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Anders, als manche glauben machen wollen, ist das koloniale Zeitalter keineswegs Geschichte und eine ferne Epoche, die wie ein Stein zu Boden sinkt. Kolonialismus ist eine Realität im 21. Jahrhundert, mit der insbesondere die USA die Welt weiter bedrohen. So im Fall der Chagos-Inseln im Indischen Ozean. Wie unmenschlich und brutal die Politik dort ist, durfte ich kürzlich auf meiner Reise nach Mauritius erfahren. Ich war zu politischen Gesprächen unter anderem mit Vizepremier Louis Steven Obeegadoo, Außenminister Alan Ganoo und Parlamentspräsident Sooroojdev Phokeer. Besonders bewegend war das Treffen mit Olivier Bancoult, dem Vorsitzenden der Chagos Refugee Group, der Vereinigung der deportierten Bewohner der Chagos-Inseln.
Bevor Mauritius 1968 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde, war der Archipel auf Verlangen der USA abgetrennt und die koloniale Besetzung dort fortgesetzt worden. Mit dem Ziel, einen großen, geostrategisch wichtigen Militärstützpunkt mitten im Indischen Ozean einzurichten, der in der Folge zu einem Zentrum von Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden sollte. Denn für die völkerrechtswidrigen Kriege der US-Armee – etwa gegen den Irak –, die Bombardierungen Afghanistans und auch für CIA-Folterflüge diente der US-Stützpunkt Diego Garcia auf den Chagos-Inseln als Infrastruktur.
Die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Jahre der Dekolonisierung. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in der UN-Charta als Strukturprinzip internationaler Beziehungen verankert ist, konnte für immer mehr ehemalige Kolonien durchgesetzt werden. Die Dekolonisierung war eine Reaktion auf den entschiedenen Widerstand der unterworfenen Bevölkerungen gegen ihre Unterdrücker. Was die Chagos-Inseln angeht, wollte man deshalb von seiten der USA und Großbritanniens auf Nummer sicher gehen.
Um den Forderungen nach Dekolonisierung einen Riegel vorzuschieben, wurden in mehreren Wellen zwischen 1965 und 1973 alle Bewohner der Chagos-Inseln in einem verbrecherischen Akt gegen die Menschlichkeit auf Verlangen der USA verschleppt. Ohne Einwohner auf dem besetzten Gebiet, so das menschenverachtende Kalkül, würde auch niemand mehr da sein, der die Forderung nach einer Entkolonisierung überhaupt erheben könnte. So sollte für immer verhindert werden, dass der US-Militärstützpunkt durch Entkolonisierungsforderungen in Frage gestellt wird.
Die Bewohner der Chagos-Inseln wurden behandelt, als seien sie ein Stück Holz. In einem Akt von eliminatorischem Rassismus wurden sie wie Sklaven entfernt, »ein paar Tarzans oder Freitags«, wie der britische Diplomat Sir Denis Greenhill damals schrieb. Dieses Verhältnis der Sklaverei besteht bis heute.
Bis heute ist der deportierten Bevölkerung der Chagos-Inseln eine Rückkehr verboten. Olivier Bancoult, der bei seiner Deportation nach Mauritius vier Jahre alt war, fragte mich im Gespräch: »Warum sind selbst die Friedhöfe für die Hunde der US-Soldaten in meiner Heimat gepflegt, aber ich darf nicht einmal die verfallenden Gräber meiner Vorfahren besuchen?«
Die pseudorechtliche Absicherung der US-Militärbasis auf den Chagos-Inseln durch Abtrennung der Gebiete von Mauritius ging einher mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um Versuche einer Rückkehr der Bewohner abzuwehren, errichtete Großbritannien sogar das größte Meeresschutzgebiet der Welt, wo Menschen nur stören – mit Ausnahme der US-Soldaten und der Beschäftigten der US-Basis, versteht sich. So suchte man seit 2010 die Chagossianer mit dem zynischen Argument des Umweltschutzes fernzuhalten. Doch international scheiterte man damit, auf diese Art rechtliche Ansprüche abzuwehren.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in einem Gutachten vom Februar 2019 den Anspruch Großbritanniens auf den Archipel als völkerrechtswidrig eingestuft und die UN-Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, an der Dekolonisierung mitzuwirken. Bei einer Abstimmung in der UN-Generalversammlung im Mai 2019 lehnten sechs Länder eine entsprechende Resolution ab, darunter Großbritannien und die USA. Deutschland ist beschämenderweise den Weg der Enthaltung gegangen, statt an der Seite der großen Mehrheit der Staaten für die Dekolonisierung zu stimmen. Schlimmer noch, die Fregatte »Bayern« der Bundeswehr machte 2021 bei ihrem Einsatz im Indopazifik Halt vor Diego Garcia zum »Bunkerstopp«, zur Versorgung. »Wer auf eine regelbasierte Ordnung auf der Basis internationalen Rechts pocht und unter anderem mit dieser Zielsetzung in See sticht, muss sich auch selbst daran halten«, kritisierte seinerzeit die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin die Routenführung.
Es zeugt von Doppelmoral und doppelten Standards, dass im Fall der Chagos-Inseln das eklatante Verbrechen der Deportation in der perfiden Logik der Straflosigkeit für die USA und die NATO-Verbündeten keinerlei strafrechtliche Folgen nach sich zieht, obwohl die Täter sich sogar freimütig dazu bekennen, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Es lässt sich auch nicht dadurch heilen, dass aktuell Verhandlungen in Folge des IGH-Gutachtens über eine Rückkehr der Chagos-Inseln zu Mauritius zwischen London und Port-Louis stattfinden. Mit Doppelmoral und doppelten Standards wird nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit zerstört, man legt durch die Zerstörung der internationalen Rechtsordnung auch die Axt an die Fundamente kooperativer friedlicher internationaler Beziehungen und trägt dazu bei, das Zeitalter des Kolonialismus andauern zu lassen.
Die Bewohner der Chagos-Inseln müssen endlich zurückkehren können. Internationale Solidarität braucht es, damit die Geschichte der Entkolonisierung nicht durch die Schaffung neuer Befehlsverhältnisse wieder zurückgedreht werden kann. Militärbasen der USA als extraterritoriale Einrichtungen und Transformation kolonialer Besetzungen in die Gegenwart sollten der Vergangenheit angehören. Die Zeit des Kolonialismus muss endgültig ihr Ende finden.
- https://www.jungewelt.de/artikel/448711.kolonialismus-vertrieben-seit-50-jahren.html