#politik #partei #geschichte #diegruenen #doppelmoral #bellizismus #menschenrechtsimperialismus #verachtung #klassenkampf-von-oben
Die Grünen sind sich treu geblieben
Ukraine, Bürgergeld, Lützerath: Haben die Grünen ihre Ideale verraten? Nein! Sie führen einfach nur die Logik ihrer Weltanschauung fort. Über eine Partei, die ihre moralischen Strategien gekonnt einer veränderten Welt angepasst hat (von Christian Baron)
Im November 1992 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Verriss des Buches Die Linke nach dem Sozialismus von Joseph Martin – genannt: Joschka – Fischer (Grüne). Die Rezension gipfelte in der rhetorischen Frage: „Was sollen wir eigentlich von der Urteilsfähigkeit eines Politikers halten, der dem verdutzten Publikum nunmehr die Positionen des politischen Gegners als neueste Einsichten anpreist?“ Autor dieser Besprechung: Alexander Gauland. Der politische Gegner, das war die CDU, deren Mitglied Gauland damals noch war. Wie kam er auf die Idee, der Grüne Fischer vertrete nun konservative Positionen?
In besagtem Buch wetterte Fischer nur zwei Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung gegen „Etatismus“ und „Utopieverfallenheit“. Die Linke, schrieb er, könne nur ohne den Marxismus überleben. Es war die Phase, in der die Grünen sich erneuerten. 1991 war die prominente Parteilinke Jutta Ditfurth ausgetreten; im Oktober 1992 starb Petra Kelly, die bekannteste Linke bei den Grünen. Die „Realos“ um Fischer und seinen Freund Daniel Cohn-Bendit hatten nun das Sagen. Nach der Bundestagswahl 1998 wurden die Grünen zum Juniorpartner einer Koalition mit der SPD unter Kanzler Gerhard Schröder. Fischer übernahm den Posten des Außenministers für eine Partei, die wenige Jahre zuvor noch den Austritt der BRD aus der Nato gefordert hatte.
Lützerath und Neun-Euro-Ticket
Heute unterstützt keine Partei so vehement wie die Grünen die Lieferung möglichst vieler offensiver Waffen in die Ukraine, obwohl noch im Bundestagswahlkampf 2021 auf ihren Plakaten stand: „Keine Waffenlieferungen in Kriegsgebiete!“ Im Dezember 2022 stimmte kein einziges Mitglied der grünen Bundestagsfraktion gegen den Kohlekompromiss. Teil dieses Deals war auch die im Januar 2023 erfolgte Räumung des Dorfes Lützerath im Auftrag des Konzerns RWE, der im Rheinischen Revier noch mindestens ein Jahr lang Braunkohle abbauen will. Zudem gab es vonseiten der Grünen keine Initiative, um das Neun-Euro-Ticket weiterzuführen, das armen Menschen zumindest kurzzeitig das Recht auf Mobilität gewährte. Haben die Grünen also ihre Ideale verraten, wie man es oft hört und liest? Das könnte man meinen. Womöglich jedoch ist es nicht ganz so einfach.
Als Kanzler Olaf Scholz (SPD) vor einigen Wochen der Lieferung von Kampfpanzern der Bundeswehr an die Ukraine noch nicht zugestimmt hatte, geschah auf Twitter etwas, das sogar für dieses Krawallmedium erstaunlich verroht wirkte. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Sara Nanni forderte in einem mittlerweile gelöschten Tweet: „Free the leopards! Just do it!“ Auf dem im selben Post veröffentlichten Selfie trug sie ein Oberteil in Leopardenmuster. Das Kleidungsstück war bestückt mit dem Logo jenes US-amerikanischen Sportartikelherstellers, dessen Werbespruch „Just do it!“ lautet.
Nannis Fraktionskollegin Katrin Göring-Eckardt antwortete: „Soo cool!“ Als Scholz umgefallen war, jubelte Göring-Eckardt: „The Leopard’s freed!“ (Der Leopard ist befreit). Panzer als Kätzchen? Bombenstimmung, wenn deutsches Kriegsgerät wieder gegen Russland zu Felde zieht? Und kein Wort darüber, dass es sich um Waffen handelt, die einzig zur Auslöschung von Menschenleben gebaut wurden?
Gerechte Kriege
Es sind exemplarische Geschmacklosigkeiten, die bei jeder anderen Partei zu Shitstorms führen würden. Die Grünen bringt so etwas bei der eigenen Kernklientel nicht in Misskredit. Die Umfrageergebnisse sind stabil oder verbessern sich sogar. Auch hier liegt falsch, wer meint, den Grünen werde einfach jeder Fehltritt verziehen. Der elektorale Erfolg deutet darauf hin, dass die Stammwählerschaft die Grünen nicht als „kleineres Übel“ betrachtet, sondern in ihnen die einzige politische Kraft sieht, die sich treu bleibt. Wie erklärt sich das bei einer Partei, die 1981 in ihrem Friedensmanifest den Einsatz der Bundeswehr selbst für den Fall ablehnte, dass Deutschland militärisch angegriffen würde?
Aus Fischers Sicht war mit dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr eines Atomkriegs gebannt. Nach dem Regierungsantritt 1998 setzte sich bei den Grünen die Auffassung durch, dass es gerechte Kriege gäbe. Es waren SPD und Grüne, die Deutschland zum ersten Mal seit 1945 wieder in einen Krieg führten. Die Nato-Streitkräfte begannen am 20. März 1999 mithilfe einer Lüge (man erinnere sich an den zu Nato-Kriegszwecken erfundenen „Hufeisenplan“) mit Luftangriffen auf Jugoslawien. In 78 Kriegstagen warf die Nato 9.120 Tonnen Bomben ab und flog 38.000 Lufteinsätze, wie Jutta Ditfurth in ihrem 2011 erschienenen und bis heute lesenswerten Buch Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen schrieb: „Menschen starben auf Wiesen, in Häusern, in Zügen, auf der Flucht, in Krankenhäusern, Fabriken, Studentenwohnheimen und Schulen. Man nannte die Toten ,Kollateralschäden‘ eines Krieges aus ,humanitären Gründen‘.“
Die Nato und Auschwitz
Darin besteht der Markenkern der Grünen: Sie schenken ihren Sympathisanten das wohlige Gefühl der moralischen Überlegenheit. Seien Konflikte auch noch so komplex; die Grünen haben immer eine Erzählung parat, die sich in das Gut-gegen-Böse-Schema eines Hollywoodfilms fügt. Vor der Nato-Attacke auf Jugoslawien trieb Fischer dies auf die Spitze, als er die deutsche Beteiligung am Bombardement mit dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begründete: „Ich habe gelernt: nie wieder Krieg. Aber ich habe auch gelernt: nie wieder Auschwitz!“
Anderntags ergänzte er: „Wir führen keinen Krieg. Wir leisten Widerstand, verteidigen Menschenrechte, Freiheit und Demokratie.“ Als Fischers Nachfolgerin und Parteifreundin Annalena Baerbock kürzlich in Bezug auf den Ukrainekrieg sagte, „wir“ kämpften einen Krieg gegen Russland, setzte sie diese Logik fort. Sie erklärte ihr Land zur Kriegspartei in einem Konflikt, in dem Deutschland und die Ukraine angeblich „im selben Boot“ sitzen im „Kampf um die Freiheit“.
Wie 2004 bei der „Agenda 2010“
Lauter als alle anderen politischen Akteure, und im Einklang mit den vorherrschenden deutschen Medien, diffamierten die Grünen zuletzt auch die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte Kundgebung „Aufstand für Frieden“ in Berlin vom 25. Februar, die einen Verhandlungsfrieden zwischen Russland und der Ukraine forderte. Unter den Zehntausenden am Brandenburger Tor befanden sich, wie bei vielen Ein-Thema-Demonstrationen, auch einige Rechtsextreme. Das grüne Spitzenpersonal sah trotz Distanzierung der Initiatorinnen eine „rechtsoffene“ Veranstaltung, manche halluzinierten sogar eine „Querfront“ herbei.
Das weckt Erinnerungen an die Proteste gegen die „Agenda 2010“ aus dem Jahr 2004. Vor allem im Osten des Landes protestierten viele Menschen gegen den durch SPD und Grüne durchgesetzten Sozialstaatsabbau. Katrin Göring-Eckart, damals Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, bewies in der Boulevardzeitung B. Z. einen Hang zu alternativen Fakten, als sie eine Allianz aus PDS und der rechtsextremen DVU ersann: „Irgendwie passt das. Die PDS hat als Erbe aus ihrer SED-Zeit eine sehr autoritäre Struktur. Man kann sich vorstellen, dass die beiden Parteien kulturell keine großen Gräben zu überwinden haben.“
Um den Sieg der westlich-kapitalistischen Demokratie (die im Verständnis der Grünen die objektiv beste aller möglichen Welten ist) gegen die „Barbarei“ (also jede davon abweichende Staats- und Regierungsform) ging es vorgeblich auch im Jahr 2001, als Deutschland sich am Angriffskrieg gegen Afghanistan beteiligte. Hier lautete das Argument, man wolle Brunnen und Mädchenschulen bauen. Jahrelang weigerten sich die Grünen (wie CDU/CSU, FDP und SPD), von einem Krieg zu sprechen. Der Herrschaftsbegriff hieß „humanitäre Intervention“, was die exakte westliche Entsprechung war zu Putins aktuellem Propagandabegriff der „militärischen Spezialoperation“. Wie wenig an dieser „Intervention“ humanitär war, offenbarte später die Enthüllung zahlreicher Kriegsverbrechen. Offengelegt hatte viele davon die Plattform WikiLeaks, deren Gründer Julian Assange seit Jahren in Folterhaft sitzt, weil er seiner Arbeit als Journalist nachgegangen ist.
„Besser Doppelmoral als keine Moral“
Weder die alten „Realos“ noch die jungen Bundestagsabgeordneten der Grünen setzen sich für die Freilassung von Assange ein. Derweil prangern sie zu Recht die Haftbedingungen des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny an. Ähnliches gilt auch für jene Grünen-Abgeordneten, die sich als Aktivistinnen in Lützerath inszenierten, im Bundestag jedoch nicht gegen die Räumung des Camps stimmten. Auf den Vorwurf der Doppelmoral antwortete Grünen-Mitglied Luisa Neubauer kürzlich in einem Podcast: „Besser Doppelmoral als gar keine Moral.“
Genau das ist Teil des politischen Kalküls der Grünen. Die Kritik trifft sie nicht, weil sie sich der Zustimmung ihrer Klientel sicher sein können. Die sieht zum einen den Kampf gegen die Klimakatastrophe als individuelle Aufgabe (weniger Fleisch essen anstatt Ende der Massentierhaltung; bestimmte Heizungen verbieten anstatt Enteignung von RWE und Co.). Zum anderen sieht sie in der Nato eine Schutzmacht der „westlichen Werte“, bei der man im Namen der Freiheit aller Menschen – „mit Bauchschmerzen“ – auch mal beide Augen zudrücken müsse.
Das ist kein Verrat an alten Idealen, sondern die Anpassung einer moralischen Strategie in einer veränderten Welt, die der Politikwissenschaftler Georg Fülberth einmal so ausgedrückt hat: „Wer gestern Hamlet spielte, muss morgen den Franz Moor geben, wenn der Spielplan wechselt.“ Nicht gewechselt hat die Bühne, und auch das Publikum ist gleich geblieben.
Gutsituierter Mittelstand
Dieses Bild passt sehr gut, weil das klassische Theaterpublikum und die Wählerschaft der Grünen vor allem aus finanziell sehr gut abgesicherten Menschen bestehen. Der Satiriker und Schriftsteller Christian Y. Schmidt hat diese Gruppe in seinem Standardwerk Wir sind die Wahnsinnigen. Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang treffend charakterisiert: „Sie sind Angehörige eines neuen, gutsituierten Mittelstands, die schon längst keine Veränderung der Verhältnisse mehr wollen, weil die ihnen, so wie sie sind, angenehm sind.“
Die Soziale Frage hat bei den Grünen immer nur eine Nebenrolle gespielt. Darum zeigen sie sich bei keinem anderen Thema derart unbeeindruckt von Kritik. Die „Agenda 2010“ hat bislang nur der SPD geschadet. Dass aktuell bei dem in „Bürgergeld“ umbenannten Hartz ΙV noch nicht einmal die Sanktionen abgeschafft wurden, dürfte keinem Grünen ein schlechtes Gewissen bescheren.
Wie ihre Stammklientel, so pflegen auch die Parteigranden ihre Vorurteile gegenüber Menschen, die in Armut leben. Kurz bevor er Wirtschaftsminister wurde, antwortete Robert Habeck in einem ARD-Interview auf die Frage, ob der Staat den Bedürftigen die Heizkosten finanzieren solle: „Vollständige Übernahme lädt immer dazu ein, dass man dann die Heizung aufdreht und das Fenster aufmacht sozusagen.“ Die Armen sind demnach verschwenderisch. Von Natur aus. Sozusagen. Auch in dieser Hinsicht bleibt der moralische Kompass der Grünen also eingenordet. So verlässlich ist derzeit wirklich keine andere Partei.
- https://www.freitag.de/autoren/cbaron/die-gruenen-sind-sich-treu-geblieben