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Zweite Nakba

Israel setzt auf Vertreibung aus Gaza Richtung Sinai in Ägypten. Ultrarechte Zionisten träumen von jüdischer Besiedelung in »evakuiertem« Gebiet (Von Knut Mellenthin)

Israel steht kurz davor, Hunderttausende Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens, vielleicht die gesamte Bevölkerung des winzig kleinen Gebiets, mehr als zwei Millionen Menschen, über den einzigen möglichen Ausweg nach Ägypten zu vertreiben. Ist das eine übertriebene, vielleicht sogar aus der Luft gegriffene Prognose? Betrachten wir die Fakten.

Mehrere Unterorganisationen der Vereinten Nationen, darunter das Kinderhilfswerk UNICEF und das für Palästina zuständige Flüchtlingshilfswerk UNRWA, geben die Zahl der Menschen, die seit Beginn des neuen Gaza-Krieges aus ihren Wohnungen flüchten mussten, mit mehr als einer Million an. Annähernd 600.000 von ihnen haben notdürftig Unterkunft in den völlig überfüllten 150 Einrichtungen der UNRWA gefunden, wie die Organisation am Dienstag mitteilte. 40 Einrichtungen – Krankenhäuser, Gesundheitszentren, Schulen – wurden seit dem 7. Oktober durch Luftangriffe oder Beschuss beschädigt, 35 Mitarbeiter der UNRWA wurden bisher getötet.

Das Gesundheitsministerium des Gazastreifens warnte am Montag, dass die medizinischen Dienste kurz vor dem Zusammenbruch stünden. Zwölf Krankenhäuser und 32 Gesundheitszentren hätten schon die Arbeit eingestellt. Hauptgrund ist das Fehlen von Treibstoff und des damit erzeugten Stroms. Israel hat die Versorgung des Gazastreifen vollständig unterbrochen und lässt auch die Lieferung von Treibstoff über den einzigen Grenzübergang nach Ägypten nicht zu. Am Dienstag abend hatte die UNRWA angekündigt, sie werde alle Aktivitäten einstellen, falls die israelischen Streitkräfte keinen Treibstoff über die Grenze lasse. Am Mittwoch warnte die UN-Organisation erneut vor einem nahenden Ende jeglicher humanitärer Hilfe für die unter Durst und Hunger leidenden Menschen in Gaza. »Wir müssen eine Lösung für den Treibstoff finden – sonst kommt unsere Hilfsaktion zum Erliegen», schrieb sie auf X.Schon jetzt breiten sich die in derartigen Situationen üblichen Erkältungs- und Durchfallerkrankungen aus. Ein großes Problem neben der Blockade der Treibstofftransporte durch Israel ist der Wassermangel. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass pro Person nur noch ein Fünftel der Wassermenge zur Verfügung steht, die mindestens nötig wäre.

Diese Entwicklung war absehbar. Die israelische Regierung hat seit Beginn dieses Krieges auf eine humanitäre Katastrophe hingearbeitet und das offen angekündigt. Bereits am 7. Oktober forderte Premierminister Benjamin Netanjahu die gesamte Bevölkerung auf, den Gazastreifen zu verlassen, da die israelischen Streitkräfte dort nur noch Trümmer hinterlassen würden. Am 8. Oktober drohte der Regierungschef, dass das, was Israel jetzt »seinen Feinden« antun werde, »für Generationen nachklingen« werde. Verteidigungsminister Joaw Galant hatte den gleichen Racheschwur am 7. Oktober so formuliert: An Israels »Antwort im Gazastreifen« auf die Angriffe der Hamas werde man »sich die nächsten 50 Jahre erinnern«. »Der Preis, den der Gazastreifen zahlen muss, wird sehr hoch sein und die Realität für Generationen verändern.«

Dass Israel weit über sein in Anspruch genommenes Recht auf Selbstverteidigung hinausgehen und dass es zu schweren Verbrechen an der palästinensischen Zivilbevölkerung kommen würde, muss allen westlichen Politikern vom ersten Tag an bewusst gewesen sein. Mit ihrem schweigenden oder sogar erklärten Einverständnis sind sie fest in das Geschehen eingebunden. Am 13. Oktober forderte die israelische Regierung die Bewohnerinnen und Bewohner der Nordhälfte des Gazastreifens auf, innerhalb von 24 Stunden ihre Wohnungen zu verlassen und in den Süden zu flüchten. Vor dem Krieg hatte der Gazastreifen die gleiche Bevölkerungsdichte wie Hongkong. Jetzt ist dieselbe Zahl von Menschen auf die Hälfte der Fläche zusammengedrängt.

Israel verschiebt indessen die angekündigte Bodenoffensive seiner Streitkräfte von Tag zu Tag mit unterschiedlichen Begründungen, lässt die Katastrophe noch weiter anwachsen und wartet auf den Tag, wo Ägypten die Grenze öffnen muss oder Hunderttausende verzweifelte Menschen die Absperrungen durchbrechen. Offiziell erklärt die israelische Regierung, dass man sich noch keine Gedanken über die Zukunft des Gebiets nach dem Krieg mache. Allerdings hatte Verteidigungsminister Galant am Freitag voriger Woche in einem Ausschuss der Knesset gesagt, Israel werde auf jeden Fall die »Verantwortung für das tägliche Leben« im Gazastreifen nicht wieder übernehmen. Gemeint ist offenbar dessen Versorgung mit Wasser und Strom.

Ultrarechte Kräfte, die an der Regierungskoalition beteiligt sind, sprechen jetzt schon offen davon, die vertriebene palästinensische Bevölkerung in »Zeltstädten« auf der ägyptischen Sinaihalbinsel anzusiedeln. Der Gazastreifen solle vollständig »evakuiert« werden, heißt es in einem Papier des Institute for National Security and Zionist Strategies, das in der vorigen Woche veröffentlicht wurde. Israel könne dann das zwangsgeräumte Gebiet jüdischen Siedlern überlassen. Die Autoren des Papiers sind zuversichtlich, dass die westeuropäischen Staaten diese Lösung begrüßen würden, »weil sie das Risiko der illegalen Immigration deutlich verringert«.

Im ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/49 hatten die Zionisten 700.000 Menschen vertrieben. Die UN-Resolution 194 vom 11. Dezember 1948, die deren Recht auf Rückkehr bekräftigt, lehnt Israel kategorisch ab. Inzwischen ist aus Sicht der westlichen Welt längst Gras über die Sache gewachsen.
- https://www.jungewelt.de/artikel/461823.gazakrieg-zweite-nakba.html

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

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„Selbst Krieg hat Regeln“, sagte der UN-Generalsekretär dem Sicherheitsrat und fordert alle Parteien im Nahen Osten auf, das humanitäre Völkerrecht zu achten und eine uneingeschränkte Hilfe für Gaza aufrechtzuerhalten

Es folgen die Bemerkungen des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres vor der offenen Debatte des Sicherheitsrates über den Nahen Osten in New York am 24.Oktober:

Die Lage im Nahen Osten wird von Stunde zu Stunde immer schlimmer. Der Krieg in Gaza tobt und droht sich in der gesamten Region zu verschärfen. Spaltungen zersplittern Gesellschaften. Die Spannungen drohen überzukochen. In einem entscheidenden Moment wie diesem ist es wichtig, über Prinzipien klar zu sein - beginnend mit dem Grundprinzip, Zivilisten zu respektieren und zu schützen. Ich habe die schrecklichen und beispiellosen Terrorakte der Hamas in Israel vom 7. Oktober unmissverständlich verurteilt.

Nichts kann die vorsätzliche Tötung, Verletzte und Entführung von Zivilisten oder den Raketenabschuss gegen zivile Ziele rechtfertigen. Alle Geiseln müssen menschlich behandelt und sofort und ohne Bedingungen freigelassen werden. Ich nehme die Anwesenheit ihrer Familienmitglieder unter uns zur Kenntnis.

Es ist auch wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht in einem luftleeren Raum stattgefunden haben. Das palästinensische Volk wurde 56 Jahre erstickender Besatzung ausgesetzt. Sie haben gesehen, wie ihr Land ständig von Siedlungen verschlungen und von Gewalt geplagt wurde; ihre Wirtschaft erstickt; ihre Menschen vertrieben und ihre Häuser abgerissen. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung ihrer Not sind verschwunden.

Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die entsetzlichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese entsetzlichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.

Auch Krieg hat Regeln. Wir müssen verlangen, dass alle Parteien ihre Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht erfüllen und respektieren; ständige Sorgfalt bei der Durchführung militärischer Operationen, um Zivilisten zu verschonen; und Krankenhäuser zu respektieren und die Unverletzlichkeit von UN-Einrichtungen zu respektieren, die heute mehr als 600.000 Palästinenser beherbergen. Die unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens durch israelische Streitkräfte, das Ausmaß der zivilen Opfer und die umfassende Zerstörung von Vierteln nehmen weiter zu und sind zutiefst alarmierend.

Ich trauere und ehre die Dutzenden von UN-Kollegen, die für das UNRWA arbeiteten und bei der Bombardierung von Gaza in den letzten zwei Wochen getötet wurden. Ich bin ihren Familien meine Verurteilung dieser und vieler anderer ähnlicher Morde schuldig.

Der Schutz der Zivilbevölkerung steht in jedem bewaffneten Konflikt an erster Stelle. Der Schutz von Zivilisten kann niemals bedeuten, sie als menschliche Schutzschilde zu verwenden. Der Schutz der Zivilbevölkerung bedeutet nicht, mehr als 1 Million Menschen in den Süden zu evakuieren, wo es keinen Schutz, keine Nahrung, kein Wasser, keine Medikamente und keinen Treibstoff gibt, und dann den Süden selbst weiter zu bombardieren. Ich bin zutiefst besorgt über die klaren Verletzungen des humanitären Völkerrechts, die wir in Gaza erleben. Um es deutlich zu sagen: Keine Partei eines bewaffneten Konflikts steht über dem humanitären Völkerrecht.

Glücklicherweise kommt endlich eine gewisse humanitäre Hilfe nach Gaza. Aber es ist ein Tropfen Hilfe in einem Ozean der Not. Darüber hinaus wird unsere UN-Kraftstofflieferungen in Gaza innerhalb weniger Tage auslaufen. Das wäre eine weitere Katastrophe. Ohne Treibstoff kann die Hilfe nicht geliefert werden, Krankenhäuser haben keinen Strom, und Trinkwasser kann nicht gereinigt oder sogar gepumpt werden. Die Menschen in Gaza brauchen eine kontinuierliche Hilfslieferung auf einem Niveau, das den enormen Bedürfnissen entspricht. Diese Hilfe muss ohne Einschränkungen geleistet werden. Ich grüße unsere UN-Kollegen und humanitären Partner in Gaza, die unter gefährlichen Bedingungen arbeiten und ihr Leben riskieren, um den Bedürftigen Hilfe zu leisten. Sie sind eine Inspiration.

Um das epische Leid zu lindern, die Hilfe zu erleichtern und die Freilassung von Geiseln zu erleichtern, bekräftige ich meinen Aufruf zu einem sofortigen humanitären Waffenstillstand. Selbst in diesem Moment der ernsten und unmittelbaren Gefahr können wir die einzige realistische Grundlage für einen echten Frieden und Stabilität nicht aus den Augen verlieren: eine Zwei-Staaten-Lösung. Die Israelis müssen sehen, dass ihre legitimen Sicherheitsbedürfnisse verwirklicht werden, und die Palästinenser müssen ihre legitimen Bestrebungen nach einem unabhängigen Staat im Einklang mit den Resolutionen der Vereinten Nationen, dem Völkerrecht und früheren Abkommen verwirklichen.

Schließlich müssen wir uns über das Prinzip der Aufrechterhaltung der Menschenwürde im Klaren sein. Polarisierung und Entmenschlichung werden durch einen Tsunami der Desinformation angeheizt. Wir müssen den Kräften des Antisemitismus, der antimuslimischen Bigotterie und aller Formen von Hass die Stirn bieten. Heute ist der Tag der Vereinten Nationen, der 78 Jahre seit dem Inkrafttreten der UN-Charta stattfindet. Diese Charta spiegelt unser gemeinsames Engagement wider, um Frieden, nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte zu fördern. An diesem UN-Tag appelliere ich zu dieser kritischen Stunde an alle, sich vom Abgrund zurückzuziehen, bevor die Gewalt noch mehr Menschenleben fordert und sich noch weiter ausbreitet.
- https://press.un.org/en/2023/sgsm22003.doc.htm - Firefox-Übersetzung (bearbeitet)

Hier noch ein treffender Kommentar, der sich auf die Aussagen von Gueterres und die Rolle der UNO bezieht:
"Die Ideologie der ultraorthodoxen jüdischen Rechten und der islamistischen Hamas sind Brüder im Geiste, auch wenn sie Erzfeinde sind. Der Gedanke, dass Völkerverständigung oder auch nur Kompromisse möglich seien, liegt für sie außerhalb des luftleeren Raums. Im Vakuum ihres Autismus, gegen Realität sorgsam abgeschottet, könnten sie eigentlich fusionieren. Die israelische Rechte, die Hamas und auch die Hisbollah, sie könnten sich so gesehen verbünden: zu einem Feldzug gegen die Vereinten Nationen. Fußvolk für eine solche Schlacht fände sich überall."
- Hans-Peter Waldrich