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11.9.73: Allendes letzten Worte

Radio Magallanes, 11.9.1973, 11.00 Uhr Lokalzeit

Heute am 11. September jährt sich zum 50. Mal der Putsch gegen den sozialistischen Präsident Chiles, Salvador Allende , durch faschistische Kräfte um den chilenischen General Augusto Pinochet und mit Unterstützung des CIA. Im Zuge der Machtübernahme durch das Militär starben laut Amnesty International bis zu 30.000 Menschen. Wir dokumentieren an dieser Stelle die letzte Rede Salvador Allendes, die er hielt, während faschistische Kräfte den Präsidentenpalast und die Radiostation stürmten.

Salvador Allende am 11. September 1973, 11.00 Uhr in der Radiostation Magellan:

Es ist sicherlich das letzte Mal, dass ich mich an euch wende. Die Luftstreitkräfte haben die Sendeanlagen von Radio Portales und Radio Corporacion bombardiert. Meine Worte sind nicht von Bitternis geprägt, sondern von Enttäuschung. Sie sind auch die moralische Züchtigung derjenigen, die den Eid, den sie geleistet haben, gebrochen haben: Soldaten Chiles, amtierende Oberbefehlshaber und Admiral Merino, der sich selbst ernannt hat, der verachtungswürdige General Mendoza, der noch gestern der Regierung seine Treue und Loyalität bezeugte und sich ebenfalls selbst zum Generaldirektor der Carabineros ernannt hat. Angesichts solcher Tatsachen kann ich den Werktätigen nur eines sagen: Ich werde nicht zurücktreten.

In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber der Bevölkerung mit meinem Leben bezahlen. Und ich kann euch versichern, dass ich die Gewissheit habe, dass nichts verhindern kann, dass die von uns in das edle Gewissen von Tausenden und Abertausenden Chilenen ausgebrachte Saat aufgehen wird. Sie haben die Gewalt, sie können zur Sklaverei zurückkehren, aber man kann weder durch Verbrechen noch durch Gewalt die gesellschaftlichen Prozesse aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.

Werktätige meines Vaterlandes! Ich möchte euch danken für die Loyalität, die ihr immer bewiesen habt, für das Vertrauen, das ihr in einen Mann gesetzt habt, der nur der Dolmetscher der großen Bestrebungen nach Gerechtigkeit war, der sich in seinen Erklärungen verpflichtet hat, die Verfassung und das Gesetz zu respektieren, und der seiner Verpflichtung treu war. Dies sind die letzten Augenblicke, in denen ich mich an euch wenden kann, damit ihr die Lehren aus den Ereignissen ziehen könnt.

Das Auslandskapital, der mit der Reaktion verbündete Imperialismus haben ein solches Klima geschaffen, dass die Streitkräfte mit ihren Traditionen brechen, mit den Traditionen, die ihnen von General Schneider gelehrt und von Kommandant Araya bekräftigt wurden. Beide wurden Opfer derselben Gesellschaftsschicht, der gleichen Leute, die heute zu Hause sitzen in Erwartung, durch Mittelsmänner die Macht zurückzuerobern, um weiterhin ihre Profite und ihre Privilegien zu verteidigen. Ich wende mich vor allem an die bescheidene Frau unserer Erde, an die Bäuerin, die an uns glaubte, an die Arbeiterin, die mehr arbeitete, an die Mutter, die unsere Fürsorge für die Kinder kannte. Ich wende mich an die Angehörigen der freien Berufe, die eine patriotische Verhaltensweise zeigten, an diejenigen, die vor einigen Tagen gegen den Aufstand kämpften, der von den Berufsvereinigungen, den Klassenvereinigungen angeführt wurde. Auch hierbei ging es darum, die Vorteile zu verteidigen, die die kapitalistische Gesellschaft einer kleinen Anzahl der Ihrigen bietet. Ich wende mich an die Jugend, an diejenigen, die gesungen haben, die ihre Freude und ihren Kampfgeist zum Ausdruck brachten. Ich wende mich an den chilenischen Mann, an den Arbeiter, an den Bauern, an den Intellektuellen, an diejenigen, die verfolgt werden, denn der Faschismus zeigt sich bereits seit vielen Stunden in unserem Land: in den Terrorattentaten, in den Sprengungen von Brücken und Eisenbahnen, in der Zerstörung von Öl- und Gasleitungen. Angesichts des Schweigens … [von Bombendetonationen übertönt] … dem sie unterworfen waren. Die Geschichte wird über sie richten.

Radio Magallanes wird sicherlich zum Schweigen gebracht werden, und der ruhige Ton meiner Stimme wird euch nicht mehr erreichen. Das macht nichts, ihr werdet sie weiter hören, ich werde immer mit euch sein, und ich werde zumindest die Erinnerung an einen würdigen Menschen hinterlassen, der loyal war hinsichtlich der Loyalität zu den Werktätigen.

Die Bevölkerung muss sich verteidigen, aber nicht opfern. Die Bevölkerung darf sich nicht unterkriegen oder vernichten lassen, sie darf sich nicht demütigen lassen.

Werktätige meines Vaterlandes! Ich glaube an Chile und sein Schicksal. Es werden andere Chilenen kommen. In diesen düsteren und bitteren Augenblicken, in denen sich der Verrat durchsetzt, sollt ihr wissen, dass sich früher oder später, sehr bald, erneut die großen Straßen auftun werden, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht. Es lebe Chile! Es lebe die Bevölkerung! Es leben die Werktätigen! Das sind meine letzten Worte, und ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht vergeblich sein wird. Ich habe die Gewissheit, dass es zumindest eine moralische Lektion sein wird, die den Treuebruch, die Feigheit und den Verrat verurteilt.

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11.9.73: Floh de Cologne - Mumien – Kantate für Rockband

  • Floh de Cologne benennen im Oratorium »Mumien« (1974) die Hintergründe und Folgen des 11. Septembers 1973. Floh de Cologne führen Salvador Allendes letzte Rede auf. Der faschistische Putsch in Chile versetzt die fortschrittliche Welt in einen tagelangen Schockzustand und löst – nach Vietnam – eine zweite internationale Welle der Solidarität aus, die dann mit der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 ihren vorerst letzten Höhepunkt erleben sollte.
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Die langen Wellen der Konterrevolution

Mit dem Putsch von 1973 wurde der Neoliberalismus in Chile gewaltsam installiert. Das wirkt bis heute nach (Von Frederic Schnatterer)

Im November 2021 gab sich der damalige Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric kämpferisch. »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus in Lateinamerika war, dann wird es auch sein Grab sein«, erklärte der Politiker des Frente Amplio zuversichtlich. Mit dem Slogan ließ sich zu der Zeit durchaus Wahlkampf machen. Nur etwas mehr als ein Jahr zuvor hatte sich eine überwältigende Mehrheit in einem Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen, die die alte, noch aus der Militärdiktatur stammende ersetzen sollte. Im Mittelpunkt der Massenproteste von 2019 stand die Kritik an der großen Ungleichheit im Land – eine Folge des Neoliberalismus, dessen Ursache wiederum in der geltenden Verfassung gesehen wurde.

Heute ist Boric Staatschef des südamerikanischen Landes, eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist allerdings nicht absehbar. Am 4. September 2022 votierten 62 Prozent der Wähler gegen einen zuvor von einem Konvent ausgearbeiteten Verfassungsentwurf, der einen deutlichen Bruch mit dem gültigen Text bedeutet hätte. Anfang Juni 2023 legte eine sogenannte Expertenkommission nach dreimonatiger Arbeit einen neuen Entwurf vor. Auf dieser Grundlage macht nun ein Verfassungsrat weiter, dessen Mitglieder im Mai gewählt worden waren. Er wird von der Rechten dominiert, allein der Partido Republicano, dessen Vorsitzender José Antonio Kast mehrfach öffentlich seine Bewunderung für den ehemaligen Diktator Augusto Pinochet ausgedrückt hat, verfügt über 22 der 51 Sitze.

Die Verfassung, die ersetzt werden soll, stammt aus dem Jahr 1980. Trotz Veränderungen, die in den Jahren 1989 und 2005 vorgenommen worden waren, hat sich ihr grundsätzlicher Charakter bis heute nicht geändert. Ihre Geschichte reicht jedoch weit vor das Jahr 1980 zurück und ist untrennbar mit dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 verbunden. Zwar war der Staatsstreich kein Teil eines neoliberalen Masterplans. Trotzdem schuf er die Voraussetzungen für die Implementierung des heutigen chilenischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells.

Im September 1970 hatte Allende als Kandidat des Linksbündnisses Unidad Popular (UP) mit 36,6 Prozent einen knappen Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen erlangt und war dann vom Parlament gewählt worden. Sein Versprechen eines »demokratischen Wegs zum Sozialismus« umfasste die Vertiefung dreier Kernvorhaben, die bereits von vorherigen Regierungen angestoßen worden waren. So sollten Schlüsselindustrien verstaatlicht, die unter seinem Vorgänger Eduardo Frei begonnene Landreform vertieft und mittels Sozialprogrammen der gesellschaftliche Reichtum umverteilt werden. Diese Maßnahmen sollten mit einer Umgestaltung des Staates hin zu einem »Estado Popular« einhergehen – einer Gesellschaft, in der die Macht tatsächlich vom Volke ausgeht.

Chicago Boys und Staatsterror

Kapitaleigner und Großgrundbesitzer setzten seit Tag eins der Regierung Allende auf deren Destabilisierung. Dabei konnten sie auf die tatkräftige Unterstützung Washingtons zählen. Bereits 1970 hatte US-Präsident Richard Nixon die CIA angewiesen, die chilenische Wirtschaft »zum Schreien zu bringen«, wie aus lange unter Verschluss gehaltenen Geheimdokumenten hervorgeht. Auf Druck der USA wurde die Allende-Regierung von der Kreditvergabe der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank ausgeschlossen. Zudem blockierte die Nixon-Administration die Umschuldung von chilenischen Verbindlichkeiten im Ausland. So wurden die Produktivität gedrosselt, Investitionen erschwert und die chilenische Wirtschaft von den internationalen Märkten abgeschnitten. Die Folge: eine schwere Wirtschaftskrise, die 1973 ihren Höhepunkt erreichte.

Für die chilenische Rechte wurden mit dem Amtsantritt von Allende und dessen Unidad Popular die schlimmsten Alpträume wahr. Sie begann sich zu radikalisieren. Bei immer größeren Teilen der Bourgeoisie sowie rechtskonservativer Kreise bildete sich die Überzeugung heraus, ein »radikaler Bruch« mit der Regierung sei notwendig – worunter immer häufiger auch ein Militärputsch verstanden wurde. Zum »radikalen Bruch« gehörte ebenfalls mehr und mehr der Wunsch, die Wirtschaft wie die gesamte chilenische Gesellschaft konterrevolutionär umzugestalten.

Diese sich bei den Mächtigen langsam durchsetzende Haltung schuf für eine Gruppe chilenischer Ökonomen – die sogenannten Chicago Boys – beste Voraussetzungen für ihre Überzeugungsarbeit. Sie konnten so ihren Einfluss in wichtige Kreise der chilenischen Gesellschaft ausdehnen. 1956 hatte die School of Economics der Chicago University eine Kooperationsvereinbarung mit der Pontificia Universidad Católica de Chile (PUC) abgeschlossen. Die beinhaltete unter anderem ein Austauschprogramm für Professoren sowie ein Stipendienprogramm für chilenische Studenten, die an die US-Hochschule geschickt wurden. Die Universität in Chicago, an der seit 1946 Milton Friedman lehrte, galt bereits damals als führend für das globale neoliberale Projekt.

Finanziert wurde die Vereinbarung über Umwege von der US-Regierung, die den zu der Zeit in Chile vorherrschenden strukturalistisch bis marxistisch geprägten Wirtschaftswissenschaften eine Ideologie des freien Marktes entgegenstellen wollte. Anfangs beschränkte sich ihr Einfluss jedoch auf die recht unbedeutende Wirtschaftsfakultät der PUC sowie einige wenige Unternehmer. Das änderte sich erst mit dem Amtsantritt von Allende, als die von den Chicago Boys vorgeschlagenen »Korrekturmaßnahmen« allmählich in immer größeren Kreisen der Rechten opportun erschienen. Ihrer antikommunistischen Hoffnung entsprechend sollte mit den Maßnahmen nicht nur die UP-Regierung gestürzt, sondern es sollten auch sozialistische Ideale schnell und endgültig ausgerottet werden – eine Konterrevolution des Kapitals.

Bereits direkt mit dem Putsch am 11. September 1973 bauten die neoliberalen Wirtschaftsideologen der Chicago Boys enge Beziehungen zum Militäregime auf. Am 14. September berief Marineadmiral José Toribio Merino, der nach dem Staatsstreich der Junta angehörte, Sergio de Castro zum Berater des Wirtschaftsministers. Der führende Chicago Boy sollte später selbst das Wirtschafts- sowie das Finanzministerium unter Pinochet leiten. Schon am 12. September, nur einen Tag nach dem Putsch, hatte die Gruppe der Junta ihre Studie »El Ladrillo« (Backstein) ausgehändigt. Die Aufsatzsammlung gilt als Grundlage vieler wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die während der Militärdiktatur in die Realität umgesetzt wurden.

Zur Rechtfertigung des Staatsstreichs diente die Legende, Chile müsse vor den »sozialistischen Experimenten« der Unidad Popular gerettet werden. So wiederum wurden alle folgenden Verbrechen und Verletzungen der Menschenrechte als »notwendige Übel« legitimiert. Eine wirtschaftliche Modernisierung des Landes wurde als dringend geboten dargestellt, eine Ablehnung jeglicher staatlicher Regulierungsmaßnahmen mit einbegriffen. Über ein klar definiertes Wirtschaftsprogramm verfügten die Putschisten nach dem Staatsstreich allerdings zunächst nicht. Ziel war vorerst, »das Fortschrittsniveau wiederzuerlangen, das unser Land hatte und das von der marxistischen Regierung von Allende drei Jahre lang gestoppt und untergraben worden ist«, wie Pinochet selbst erklärte.

Eine notwendige Voraussetzung dafür war der organisierte Staatsterror, der gegen Anhänger der UP-Regierung, andere Linke und insgesamt die organisierte Arbeiterschaft vom Zaun gebrochen wurde. Er erst ermöglichte, dass Chile zum »Labor des Neoliberalismus« wurde. 1975 nahm die Junta den »Plan de Recuperación Económica« (Plan zur wirtschaftlichen Erholung) an – die »Schocktherapie«, die Friedman für Chile gefordert hatte. Fast zwei Jahrzehnte nach Beginn des Austauschprogramms zwischen der Pontificia Universidad Católica und der Chicago University bot sich nun die Möglichkeit, nicht nur mit den unter der Unidad Popular gemachten Fortschritten aufzuräumen, sondern sogleich die seit Jahrzehnten im Land wirksamen Beschränkungen für die Wirtschaft aus dem Weg zu räumen. Dank der Diktatur war keinerlei Gegenwehr von Arbeiterorganisationen zu befürchten.

Die neoliberalen Vorgaben – Privatisierungen, Deregulierungen und drastische Einschnitte bei Staats- und insbesondere Sozialausgaben – wurden in die Praxis umgesetzt. Zu den Maßnahmen gehörten die Privatisierung praktisch aller zuvor staatlichen Unternehmen, Banken und Versorgungseinrichtungen, die radikale Reduzierung von Zöllen sowie die brutale Kürzung öffentlicher Ausgaben. Zwischen 1973 und 1979 strich die Junta ihre Ausgaben von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 26 Prozent zusammen. Große Teile des Bildungs-, des Renten- sowie des Gesundheitssystems wurden privatisiert – und sind es bis heute. Im Jahr 1980 befanden sich von 400 Unternehmen, die zum Zeitpunkt des Putsches staatlich gewesen waren, nur noch 15 in öffentlicher Hand. Die an den Schaltstellen in zahlreichen Ministerien sitzenden Chicago Boys hatten freie Hand.

Die Pinochet-Verfassung

Nur wenige Tage nach dem Staatsstreich erhielt der rechtskonservative Jurist Jaime Guzmán, ebenfalls von der PUC, den Auftrag, eine Verfassung für die Militärjunta auszuarbeiten. Später wurde eine Kommission gegründet, der weitere ultrarechte Intellektuelle und Politiker angehörten. Nach fünfjähriger Arbeit präsentierten die Mitglieder der sogenannten Comisión Ortúzar am 17. Oktober 1978 einen ersten Verfassungsentwurf. Nach weiterer Revision durch die Militärjunta wurde die Konstitution am 11. September 1980 in einer keineswegs freien Volksabstimmung angenommen.

Die Pinochet-Verfassung bildet die Grundlage des bis heute in Chile herrschenden neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Sie legt fest, dass die Rolle des Staates auf ein Minimum reduziert ist und garantiert Kapitalinteressen Vorrang gegenüber sozialen Grundrechten. So wie das Individuum in nahezu allen Lebensbereichen auf seine Rolle als Wirtschaftsakteur reduziert wurde, »atomisierte« sich die chilenische Gesellschaft. Darüber hinaus bestand die Funktion der Verfassung von 1980 auch darin, den Bestand der nach 1973 eingeführten Ordnung auch über das formale Ende der Diktatur hinaus zu garantieren. So setzt sie demokratischen Veränderungsmöglichkeiten enge Grenzen. Sie schuf Institutionen und Mechanismen, die es Diktaturanhängern und anderen Rechten ermöglichen, grundlegendere Reformen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu blockieren. Hierin liegt ihr bis heute wirkmächtiges Erbe: Die Verfassung zementiert das neoliberale Politikverständnis, das allen demokratischen Mechanismen grundsätzlich misstraut.

Auch wenn die internationale Rechte die Auswirkungen des neoliberalen Umbaus Chiles in höchsten Tönen lobte: Von einem »ökonomischen Wunder« – den Begriff prägte Friedman in bezug auf die chilenische Entwicklung am 25. Januar 1982 in seiner Kolumne in Newsweek – kann keine Rede sein. Mit der Wirtschaftsleistung des Landes ging es bergab. Leidtragende waren die Beschäftigten, Frauen und Kleinbauern. Zwischen 1973 und 1980 sank der Durchschnittslohn eines Arbeiters um 17 Prozent. Die Erwerbslosenquote stieg rapide an und erreichte 1982 fast 30 Prozent. Als Chile 1990 formal zur bürgerlichen Demokratie zurückkehrte, lebten selbst nach offiziellen Angaben rund 45 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die reichsten zehn Prozent hatten ihr Vermögen während der Militärdiktatur indes fast verdoppeln können.

Massenverarmung und stetig wachsende Ungleichheit führten zu immer mehr Protesten, insbesondere infolge der Schuldenkrise 1982, die auch Chile hart traf. Die Verfassung von 1980 sah die Möglichkeit vor, 1988 mittels eines Referendums darüber abstimmen zu lassen, ob Pinochet weitere acht Jahre an der Macht bleiben solle. Trotz des eindeutigen »Nein« im Plebiszit und des Sieges einer »Mitte-links«-Koalition – der sogenannten Concertación – bei den Wahlen im folgenden Jahr blieben grundsätzliche Veränderungen am neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aus. Vielmehr passten die folgenden Concertación-Regierungen nach 1990 das vorherrschende Modell an den neuen institutionellen Rahmen an. Manche Beobachter sprechen daher davon, dass es so gefestigt wurde.

Das Erbe der Junta

Das Ende der Pinochet-Diktatur wurde auf einem von der Militärjunta selbst konzipierten Wege erreicht. Auch deswegen geriet ihr Erbe in den Folgejahren nie ernsthaft in Gefahr – trotz vereinzelter größerer Mobilisierungen beispielsweise von Studierenden oder der Bewegung gegen das private Rentenversicherungssystem AFP. Das änderte sich erst mit der »sozialen Revolte« von 2019, als innerhalb weniger Wochen Hunderttausende auf die Straßen gingen, sich in Stadtteilkomitees organisierten und über alternative Gesellschaftsentwürfe diskutierten. Sie hatten das neoliberale Modell als Ursache für die extremen sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in Chile erkannt. Plötzlich schien es, als stünde der Neoliberalismus in Chile unmittelbar vor seinem Ende.

Das böse Erwachen kam mit dem eindeutigen Nein zum ausgearbeiteten Verfassungsentwurf am 4. September 2022. Chiles Staatspräsident Boric, der gemeinsam mit der Kommunistischen Partei regiert, ist heute weit davon entfernt, den Neoliberalismus zu Grabe zu tragen. Zwar wird die Verfassung von 1980 durch eine neue ersetzt werden. Dass sich die neue Konstitution allerdings grundlegend vom aktuell gültigen Text aus der Pinochet-Diktatur unterscheiden wird, ist unwahrscheinlich. Angesichts der im Konvent herrschenden Dominanz rechter Abgeordneter ist es sogar gut möglich, dass die Chileninnen und Chilenen am 17. Dezember über einen noch reaktionäreren Entwurf abstimmen müssen. Die Konterrevolution, die die Allende-Regierung stürzte, ist heute noch nicht beendet.

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

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11.9.73: Globale Konterrevolution

Verdichtung von Raum und Zeit. Zur Bedeutung des Putsches in Chile (Von Daniel Bratanovic)

In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mussten die Zeitgenossen durchaus den Eindruck haben, dass sich nicht der Kapitalismus, sondern der Sozialismus in der Offensive befindet. Genossen hierzulande berichten, wie sie auf Weltkarten, die in den Parteibüros hingen, alle jene Länder mit roten Fähnchen markierten, die sich zu einem sozialistischen Entwicklungsweg bekannten. Es wurden ihrer immer mehr.

Ein erheblicher Teil der nachkolonialen Staaten Afrikas, viele Länder des arabischen Raums und nicht wenige Nationen Asiens schlugen diese Richtung ein. In Kuba hatten 1959 Guerilleros mit Fidel Castro und Che Guevara an der Spitze den mit Washington verbündeten Diktator Fulgencio Batista verjagt und alsbald begonnen, die Niederlassungen von US-amerikanischen Unternehmen zu verstaatlichen. Nachdem 1970 Salvador Allende, der Kandidat des Volksfrontbündnisses Unidad Popular, zum Präsidenten gewählt worden war, stellte die neue Regierung in Chile ebenfalls die Eigentumsfrage, nationalisierte die Kupferminen und enteignete chilenische Unternehmen in der Hand von US-Konzernen.

Die Beseitigung der sozialistischen Regierung in Chile am 11. September 1973 und der Aufbau eines faschistischen Terrorapparats – übrigens mit Unterstützung alter Nazis, die nach 1945 entkommen waren –, der Oppositionelle gnadenlos jagte und ermordete, waren ein schwerer Schock für das Lager der Fortschrittsleute, aber in der zeitgenössischen Wahrnehmung noch lange nicht das Ende. Kein Jahr später machten progressive Offiziere unter dem Jubel der Massen Schluss mit der Salazar-Diktatur. Portugals Nelkenrevolution im April 1974 entließ dann rasch Guinea-Bissau, Angola und Mosambik aus der kolonialen Beherrschung. Die dortigen antikolonialen Befreiungsbewegungen optierten für eine sozialistische Orientierung. 1978 eroberte die Demokratische Volkspartei in Afghanistan die Macht, 1979 stürzte in Nicaragua die Sandinistische Befreiungsfront den Diktator Somoza, im gleichen Jahr übernahm eine nationalrevolutionäre Partei die Macht im karibischen Inselstaat Grenada.

Noch bis zum Ende des Jahrzehnts konnten die Genossen also weitere Fähnchen auf ihre Weltkarten stecken und schienen begründeten Anlass zu den schönsten Hoffnungen auf einen Planeten ohne Ausbeutung zu haben. Was sie damals kaum wissen konnten: Die Welle revolutionärer Erschütterungen brach genau zu jener Zeit. Der real existierende Sozialismus war auf eine abschüssige Bahn geraten, seine Krise jedoch anfangs, zu Beginn der 70er Jahre, lediglich latent und daher nur schwer erkennbar.

Das Jahr 1973 markierte mit der Zerstörung des 1944 geschaffenen Weltwährungssystems, der Durchsetzung marktradikaler Strategien bzw. einer Zurückdrängung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft einen epochalen Wendepunkt, eine neue Periode in der Geschichte des Kapitalismus wurde eingeleitet.

Der Putsch in Chile und seine Folgen allerdings erweisen sich in der Rückschau von einem halben Jahrhundert als sehr viel bedeutungsschwerer denn als bloßer Dämpfer für eine Welt auf dem Weg zum Sozialismus. Das Jahr 1973 markierte mit der Zerstörung des 1944 geschaffenen Weltwährungssystems, der Durchsetzung marktradikaler Strategien bzw. einer Zurückdrängung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft einen epochalen Wendepunkt, eine neue Periode in der Geschichte des Kapitalismus wurde eingeleitet. Vor dem Hintergrund der damals gerade in Gang gesetzten »dritten industriellen Revolution« in der Informationstechnologie hob ein Zeitalter an, das bisweilen – ungenau genug – neoliberale Globalisierung genannt wird.

Was auch immer sonst damit bezeichnet ist, diese Wende bedeutete eine Zurückdrängung der Macht der Lohnabhängigen in der gesamten kapitalistischen Welt, und in dieses Zeitalter fällt auch der Untergang der sozialistischen Staaten. Dieser Umschlag im Weltmaßstab verdichtet sich zu einem Tag an einem Ort: dem 11. September 1973 in Santiago. Das Terrorregime der Militärjunta in Chile schuf die Voraussetzung, gleichsam unter Laborbedingungen neoliberale Wirtschaftskonzepte zu probieren, die bald auch andernorts Anwendung finden sollten. Insofern steht dieser Tag nicht nur für das gewaltsame Ende des Versuchs, in Chile eine Ökonomie der Gleichheit und Gerechtigkeit aufzubauen, sondern auch für eine globale Konterrevolution.
- https://www.jungewelt.de/beilage/art/458297