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Die langen Wellen der Konterrevolution
Mit dem Putsch von 1973 wurde der Neoliberalismus in Chile gewaltsam installiert. Das wirkt bis heute nach (Von Frederic Schnatterer)
Im November 2021 gab sich der damalige Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric kämpferisch. »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus in Lateinamerika war, dann wird es auch sein Grab sein«, erklärte der Politiker des Frente Amplio zuversichtlich. Mit dem Slogan ließ sich zu der Zeit durchaus Wahlkampf machen. Nur etwas mehr als ein Jahr zuvor hatte sich eine überwältigende Mehrheit in einem Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen, die die alte, noch aus der Militärdiktatur stammende ersetzen sollte. Im Mittelpunkt der Massenproteste von 2019 stand die Kritik an der großen Ungleichheit im Land – eine Folge des Neoliberalismus, dessen Ursache wiederum in der geltenden Verfassung gesehen wurde.
Heute ist Boric Staatschef des südamerikanischen Landes, eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist allerdings nicht absehbar. Am 4. September 2022 votierten 62 Prozent der Wähler gegen einen zuvor von einem Konvent ausgearbeiteten Verfassungsentwurf, der einen deutlichen Bruch mit dem gültigen Text bedeutet hätte. Anfang Juni 2023 legte eine sogenannte Expertenkommission nach dreimonatiger Arbeit einen neuen Entwurf vor. Auf dieser Grundlage macht nun ein Verfassungsrat weiter, dessen Mitglieder im Mai gewählt worden waren. Er wird von der Rechten dominiert, allein der Partido Republicano, dessen Vorsitzender José Antonio Kast mehrfach öffentlich seine Bewunderung für den ehemaligen Diktator Augusto Pinochet ausgedrückt hat, verfügt über 22 der 51 Sitze.
Die Verfassung, die ersetzt werden soll, stammt aus dem Jahr 1980. Trotz Veränderungen, die in den Jahren 1989 und 2005 vorgenommen worden waren, hat sich ihr grundsätzlicher Charakter bis heute nicht geändert. Ihre Geschichte reicht jedoch weit vor das Jahr 1980 zurück und ist untrennbar mit dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 verbunden. Zwar war der Staatsstreich kein Teil eines neoliberalen Masterplans. Trotzdem schuf er die Voraussetzungen für die Implementierung des heutigen chilenischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells.
Im September 1970 hatte Allende als Kandidat des Linksbündnisses Unidad Popular (UP) mit 36,6 Prozent einen knappen Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen erlangt und war dann vom Parlament gewählt worden. Sein Versprechen eines »demokratischen Wegs zum Sozialismus« umfasste die Vertiefung dreier Kernvorhaben, die bereits von vorherigen Regierungen angestoßen worden waren. So sollten Schlüsselindustrien verstaatlicht, die unter seinem Vorgänger Eduardo Frei begonnene Landreform vertieft und mittels Sozialprogrammen der gesellschaftliche Reichtum umverteilt werden. Diese Maßnahmen sollten mit einer Umgestaltung des Staates hin zu einem »Estado Popular« einhergehen – einer Gesellschaft, in der die Macht tatsächlich vom Volke ausgeht.
Chicago Boys und Staatsterror
Kapitaleigner und Großgrundbesitzer setzten seit Tag eins der Regierung Allende auf deren Destabilisierung. Dabei konnten sie auf die tatkräftige Unterstützung Washingtons zählen. Bereits 1970 hatte US-Präsident Richard Nixon die CIA angewiesen, die chilenische Wirtschaft »zum Schreien zu bringen«, wie aus lange unter Verschluss gehaltenen Geheimdokumenten hervorgeht. Auf Druck der USA wurde die Allende-Regierung von der Kreditvergabe der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank ausgeschlossen. Zudem blockierte die Nixon-Administration die Umschuldung von chilenischen Verbindlichkeiten im Ausland. So wurden die Produktivität gedrosselt, Investitionen erschwert und die chilenische Wirtschaft von den internationalen Märkten abgeschnitten. Die Folge: eine schwere Wirtschaftskrise, die 1973 ihren Höhepunkt erreichte.
Für die chilenische Rechte wurden mit dem Amtsantritt von Allende und dessen Unidad Popular die schlimmsten Alpträume wahr. Sie begann sich zu radikalisieren. Bei immer größeren Teilen der Bourgeoisie sowie rechtskonservativer Kreise bildete sich die Überzeugung heraus, ein »radikaler Bruch« mit der Regierung sei notwendig – worunter immer häufiger auch ein Militärputsch verstanden wurde. Zum »radikalen Bruch« gehörte ebenfalls mehr und mehr der Wunsch, die Wirtschaft wie die gesamte chilenische Gesellschaft konterrevolutionär umzugestalten.
Diese sich bei den Mächtigen langsam durchsetzende Haltung schuf für eine Gruppe chilenischer Ökonomen – die sogenannten Chicago Boys – beste Voraussetzungen für ihre Überzeugungsarbeit. Sie konnten so ihren Einfluss in wichtige Kreise der chilenischen Gesellschaft ausdehnen. 1956 hatte die School of Economics der Chicago University eine Kooperationsvereinbarung mit der Pontificia Universidad Católica de Chile (PUC) abgeschlossen. Die beinhaltete unter anderem ein Austauschprogramm für Professoren sowie ein Stipendienprogramm für chilenische Studenten, die an die US-Hochschule geschickt wurden. Die Universität in Chicago, an der seit 1946 Milton Friedman lehrte, galt bereits damals als führend für das globale neoliberale Projekt.
Finanziert wurde die Vereinbarung über Umwege von der US-Regierung, die den zu der Zeit in Chile vorherrschenden strukturalistisch bis marxistisch geprägten Wirtschaftswissenschaften eine Ideologie des freien Marktes entgegenstellen wollte. Anfangs beschränkte sich ihr Einfluss jedoch auf die recht unbedeutende Wirtschaftsfakultät der PUC sowie einige wenige Unternehmer. Das änderte sich erst mit dem Amtsantritt von Allende, als die von den Chicago Boys vorgeschlagenen »Korrekturmaßnahmen« allmählich in immer größeren Kreisen der Rechten opportun erschienen. Ihrer antikommunistischen Hoffnung entsprechend sollte mit den Maßnahmen nicht nur die UP-Regierung gestürzt, sondern es sollten auch sozialistische Ideale schnell und endgültig ausgerottet werden – eine Konterrevolution des Kapitals.
Bereits direkt mit dem Putsch am 11. September 1973 bauten die neoliberalen Wirtschaftsideologen der Chicago Boys enge Beziehungen zum Militäregime auf. Am 14. September berief Marineadmiral José Toribio Merino, der nach dem Staatsstreich der Junta angehörte, Sergio de Castro zum Berater des Wirtschaftsministers. Der führende Chicago Boy sollte später selbst das Wirtschafts- sowie das Finanzministerium unter Pinochet leiten. Schon am 12. September, nur einen Tag nach dem Putsch, hatte die Gruppe der Junta ihre Studie »El Ladrillo« (Backstein) ausgehändigt. Die Aufsatzsammlung gilt als Grundlage vieler wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die während der Militärdiktatur in die Realität umgesetzt wurden.
Zur Rechtfertigung des Staatsstreichs diente die Legende, Chile müsse vor den »sozialistischen Experimenten« der Unidad Popular gerettet werden. So wiederum wurden alle folgenden Verbrechen und Verletzungen der Menschenrechte als »notwendige Übel« legitimiert. Eine wirtschaftliche Modernisierung des Landes wurde als dringend geboten dargestellt, eine Ablehnung jeglicher staatlicher Regulierungsmaßnahmen mit einbegriffen. Über ein klar definiertes Wirtschaftsprogramm verfügten die Putschisten nach dem Staatsstreich allerdings zunächst nicht. Ziel war vorerst, »das Fortschrittsniveau wiederzuerlangen, das unser Land hatte und das von der marxistischen Regierung von Allende drei Jahre lang gestoppt und untergraben worden ist«, wie Pinochet selbst erklärte.
Eine notwendige Voraussetzung dafür war der organisierte Staatsterror, der gegen Anhänger der UP-Regierung, andere Linke und insgesamt die organisierte Arbeiterschaft vom Zaun gebrochen wurde. Er erst ermöglichte, dass Chile zum »Labor des Neoliberalismus« wurde. 1975 nahm die Junta den »Plan de Recuperación Económica« (Plan zur wirtschaftlichen Erholung) an – die »Schocktherapie«, die Friedman für Chile gefordert hatte. Fast zwei Jahrzehnte nach Beginn des Austauschprogramms zwischen der Pontificia Universidad Católica und der Chicago University bot sich nun die Möglichkeit, nicht nur mit den unter der Unidad Popular gemachten Fortschritten aufzuräumen, sondern sogleich die seit Jahrzehnten im Land wirksamen Beschränkungen für die Wirtschaft aus dem Weg zu räumen. Dank der Diktatur war keinerlei Gegenwehr von Arbeiterorganisationen zu befürchten.
Die neoliberalen Vorgaben – Privatisierungen, Deregulierungen und drastische Einschnitte bei Staats- und insbesondere Sozialausgaben – wurden in die Praxis umgesetzt. Zu den Maßnahmen gehörten die Privatisierung praktisch aller zuvor staatlichen Unternehmen, Banken und Versorgungseinrichtungen, die radikale Reduzierung von Zöllen sowie die brutale Kürzung öffentlicher Ausgaben. Zwischen 1973 und 1979 strich die Junta ihre Ausgaben von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 26 Prozent zusammen. Große Teile des Bildungs-, des Renten- sowie des Gesundheitssystems wurden privatisiert – und sind es bis heute. Im Jahr 1980 befanden sich von 400 Unternehmen, die zum Zeitpunkt des Putsches staatlich gewesen waren, nur noch 15 in öffentlicher Hand. Die an den Schaltstellen in zahlreichen Ministerien sitzenden Chicago Boys hatten freie Hand.
Die Pinochet-Verfassung
Nur wenige Tage nach dem Staatsstreich erhielt der rechtskonservative Jurist Jaime Guzmán, ebenfalls von der PUC, den Auftrag, eine Verfassung für die Militärjunta auszuarbeiten. Später wurde eine Kommission gegründet, der weitere ultrarechte Intellektuelle und Politiker angehörten. Nach fünfjähriger Arbeit präsentierten die Mitglieder der sogenannten Comisión Ortúzar am 17. Oktober 1978 einen ersten Verfassungsentwurf. Nach weiterer Revision durch die Militärjunta wurde die Konstitution am 11. September 1980 in einer keineswegs freien Volksabstimmung angenommen.
Die Pinochet-Verfassung bildet die Grundlage des bis heute in Chile herrschenden neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Sie legt fest, dass die Rolle des Staates auf ein Minimum reduziert ist und garantiert Kapitalinteressen Vorrang gegenüber sozialen Grundrechten. So wie das Individuum in nahezu allen Lebensbereichen auf seine Rolle als Wirtschaftsakteur reduziert wurde, »atomisierte« sich die chilenische Gesellschaft. Darüber hinaus bestand die Funktion der Verfassung von 1980 auch darin, den Bestand der nach 1973 eingeführten Ordnung auch über das formale Ende der Diktatur hinaus zu garantieren. So setzt sie demokratischen Veränderungsmöglichkeiten enge Grenzen. Sie schuf Institutionen und Mechanismen, die es Diktaturanhängern und anderen Rechten ermöglichen, grundlegendere Reformen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu blockieren. Hierin liegt ihr bis heute wirkmächtiges Erbe: Die Verfassung zementiert das neoliberale Politikverständnis, das allen demokratischen Mechanismen grundsätzlich misstraut.
Auch wenn die internationale Rechte die Auswirkungen des neoliberalen Umbaus Chiles in höchsten Tönen lobte: Von einem »ökonomischen Wunder« – den Begriff prägte Friedman in bezug auf die chilenische Entwicklung am 25. Januar 1982 in seiner Kolumne in Newsweek – kann keine Rede sein. Mit der Wirtschaftsleistung des Landes ging es bergab. Leidtragende waren die Beschäftigten, Frauen und Kleinbauern. Zwischen 1973 und 1980 sank der Durchschnittslohn eines Arbeiters um 17 Prozent. Die Erwerbslosenquote stieg rapide an und erreichte 1982 fast 30 Prozent. Als Chile 1990 formal zur bürgerlichen Demokratie zurückkehrte, lebten selbst nach offiziellen Angaben rund 45 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die reichsten zehn Prozent hatten ihr Vermögen während der Militärdiktatur indes fast verdoppeln können.
Massenverarmung und stetig wachsende Ungleichheit führten zu immer mehr Protesten, insbesondere infolge der Schuldenkrise 1982, die auch Chile hart traf. Die Verfassung von 1980 sah die Möglichkeit vor, 1988 mittels eines Referendums darüber abstimmen zu lassen, ob Pinochet weitere acht Jahre an der Macht bleiben solle. Trotz des eindeutigen »Nein« im Plebiszit und des Sieges einer »Mitte-links«-Koalition – der sogenannten Concertación – bei den Wahlen im folgenden Jahr blieben grundsätzliche Veränderungen am neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aus. Vielmehr passten die folgenden Concertación-Regierungen nach 1990 das vorherrschende Modell an den neuen institutionellen Rahmen an. Manche Beobachter sprechen daher davon, dass es so gefestigt wurde.
Das Erbe der Junta
Das Ende der Pinochet-Diktatur wurde auf einem von der Militärjunta selbst konzipierten Wege erreicht. Auch deswegen geriet ihr Erbe in den Folgejahren nie ernsthaft in Gefahr – trotz vereinzelter größerer Mobilisierungen beispielsweise von Studierenden oder der Bewegung gegen das private Rentenversicherungssystem AFP. Das änderte sich erst mit der »sozialen Revolte« von 2019, als innerhalb weniger Wochen Hunderttausende auf die Straßen gingen, sich in Stadtteilkomitees organisierten und über alternative Gesellschaftsentwürfe diskutierten. Sie hatten das neoliberale Modell als Ursache für die extremen sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in Chile erkannt. Plötzlich schien es, als stünde der Neoliberalismus in Chile unmittelbar vor seinem Ende.
Das böse Erwachen kam mit dem eindeutigen Nein zum ausgearbeiteten Verfassungsentwurf am 4. September 2022. Chiles Staatspräsident Boric, der gemeinsam mit der Kommunistischen Partei regiert, ist heute weit davon entfernt, den Neoliberalismus zu Grabe zu tragen. Zwar wird die Verfassung von 1980 durch eine neue ersetzt werden. Dass sich die neue Konstitution allerdings grundlegend vom aktuell gültigen Text aus der Pinochet-Diktatur unterscheiden wird, ist unwahrscheinlich. Angesichts der im Konvent herrschenden Dominanz rechter Abgeordneter ist es sogar gut möglich, dass die Chileninnen und Chilenen am 17. Dezember über einen noch reaktionäreren Entwurf abstimmen müssen. Die Konterrevolution, die die Allende-Regierung stürzte, ist heute noch nicht beendet.
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