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Ich werde mein Land nicht mit der Waffe verteidigen, sondern fliehen

Gerade in Zeiten eines Krieges mitten in Europa ist es wichtig, dem Rückfall ins heroische Zeitalter zu widerstehen. Ein Lob der Schwäche von Christian Baron

Sollte jemals irgendwer einen Angriffskrieg gegen Deutschland starten, dann werde ich „mein Land“ nicht verteidigen. Stattdessen werde ich alles tun, um an einen sicheren Ort zu gelangen. Falls es dann in meiner Macht stehen sollte, werde ich möglichst vielen Menschen helfen, die dem ebenfalls entkommen wollen. Erst recht dann, wenn die Bundesregierung wehrfähigen deutschen Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Flucht verbieten würde.

So, wie die ukrainische Regierung im Februar 2022 den ukrainischen Männern unter Androhung langjähriger Gefängnisstrafen die Flucht verboten hat, nachdem die russische Armee im Land eingefallen war. Als Reaktion auf einen Akt brutaler Gewalt hat Präsident Wolodymyr Selenskyj einen großen Teil der Bevölkerung gewaltsam für seine Zwecke instrumentalisiert. Bis heute gab es im Angesicht dieses Unrechts keinen kollektiven Aufschrei derer, die jahrelang für flüchtende Menschen jeden Geschlechts und Alters aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan aus gutem Grund das Recht auf Asyl einforderten.

Angst vor atomarer Vernichtung

Das Jahr 2022 war ein Jahr des Rückfalls in ein heroisches Zeitalter. Maßgeblich herbeigeführt haben diesen Rückfall ausgerechnet jene, die zuvor intensiv an einer Dekonstruktion gewaltverherrlichender Ideologeme gearbeitet haben. Von Triggerwarnungen vor Filmen mit expliziten Szenen bis hin zu mehr Sensibilität für Menschen mit psychischen Erkrankungen – allmählich hatte sich die Perspektive durchgesetzt, dass als Schwächen konnotierte Eigenschaften große Stärken sind, weil sie zu einer menschenfreundlicheren Welt beitragen. Dass ein guter Mensch keineswegs ein „Held“ sein muss, schien dabei eingepreist.P

Das ist nun vorbei. Im Jahr 2022 verging kaum ein Tag, ohne dass eine linke, linksliberale oder zumindest linksbürgerliche Person des öffentlichen Lebens in Deutschland die NATO-Truppen oder wenigstens deren militärisches Arsenal in die Ukraine befehligen wollte, notfalls auch zum Preis der atomaren Vernichtung eines guten Teils der Erdbevölkerung.

Empfanden die deutschen Eliten zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 eine Sehnsucht nach dem Stahlbad, so empfinden sie seit dem Beginn des Ukraine-Krieges mehr als 100 Jahre später eine Sehnsucht nach einer übersichtlichen Welt, die den Gut-gegen-Böse-Gesetzen eines Märchens gehorcht.

Arbeiterkind zur Bundeswehr

Ich bin aufgewachsen als Sohn eines finanziell armen, aber auch gewalttätigen und saufenden Vaters, der vieles von dem verkörpert hat, was man heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnet. Die begriffliche Verbindung des Giftigen mit Menschen mag problematisch sein; doch steckt eine emanzipatorische Kraft in der Abkehr von dem, was dieses Schlagwort meint: ein Rollenbild, das Aggressivität als Teil männlichen Verhaltens begreift und die Unterordnung von Frauen und aller als weiblich verstandenen Persönlichkeitsmerkmale verlangt.

Mich hätte diese Vorstellung männlicher Stärke beinahe als Bundeswehrsoldat in den westlichen Angriffskrieg gegen Afghanistan geführt. Als 18-Jähriger saß ich im Jahr 2003 dem Karriereberater des Militärs gegenüber, und in der Geschwindigkeit von Maschinengewehrschüssen argumentierte er meine Bedenken in Grund und Boden. Gerade für mich als Arbeiterkind, sagte er, wäre die Offizierslaufbahn lukrativ, denn ein Anwärter studiere bei vollem Gehalt und erhalte nach zwölf Dienstjahren den Beamtenstatus. Man müsse zwar Auslandseinsätze absolvieren, doch die fänden schließlich im Namen von Freiheit und Demokratie statt. Außerdem lebe man unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, häufe keine BAföG-Schulden an und habe niemals Existenzsorgen.

Frieren für die Freiheit

Hätte ich nicht rechtzeitig vor meiner Entscheidung eine Inszenierung von Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder am Theater gesehen, ich hätte den Kriegsdienst nicht verweigert und wäre bald in der Hölle von Kabul gelandet. Denn als Kanonenfutter an der Front eines jeden Krieges enden nicht die Sprösslinge derer, die diese Kriege befehlen, sondern fast immer die Habenichtse. So ist es auch aktuell in der Ukraine, wo gut betuchte Männer sich weder von Russen erschießen lassen noch auf sie schießen müssen, weil das nötige Kleingeld vorhanden ist, um Schleuser zu bezahlen oder die Behörden zu schmieren.

Einer, der 2022 besonders laut nach militärischer Stärke rief, ist Andrij Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland. Wer Verständnis aufbringt für ukrainische Deserteure, den beschimpft er bei Twitter. Den Waffenzwang für ukrainische Männer fand Melnyk gut. Sein 20-jähriger Sohn jedoch kämpft nicht an der Front, sondern studiert in Berlin. Studierende sind von der Mobilmachung in der Ukraine bislang ausgenommen, und Melnyk scheint seinem Jungen nicht nahegelegt zu haben, freiwillig zur Waffe zu greifen. Das Beispiel zeigt: Es ist auch in Osteuropa der „Pöbel“, der nach Meinung der Mächtigen die Freiheit verteidigen soll. Fragt sich nur: wessen Freiheit?

Verzicht als Befreiung?

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach bereits im Frühjahr 2022 davon, die Deutschen müssten hohe Energiekosten in Kauf nehmen und „frieren für die Freiheit“. Viel Widerspruch erhielt der mit einem warmen „Ehrensold“ von rund 250.000 Euro pro Jahr ausgestattete Politiker nicht. Nein, auch von links gab es Zuspruch. Die Philosophin Eva von Redecker etwa sagte im September 2022 in dem linken Podcast Dissens: „Eigentlich müssten alle bei 17 Grad im Winter leben. Das nicht als Verzichts-, sondern als Befreiungsdiskurs etablieren zu können, das wäre das, was in den Köpfen, aber auch in den Praktiken passieren müsste.“

In den Neunzigerjahren erfreute sich das Schimpfwort „Warmduscher“ großer Beliebtheit bei den jugendlichen Rowdys. Ich verstand schon damals nicht, was daran denunzierend sein soll. Wenn in meiner Kindheit bei uns zu Hause mal wieder kein Geld da war zum Heizen, dann verstand ich das Frieren nicht als Verzicht, sondern als Demütigung. Dass ich es mir heute leisten kann, beim Duschen den Wärmeregler bis zum Anschlag zu drehen, empfinde ich als Befreiung. Wer mir das Ende dieser zivilisatorischen Errungenschaft als Verzicht anpreisen oder es mir gar aufzwingen will, der demütigt mich.

„Im Westen nichts Neues“

Neben Gedankengebilden wie dem des „Warmduschers“ hat 2022 ein weiterer Evergreen der Mobbingkultur ein unerwartetes Comeback gefeiert. Es ist wieder beliebt, über Ängste zu lachen. Wer eingesteht, sich vor einem Atomkrieg zu fürchten, wenn die NATO den Krieg in der Ukraine weiter eskaliert anstatt zu deeskalieren, darf sich als „erbärmlicher Loser“ (Melnyk), „Unterwerfungspazifist“ (Ralf Fücks), „Lumpenpazifist“ (Sascha Lobo) oder „Superpazifist“ (Jagoda Marinić) verlachen lassen. Meist meinen die so Spottenden, die Angst vor einem Atomkrieg sei unbegründet. Nun besteht der Witz gerade darin, dass Ängste nie unbegründet, weil subjektiv empfunden sind.

Womöglich jedoch sind diese Ängstlichen am Ende sogar rationaler als die abgehärteten Seitenliniengeneräle. Vielleicht ahnen die Ängstlichen, was Krieg jenseits aller abstrakten Militärstrategiedebatten wirklich anrichtet mit Menschen auf allen Seiten, selbst wenn er angeblich für eine „gerechte Sache“ geführt wird. Kein Roman der deutschsprachigen Literatur zeigt das erschütternder als Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Noch weitaus besser als mit der derzeit viel gelobten Neuverfilmung lässt sich bei der Lektüre des Textes erkennen, warum jeder neue Kriegstag genau einer zu viel ist. Vor allem für die Zivilbevölkerung im attackierten Land, aber auch für die Soldaten aller Seiten.

Paul Bäumer im Schützengraben

Remarque blendet die politische Großwetterlage weitgehend aus, stattdessen liegen wir mit dem Protagonisten Paul Bäumer im Schützengraben. Dort gehen ihm Gedanken durch den Kopf, die manchen russischen Soldaten gerade auch plagen mögen: „Wir haben den Krieg nicht gewollt, die anderen behaupten dasselbe – und trotzdem ist die halbe Welt feste dabei.“ Nachdem er einen „Feind“ umbringen musste, denkt er: „Der Tote hätte sicher noch dreißig Jahre leben können, wenn ich mir den Rückweg schärfer eingeprägt hätte. Wenn er zwei Meter nach links gelaufen wäre, läge er jetzt drüben im Graben und schriebe einen neuen Brief an seine Frau.“

Im Lazarett liegen Menschen, „denen die Kolik das Blut aus dem Leibe quetscht“. Auch „Gaskranke, die in tagelangem Würgen die verbrannten Lungen stückweise auskotzen“. Bäumer sieht Leute, die aus dem Bett ans Fenster kriechen und davorliegen, „als hätten sie zum letzten Mal hinaussehen wollen“. An anderer Stelle sagt Bäumer: „Ich sehe, dass die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und länger dauernd zu machen.“
Waffen liefern in den Krieg?

Wer Waffenlieferungen an die Ukraine derzeit für das beste Mittel hält, möchte den Krieg ebenfalls in die Länge ziehen. Diese Strategie scheint ethisch im Vorteil zu sein, weil sie den Aggressor entschlossen zurückdrängen will. Zur Wahrheit gehört aber, dass sie viele Menschen das Leben kostet, die im Fall eines Verhandlungsfriedens mit Zugeständnissen nicht sterben müssten.

Es gibt in einem Krieg meist mehr Optionen als nur Sieg und Niederlage. Wo aber den Intellektuellen der dialektische Materialismus als Kompass verloren gegangen ist, bleibt ihnen nur noch das Denken in Dichotomien. Für „unsere Werte“ kämpfen, bis die Gegenseite kapitulieren muss – das mag stark klingen, heroisch und tapfer. Mich hätte diese Logik als 18-Jährigen beinahe ins Verderben gelockt. Heute bin ich glücklich, dass ich damals schwach wurde. Und erkenne es als Stärke an.

  • Christian Baron ist Autor des Freitag. Nach seinem literarischen Debüt Ein Mann seiner Klasse hat er zuletzt den Roman Schön ist die Nacht veröffentlicht.