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"Die Linke wird gezwungen, Institutionen zu verteidigen, in denen sie nichts zu melden hat, die aber immer noch besser sind als ein Staatsstreich von rechts."
Nach den Chaostagen in Brasilien: Die Sicherheitskräfte von der Armee bis zur Polizei haben die Zerstörung demokratischer Institutionen eher unterstützt als unterbunden. Die Gefahren für die Regierung Lula da Silvas sind enorm (von Raul Zelik)
In der Berichterstattung der vergangenen Tage ist der Sturm eines ultrarechten Mobs auf Parlament, Gerichtshof und Regierungssitz in Brasilia durchgängig als Angriff auf die liberale Gesellschaft gedeutet worden. Was in einer Hinsicht durchaus stimmt: Diese Massenbewegung, die sich um den abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro formiert hat, trägt faschistoide Züge. Die Bolsonaristas fordern die Armee zum Putsch auf, propagieren einen Staat, in dem die Sicherheitskräfte bei der Kriminalitätsbekämpfung freie Hand haben, und hetzen gegen LGBTQ-Menschen.
Doch schon auf den zweiten Blick stimmt die Erzählung nicht mehr so recht: Bolsonaro ist Mitglied der Liberalen Partei. Zugleich sind andere etablierte Parteien der bürgerlichen Rechten Teil seiner Bewegung. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten haben sich auch in Brasilien Wirtschaftsliberalismus, Autoritarismus und evangelikale Kirchen zu einer unheilvollen Allianz zusammengeschlossen. Und noch aus einem anderen Grund lässt sich das Brasilien-Bild dieser Woche hinterfragen: Für die meisten Medien steht der ultrarechte Mob im Mittelpunkt. Schließlich hat er Regierungsgebäude gestürmt. Ob jedoch die Hauptgefahr für Präsident Lula da Silva und seine Regierung wirklich von dieser diffusen Meute ausgeht, ist zweifelhaft.
Die Erstürmung des US-Kapitols durch Trump-Anhänger vor zwei Jahren – sie diente der brasilianischen Rechten offenkundig als Blaupause – folgte insofern einer Logik, als sie sich gegen einen von den Demokraten kontrollierten Kongress richtete. Die Ereignisse von Brasilia ergeben – falls sie als Staatsstreich gedacht waren – sehr viel weniger Sinn: Die Rechtsparteien besitzen eine solide Mehrheit im brasilianischen Parlament.
Das Beunruhigendste der zurückliegenden Tage war daher nicht, dass Bolsonaro-Anhänger ein von Bolsonaro-Verbündeten dominiertes Parlament gestürmt haben, sondern das Verhalten der Sicherheitskräfte. Polizei und Armee reagierten auffallend lasch auf den Angriff von ultrarechts. Wenn man weiß, mit welcher Entschlossenheit der brasilianische Staat das Eigentum einiger Superreicher schützt und beispielsweise Großgrundbesitz gegen landlose Bauern verteidigt, ist klar, dass die Polizei nicht einfach „von den Ereignissen überfordert“ war oder einzelne Führungskräfte ihrer Pflicht nicht nachgekommen sind. Die zentrale Erkenntnis von Brasilia besteht darin, dass eine Verteidigung der demokratischen Institutionen für die brasilianischen Sicherheitskräfte – und zwar von der Führungsebene bis hinunter zu den einfachen Polizisten – keine Priorität besitzt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass nach einem Machtwort des Obersten Gerichtshofs gut 1.500 Aufrührer vorübergehend festgenommen wurden – dies geschah, als der Sturm auf die Institutionen bereits vorüber war.
Alles in allem spricht also eher weniger dafür, dass Krawall und Zerstörung tatsächlich einem Plan zur Machtübernahme folgten. Viel eher dürfte es sich um eine Ansage der Rechten gehandelt haben, dass man linke Reformen mit allen Mitteln verhindern wird. Paradoxerweise könnte Präsident Lula von diesen Manövern in einer Hinsicht profitieren: Ähnlich wie in den USA dürften sich „zivilisierte“ Teile der Rechten vom abgewählten Unruhestifter abwenden. Nur bedeutet das noch lange nicht, dass dadurch eine linke Regierung mehr Spielraum gewinnt.
Die Aussichten für eine progressive Reformagenda waren schon vor den Chaostagen von Brasilia schlecht. Lula hat nicht nur das Parlament, sondern auch die Unternehmerverbände, die mächtige Agrarlobby und die Medienkonzerne gegen sich. Nun wird er der bürgerlichen Rechten noch mehr Zugeständnisse machen müssen – zu Lasten eigener sozialer und ökologischer Ziele. Außerdem wird die extreme Rechte, auch wenn ihr Aufstand verpufft, weiter die politischen Debatten beherrschen. Ihr Kulturkampf zur Verteidigung evangelikaler Familienwerte oder des „Rechts“, rassistisch sein zu dürfen, verhindert, dass über soziale und ökonomische Fragen gesprochen wird.
Dabei wäre das in Brasilien dringlicher als anderswo. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,89 (bei einem Faktor 1 gehört einer einzigen Person der gesamte gesellschaftliche Reichtum) ist das Vermögen in dem südamerikanischen Land so ungleich verteilt wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Der Bolsonarismo erfüllt seine Funktion also auch dann, wenn er die Lula-Regierung nicht stürzt. Das rechtsextreme Spektakel blockiert Reformen, macht Klassenkonflikte unsichtbar und besetzt das Feld der Rebellion. Letzteres ist mutmaßlich der schlimmste Effekt der neuen rechten Bewegungen – nicht nur in Brasilien. Früher war der Protest gegen staatliche Institutionen ein Instrument der unteren Klassen, um soziale und demokratische Konzessionen zu erkämpfen.
Die neue extreme Rechte verstellt diesen Weg. Der radikale Massenprotest auf der Straße verkommt immer mehr zu einem Werkzeug, um genau jene Errungenschaften abzuräumen. Die Linke hingegen wird gezwungen, Institutionen zu verteidigen, in denen sie nichts zu melden hat, die aber immer noch besser sind als ein Staatsstreich von rechts.
- https://www.freitag.de/autoren/raul-zelik/ansage-der-ultrarechten-bei-den-exzessen-in-brasilia-wir-bestimmen-die-agenda