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Blogbuch #91: „120 Tote – oder 130? Wir werden es nie erfahren.“

  • 23. April 2021 ### Bericht von Alessandro, Mitglied des Such- und Rettungsteams auf der Ocean Viking

„Mehr als 24 Stunden suchte die Ocean Viking nach zwei Booten in Seenot, die weit voneinander entfernt waren.

Von dem ersten konnten wir keine Spur finden und können nur hoffen, dass es entweder an Land zurückgekehrt ist oder die Menschen einen sicheren Ort erreicht haben.

Das zweite versuchten wir mitten in einem Sturm zu erreichen, bei Nacht und sechs Meter hohen Wellen.

Ich gebe gerne zu, dass ich einige Stunden im Badezimmer verbringen und mich übergeben musste. Die Mittel Promethazin und Dimenhydrinat und die Hälfte der letzten drei Jahre, die ich auf See verbracht hatte, konnten hier nicht helfen. Ich war erschöpft, dehydriert, schaffte es kaum zurück ins Bett. Und das, obwohl ich von einem mächtigen Schiff geschützt wurde, das mit tausenden von Tonnen an Gewicht den Wellen trotzt.

Draußen, irgendwo in denselben Wellen, war ein Boot mit 120 Menschen an Bord. Oder 100, oder 130. Wir werden es nie erfahren, denn sie sind alle tot.

Im Morgengrauen nahmen wir die Suche wieder auf, zusammen mit drei Handelsschiffen, ohne Koordination oder Hilfe von irgendeinem Staat. Wäre ein Flugzeug in derselben Gegend abgestürzt, wären die Seestreitkräfte von halb Europa vor Ort gewesen, aber es waren „nur Migrant*innen“. Sie ließen die Menschen auf dem Schlauchboot und uns allein.

Am Nachmittag entdeckte ein Frontexflugzeug das Wrack des Schlauchbootes. Als wir uns ihm näherten, trieb es in einem Meer von Leichen. Buchstäblich. Vom Boot war nicht mehr viel übrig und von den Menschen sind nicht einmal die Namen geblieben.

Machtlos hielten wir eine Schweigeminute ab, die an Land widerhallen sollte. Die Dinge müssen sich ändern, die Menschen müssen es erfahren.“

digitus@diasp.de

Geschlossene Häfen in Italien: Rom geht über Leichen - n-tv.de

https://www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Rom-geht-ueber-Leichen-article20538781.html

Jetzt droht Italien also auch damit, seine Häfen für Schiffe der EU-Operation "Sophia" zu sperren. Zumindest, wenn sie Flüchtlinge an Bord haben. Die Schiffe sollen auch andere Mitgliedstaaten anlaufen, nicht immer und immer wieder Italien, so die Argumentation Roms. Das klingt zunächst einleuchtend. Doch an Zynismus ist diese Argumentation kaum zu übertreffen.

Wer nur einen Blick auf die Landkarte wirft, sieht sofort: Italiens Vorschlag, dass die Schiffe bitte auch andere Häfen anlaufen sollen, lässt sich nur umzusetzen, wenn sie große Umwege in Kauf nehmen. Und Umwege kosten im Mittelmeer Menschenleben. Rom geht über Leichen.

Derzeit legen die meisten Flüchtlingsboote von Libyen aus ab, genauer gesagt von den Stränden rund um Tripolis. Die Hotspots tragen Namen wie Garabulli oder Zuwara und liegen im Nordwesten des Landes. Wenn die Menschen, die im Mittelmeer aus dem Wasser gerettet werden, nicht alle nach Italien gebracht werden sollen, wohin dann?

#seenotrettung #asyl #europa #politik #sophia #italien