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Warum ein nationaler Konflikt, wie der in der Ukraine nicht über den Sieg des Stärkeren beendet werden kann und was die griechische Tragödie damit zu tun hat:
In seinem unlängst erschienen Buch „The Tragedy of Ukraine: What Classical Greek Tragedy Can Teach Us about Conflict Resolution“ (Die Tragödie der Ukraine: Was uns die klassische griechische Tragödie über Konfliktlösung lehren kann) untersucht der Politikwissenschaftler Nicolai Petro die mehr als 150-jährige Geschichte des destabilisierenden Konflikts in der Ukraine. Er argumentiert auch, dass der gegenwärtige Krieg zwischen der Ukraine und Russland tiefe Wurzeln in diesem internen Konflikt hat, der in der Geschichte bereits dreimal zu bewaffneten Zusammenstößen geführt hat.
„Ich war beunruhigt darüber, wie schwierig es für die Menschen war, miteinander auszukommen“, sagt er. „Ich habe nicht verstanden, warum es so viel gegenseitigen Hass im Land gab. Ich versuchte, diese Spaltungen zu verstehen, die unter ukrainischen Fachleuten weithin akzeptiert waren. Wenn man über die Ukraine schrieb, war immer von ihnen die Rede. Dann kommt noch die Frage hinzu, warum es zu einem militärischen Konflikt kam. Aber wenn man in der Geschichte zurückgeht, sieht man, dass auch das nicht ungewöhnlich ist. Schon viermal gab es zwischen der Ost- und der Westukraine Kämpfe mit vielen Toten. Dies ist das vierte Mal.“
Petro schlägt vor, dass die klassische griechische Tragödie einen Weg zur Überwindung des Bürgerkonflikts bieten könnte.
Was ist die „Therapie“ der klassischen griechischen Tragödie und wie kann sie nationale Spaltungen heilen?
Für die Griechen resultiert die Tragödie aus der Unfähigkeit des Einzelnen zu erkennen, wie sehr seine eigenen Handlungen zu seiner gegenwärtigen Lage beigetragen haben. Indem sie die Schrecken, die aus dem unnachgiebigen Streben nach Rache resultieren, auf der Bühne nachstellten, versuchten die griechischen Dramatiker, das Publikum zur Katharsis zu führen, einer Reinigung der Emotionen, die so stark ist, dass sie es ermöglicht, dass Mitleid und Mitgefühl in die Seele eindringen und an die Stelle der Wut treten. Aristoteles war der Meinung, dass die Katharsis den Einzelnen und die Gesellschaft von der endlosen Wiederholung eines tragischen Dramas befreien könnte.
Da die Inszenierung dieser Stücke von der herrschenden Elite gesponsert wurde und die Teilnahme der gesamten erwachsenen Bevölkerung als Bürgerpflicht galt, sehe ich die Tragödie als Teil der Therapie, mit der die Gesellschaft vom Trauma des Krieges geheilt werden sollte.
Was sind die internen Konflikte in der Ukraine und inwiefern ähneln sie der Tragödie?
Einfach ausgedrückt: Der Konflikt innerhalb der Ukraine rührt von der Weigerung des Staates her, die „andere Ukraine“ – das Drittel der Bevölkerung, das seine eigene russische kulturelle Identität als mit einer ukrainischen staatsbürgerlichen Identität vereinbar betrachtet – als legitimen Teil der ukrainischen Nation anzuerkennen. Infolgedessen hat die Regierung die russische Sprache und Kultur systematisch unterdrückt. Da diese für einen großen Teil der Bevölkerung heimatverbunden sind, hat diese Politik in der Vergangenheit erheblichen Widerstand hervorgerufen.
Dieser tragische Kreislauf wird durch die destruktiven Narrative genährt, die jede Seite über die andere erzählt und die dann zur Rechtfertigung von Konflikten im Namen der Gerechtigkeit verwendet werden. Da beide Seiten darauf beharren, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu korrigieren, bevor sie in einen Dialog eintreten, haben sie unwissentlich dazu beigetragen, dass ihre gegenseitige Tragödie fortbesteht. Die heutigen tragischen Ereignisse sind somit Teil eines größeren tragischen Kreislaufs, der die ukrainischen politischen Eliten seit einem Jahrhundert in Atem hält.
Wie haben diese Spaltungen zum anhaltenden Krieg mit Russland beigetragen?
Der gegenwärtige Krieg ist nur der jüngste in einer Reihe von Konflikten, die diese Region der Welt heimgesucht haben. Dazu gehören: die Großmachtrivalität zwischen Russland und dem Westen, der Konflikt zwischen den russischen und ukrainischen Eliten und schließlich der Konflikt innerhalb der Ukraine selbst über ihre eigene nationale Identität, ihre Beziehung zu Russland und ihre Rolle in der Welt. Es ist, kurz gesagt, ein Konflikt darüber, wer die ukrainische Identität definieren darf.
Für viele in der Westukraine (Galizien) bedeutet ukrainisch zu sein, alles Russische abzulehnen – Sprache, Religion, Handel, Ressourcen, Wissenschaft, Musik, Bücher – alles. Erst wenn sich die Ukraine auf diese Weise „entkolonialisiert“ hat, wird die wahre Ukraine zum Vorschein kommen können. Während der Maidan-Revolution 2014 bezeichneten sie dies als eine „zivilisatorische Entscheidung“.
Für viele Menschen in der Ostukraine (Malorossija) bedeutet Ukrainer zu sein jedoch, die historischen und kulturellen Bindungen des Landes an Russland zu pflegen. Die meisten Menschen in dieser russophilen Hälfte der Ukraine empfanden die Forderung nach einer zivilisatorischen Entscheidung als unnötig, spaltend und erniedrigend. Dieser Konflikt zwischen den Visionen über die Vergangenheit und die Zukunft der Ukraine hat mindestens vier Mal zu bewaffneten Konflikten innerhalb der Ukraine geführt – während des Ersten Weltkriegs, während des Zweiten Weltkriegs, nach dem Maidan 2014 und jetzt wieder im Jahr 2022.
Was ist Ihrer Meinung nach der Weg zu einer Lösung des Konflikts?
Obwohl ein Friedensabkommen den Konflikt vorübergehend dämpfen kann, wird es keine dauerhafte Lösung geben, solange nicht auch die Kernfragen dieses Konflikts angegangen werden.
Die derzeitige Situation mag hoffnungslos erscheinen, aber wenn wir die therapeutische Rolle der Tragödie verstehen, können wir erkennen, dass der Schlüssel zur Durchbrechung des Kreislaufs darin liegt, den gesellschaftlichen Diskurs weg vom Streben nach Rache (oft fälschlicherweise als „Gerechtigkeit“ bezeichnet), hin zum Ziel des Aufbaus einer Gesellschaft zusammen mit den ehemaligen Feinden zu bringen. Damit dies in der Ukraine geschehen kann, müsste die Regierung drei Postulate annehmen:
Erstens, dass ein russophiler Ukrainer zu sein nicht bedeutet, anti-ukrainisch zu sein. Die griechische Tragödie lehrt uns, dass man, um soziale Harmonie zu erreichen, bereit sein muss, seinen Feind mit der gleichen Ehre zu behandeln, die man für sich selbst anstrebt. Diese Binsenweisheit beruht nicht auf einer moralischen Abstraktion, sondern auf dem praktischen Kalkül, dass faire und gleiche Behandlung die verbindlichste aller sozialen Bindungen ist.
Zweitens: Russland zu bestrafen bedeutet nicht, die Ukraine zu heilen. Es ist ein Axiom der internationalen Politik, dass kein Land jemals dadurch zu Wohlstand gekommen ist, dass es sich einen mächtigeren Nachbarn zum Feind gemacht hat. Außerdem verlieren Länder, die von ihrer nationalen Identität und Sicherheit besessen sind, oft beides.
Drittens kann die soziale Harmonie in der Ukraine nur von den Ukrainern selbst hergestellt werden. Externe Akteure haben ihre eigene Agenda, die selten, wenn überhaupt, mit den Interessen der Ukraine übereinstimmen wird. Um eine dauerhafte soziale Harmonie herzustellen, müssen die Ukrainer ihre Angst vor ihrer eigenen Vielfalt überwinden und bereit sein, sich auf ihre gesamte Geschichte und Kultur zu berufen, sowohl auf die galizische als auch auf die malorossische.
Wie kann die tragische Therapie eine Rolle spielen?
Indem sie die Aufmerksamkeit auf die wahre Bedeutung von Gerechtigkeit – nämlich Barmherzigkeit – lenkten, anstatt sich mit Rache zu begnügen, hofften die griechischen Dramatiker, die Wiederholung des Zyklus der Tragödie zu verhindern.
Doch während die athenische Polis so klein war, dass sie fast jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft in ihre Rituale einbeziehen konnte, gibt es heute keinen Mechanismus, der diese Funktion erfüllen könnte. Ein vergleichbares Verfahren gibt es jedoch seit mehr als 40 Jahren und wurde in über 50 Ländern eingeführt – Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.
Wie die griechischen Tragödien der Vergangenheit arbeiten solche Kommissionen daran, tiefe soziale Traumata zu heilen und eine soziale Versöhnung herbeizuführen, indem sie fesselnde emotionale Zeugnisse von allen Seiten zusammentragen und öffentlich zur Schau stellen. Dies führt die Öffentlichkeit zu einer Katharsis – einer Läuterung des gegenseitigen Hasses, die es der Gesellschaft ermöglicht, zu heilen, indem sie dem einst feindlichen Anderen seine Menschlichkeit zurückgibt.
Die wichtigste Lektion der Tragödie ist jedoch, dass das Streben nach einem totalen Sieg über die eigenen Feinde nur zu neuen Konflikten führen kann. Der tragische Kreislauf in der Ukraine wird daher enden, wenn die Ukrainer erkennen, dass der wahre Sieg der Sieg des Mitgefühls und der Würde über den Hass ist, so dass alle Ukrainer, unabhängig von Religion, Sprache oder kulturellem Erbe, als unverzichtbar für die ukrainische Nation angesehen werden.
Das Gespräch ist im englischen Original in den News der University of Rhode Island erschienen.
- https://www.uri.edu/news/2022/12/uri-professors-new-book-looks-at-internal-divisions-in-ukraine-that-contributed-to-current-conflict-with-russia/
Nicolai Petro, Professor für Politische Wissenschaft an der University of Rhode Island (USA), hat in den letzten 10 Jahren an dem Buch gearbeitet und dabei ukrainische Zeitungen und Medienseiten nach Originalquellen für die Chronik der Tragödie durchsucht. (Das Buch enthält mehr als tausend Fußnoten.)
In den Jahren 1989 und ’90 war er als International Affairs Fellow für den Council on Foreign Relations tätig und arbeitete als Special Assistant im Office of Soviet Union Affairs im US-Außenministerium. Außerdem war er als politischer Attaché an der US-Botschaft in Moskau tätig und beobachtete Kommunalwahlen in Russland, Weißrussland und Lettland. Später arbeitete er privat als Berater für das kommunale Forschungs- und Ausbildungszentrum Dialog und war Berater des Bürgermeisters der russischen Stadt Novgorod. In den Jahren 1996-97 hielt er eine Fulbright-Dozentur in Russland ab.
Seit 2008, als er von der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew eingeladen wurde, einen Vortrag zu halten, besucht er fast jährlich die Ukraine und reist durch das ganze Land. Im Jahr 2010 hielt er einen Vortrag an der V. N. Karazin Nationalen Universität in Charkow und 2013-14 forschte er im Rahmen seines Fulbright-Stipendiums über die orthodoxe Kirche in der Ukraine. Petro wird von nationalen und internationalen Medien häufig als Experte für Russland und die Ukraine zitiert und hat in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften in den USA und Russland veröffentlicht.