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Ukraine-Krieg: Es gibt heute erst recht keine Gnade der späten Geburt

Aus der sicheren Distanz ihrer Bundestagsbüros propagieren Politiker, ohne jegliche militärische Gewalterfahrung, Gewaltlösungen. Dabei vergessen sie, dass Gewalterfahrung Gesellschaften so prägen kann, dass sie lange davon gezeichnet sind (von Ingar Solty)

(Anm.meinerseits: Das gilt ebenso für Schreibtischtäter:innen - ob es nun professionelle sind oder normale Vertreter:innen der Netzgemeinde mit ihrem Gratismut sind -, die mit ihren digitalen Endgeräten Waffenlieferungsforderungen und Endsieglosungen veröffentlichen.)

Sowohl Russland als auch die Ukraine foltern Kriegsgefangene, teilt das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit. Wer dazu die Nachricht über die grauenhafte Ermordung des durch einen Gefangenenaustausch ausgelieferten russischen Deserteurs Jewgenij Nuschin liest, ist erschüttert. Der weiß zugleich um die peinigende Wahrheit: Das ist der verdammte Krieg! Der ahnt vielleicht auch: Menschen, die nur das Kriegshandwerk gelernt haben und die vom Krieg leben, wie Bertolt Brechts Mutter Courage im Dreißigjährigen Krieg, verschwinden nicht einfach, sobald die Kampfhandlungen vorbei sind. Sie leben weiter vom Krieg.

[...] Dabei tragen Kombattanten dieses Typs ihre Traumata und Brutalität nicht selten als Misanthropie und Misogynie, psychischen Defekt, als Kriminalität und sexualisierte Gewalt zurück in ihre Gesellschaft und Familien. Die Kriegs- und Gewaltforschung kann dies im Grunde allen Nachkriegsgesellschaften bescheinigen.

Nicht nur solcherart Kriegsversehrte sind latent vorhanden. Gleiches gilt für die Waffen, mit denen man diese armen Seelen für das gegenseitige Töten und Verstümmeln ausgerüstet hat. Sie versagen nach dem Ende von Kampfhandlungen nicht einfach – wie von Geisterhand gesteuert – ihren Dienst. Das zeigt beispielsweise der Verbleib deutscher Waffen, die 2014 an die Peschmerga in der nordirakischen Kurden-Region geliefert wurden und irgendwann IS-Verbänden in die Hände fielen. Tötungsinstrumente werden zu Zwecken verwendet, die der ursprüngliche Lieferant nicht mehr kontrollieren kann und lieber nicht mehr kontrollieren will. Sie dienen dazu, menschenverachtenden Ideologien Geltung zu verschaffen, sie begünstigen nicht selten sexuelle Gewalt. Wer Nachrichten über Formen der Sklaverei liest, wie sie in Libyen gestrandeten Migranten aus Afrika widerfährt, der denke zugleich an deutsche Waffenhersteller wie Heckler & Koch.

Die deutsche Ukraine-Politik prägt eine Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat, die nie durch Ruinen und Lumpen sammelnde oder Leierkasten spielende Kriegsversehrte daran erinnert wurde. Eine Generation, die in einer zivilisierten Gesellschaft aufwuchs, aus der Gewalt weitgehend verbannt wurde. Zum Glück wird heute niemand mehr, wie das vor 1945 geschehen konnte, bei Streiks oder Demonstrationen von der Polizei erschossen. Umso mehr kann man es nur paradox nennen, dass ausgerechnet Vertreter dieser Generation so nonchalant Gewaltlösungen aus der sicheren Distanz ihrer Schreibtische und Bundestagsbüros propagieren, weil sie offenbar nie erfahren oder verdrängt haben, was Gewalt ist und wie sie funktioniert.

[...] Eine grassierende Geschichtsvergessenheit in Bezug auf das, was Krieg aus Menschen macht, das Fehlen einer Debatte über die möglichen Konsequenzen und Dilemmata des eigenen Handelns, der teilweise demonstrative Unwille, den Ukrainekrieg vom Ende her zu denken, all das ist – selbst wenn man die herrschende Politik in ihrer Grundausrichtung für richtig hält, was der Autor nicht tut – erschreckend und lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
- vollständiger Artikel: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-ukraine-krieg-zeigt-es-gibt-heute-erst-recht-keine-gnade-der-spaeten-geburt