus ihrem Unglück bald für jene, bald für diese Seite politisches Kapital schlagen wollen. Nun, drei Jahre nach seinem Bestehen, habe ich das »Haus der Ruhe« wiedergesehen.
Sprechen die Opfer, wenn sie an das Schauspiel jener unvergeßlichen Tage im August 1945 zurückdenken, von der »Stätte des Leidens«, so kommt dem friedlichen Heim am Fluß, das von dem Dichter Tanabe und seiner entzückenden Gattin geführt wird, der Name »Stätte der Freude« zu. Wer hier einen Abend verbringt, wird nicht nur Berichte von Untergang und Unglück hören, sondern auch lautes Lachen, ein Lachen, das beinah etwas Trotziges an sich hat, ein Lachen der Herausforderung an die Mächte der Zerstörung. Und doch ist jeder einzelne, der hier auf den sauberen Strohmatten sitzt, jede Frau, jeder Mann, ja sogar das fünfzehnjährige Mädchen, das ein Säugling auf dem Rücken seiner Mutter war, als der giftige Atompilz über Hiroshima emporwuchs, einem früheren Tod geweiht als wir, die »Normalen«. Jede harmlose Krankheit kann ihnen gefährlich werden. Die Strahlung hat ihre Regenerationsfähigkeit, diese wunderbare Kraft der Heilung und der Erneuerung, entscheidend geschwächt. Dennoch wird man bei diesen Menschen selten Bitterkeit oder gar Haß gegen die Urheber ihres Unglücks finden.
Diese Haltung fiel westlichen Beobachtern, wie zum Beispiel dem gleichfalls vom Atomangriff betroffenen und unter seinen Folgen leidenden deutschen Jesuitenpater Kleinsorge, bereits in den ersten Tagen nach dem Angriff auf. Damals allerdings wußte noch niemand, wie lange und nachhaltig dieses Ereignis nachwirken würde. Und so begann in den Jahren ab 1949 dann die Stimmung umzuschlagen.
Jetzt kam es in Hiroshima zu lauten antiamerikanischen Protesten und Demonstrationen, die bis heute noch nicht abgeklungen sind.
Im »Haus der Ruhe« am Ohtafluß aber hat der Geist der helfenden Brüderlichkeit von Edita und Ira Morris Wunder gewirkt. Hier ist ein wahrer »Friedensherd« entstanden. Gegenstück zu jenen »Kriegsherden«, die uns beunruhigen und ängstigen.
Wer bei Nachtanbruch über den Fluß hinüber nach dem Meer und zur fernen von den Lichtreklamen in den Himmel gezeichneten Silhouette der wiedergeborenen Stadt Hiroshima schaut, spürt den starken Wunsch, daß noch viele solcher »Friedensherde« auf der ganzen Welt entstehen möchten, damit das Unheil von Hiroshima sich nie mehr wiederhole.
Hiroshima, im Juni 1960
Robert Jungk

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