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Kiew spielt Vabanque

Jeder Versuch, die ukrainischen Atomforderungen zur Folge des russischen Angriffs zu erklären, vertauscht Ursache und Wirkung. (Von Reinhard Lauterbach)

Ist die ukrainische Führung verrückt geworden? Eine Rückkehr ihres Landes zum Status einer Atommacht in den Raum zu stellen, weil die 1994 abgegebenen Sicherheitsgarantien des »Budapester Memorandums« nicht eingehalten wurden und, wie Botschafter Olexij Makejew der Deutschen Welle sagte, nur der Besitz nuklearer Waffen vor »einem Aggressor wie Russland« schütze?

Die Antwort lautet: Nein, verrückt sind sie nicht in Kiew. Sie folgen der Logik des Stellvertreterkrieges, auf den sich die Ukraine eingelassen hat. Jawohl, eingelassen. Denn zum ersten Mal war das Thema Rückkehr zum Status als Nuklearmacht kurz vor Kriegsbeginn öffentlich zur Sprache gebracht worden: am 19. Februar 2022 auf der Münchener »Sicherheitskonferenz« durch Wolodimir Selenskij. Jeder Versuch, die ukrainischen Atomforderungen zur Folge des russischen Angriffs zu erklären, vertauscht Ursache und Wirkung. Selenskijs Ruf nach der Bombe war zumindest in Wladimir Putins öffentlicher Begründung eines der prominenten Argumente für die Einleitung der »Spezialoperation«. Und selbst wenn der Beschluss zum Krieg in Russland schon länger herangereift sein mag, muss man Selenskij bescheinigen, mit seiner Forderung eine Steilvorlage für seine Auslösung geliefert zu haben. Wollte er das vielleicht sogar?

Mit der Thematisierung des Budapester Memorandums präsentierte Selenskyj Moskau eine unerfreuliche Überraschung, die von den russischen Medien am Sonntag sichtlich irritiert aufgegriffen wurde: Der ukrainische Präsident stellte einen Ausstieg seines Landes aus dem Budapester Memorandum in den Raum. Ein solcher Schritt würde bedeuten, dass die Ukraine wieder Atomwaffen besitzen könnte. (BZ, 20.02.2022)

Oder wollten es die USA? Russland in diesen Krieg auf ukrainischem Boden verwickeln? Es fällt auf, dass das ganze Jahr seit Selenskijs Auftritt in München aus Washington kein kritisches Wort über dessen atomare Ambitionen zu hören war. So dass man mit hinreichender Gewissheit vermuten kann, dass sein Auftritt abgesprochen war. Zumal der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow zuletzt Ende Januar gegenüber dem Pariser Figaro zugab, dass Kiew von Anfang an das volle Waffenprogramm aus dem Westen gewollt habe – nur habe man aus taktischen Gründen erst einmal mit den reinen Defensivwaffen anfangen müssen.

Dass Botschafter Makejew die Forderung nach den Atomwaffen jetzt wieder aufgewärmt hat, fügt sich in diese Logik der Erpressung ein: Die ukrainische Führung weiß nur zu gut, dass ihr die Mittel fehlen, aus eigener Kraft aus ihrem Land die regionale Großmacht zu machen, die zu sein sie anstrebt. Sie wiederholt es mit jeder Beschwörung, für ihr Überleben noch mehr westliche Waffen zu benötigen. Also musste die Ukraine einerseits ihre geographische Lage an Russlands Südwestgrenze meistbietend verkaufen – das ist ihr gelungen. Was Makejew jetzt gesagt hat, entwickelt das Argument des stellvertretend Verheizten weiter: Wenn wir schon für euch (»gemeinsame Werte«) Krieg führen und draufgehen, dann stattet uns auch so dafür aus, dass wir kämpfen können, wie ihr es könntet. Der Unterschied: Für die Ukraine geht es in diesem Krieg ums Ganze. Für die USA nicht. Washington kann immer noch zurück, wenn sich seine Kalkulationen ändern sollten. Kiew nicht mehr.
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