#politik #wirtschaft #schulden #subventionen #doppelwums #energiepreiskrise #eu #brd #italien
- Von Heiner Flassbeck (Volkswirt und Publizist. Er arbeitete u. a. als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und als Chefvolkswirt der UNCTAD)
Die italienische Wahl vom 25. September, über deren Ergebnis viele scheinbar schockiert sind, reiht sich nahtlos ein in eine Serie von Wahlen, bei denen die Bürger ihre Frustration über die wirtschaftliche Lage im Allgemeinen und die Rolle der EU im Besonderen zum Ausdruck bringen. Erstaunlich ist nur, dass man in Deutschland nach jedem dieser Ereignisse so tut, als sei man erstaunt – bevor man wieder zur Tagesordnung übergeht.
Auf den Gedanken, auch die Bundesregierung könne ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die Frustration in weiten Teilen Europas so gewaltig ist, kann und will selbstverständlich niemand kommen. Berlin macht immer alles richtig, und wenn man Deutschland etwas vorwerfen kann, dann nur, dass es sich zu sehr zurücknimmt, statt die ihm eigentlich zukommende »Führungsrolle« in Europa zu übernehmen.
Die EU-Kommission profiliert sich gern als harter Kämpfer für die »europäischen Werte und Gesetze«, wenn es um relativ kleine mittel- und osteuropäische Länder und deren relativ kleine Verfehlungen geht. Die für Europas Schicksal entscheidende Verfehlung Deutschlands (und der Niederlande), die in den fortwährend viel zu großen Leistungsbilanzüberschüssen dieser beiden Nordländer zum Ausdruck kommt, ist ihr hingegen nicht die Rede wert. Auch zu den Folgerungen, die sich aus den deutschen Überschüssen zwingend für die staatlichen Schulden in Italien ergeben, hört man von der Kommission nichts.
Wen wundert es da, dass sich in den betroffenen Südländern Frust breitmacht, der vor allem diejenigen Politiker trifft, die nicht bereit sind, ihrerseits die Nordländer offensiv anzugehen. In Italien ist man seit langer Zeit auf der linken Seite des politischen Spektrums viel zu vornehm, zu diplomatisch und zu »proeuropäisch«, um die Missstände in der EU deutlich mit Ross und Reiter anzusprechen. Enrico Letta, der Vorsitzende des (sozialdemokratischen) Partito Democratico würde sich eher die Zunge abbeißen, bevor er Kritik äußern würde, die als Kritik an den europäischen Zuständen verstanden werden könnte. Er will der Rechten auf keinen Fall recht geben. Doch genau dadurch stärkt er die Rechte ungemein.
In Deutschland wird jeder italienische Politiker, der sich, wie die zukünftige Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, erdreistet, Berlin offen zu kritisieren, gnadenlos und im Gleichschritt von der Presse und der Politik niedergemacht. Wer etwas Kritisches über die Bundesrepublik sagt, ist ein »Deutschenhasser«. So erstickt man jede sachliche Diskussion im Keim und trägt unmittelbar dazu bei, der nächsten nationalistischen Regierung im nächsten Land zum Sieg zu verhelfen.
- https://www.jungewelt.de/artikel/435879.berlin-bereitet-den-boden.html