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mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #bürgerlichedemokratie #faschismus #kapitalismus #gegenmacht #offensive #handlungsmacht #europa #frankreich

Auszug aus Étienne Balibar: Das kommende Volk (2/2): »Regierung des Selbst und der Anderen«

In Teil 2 beschreibt Étienne Balibar das Wirken des neuen Faschismus der Rassemblement National und die Psychogenese der Wählerinnen (was sich gut auf die AfD hierzulande übertragen lässt). Danach führt er Alternativen zum Rechtspopulismus auf, die weitere Überlegungen wert sind

Der Populismus, wie ihn der Rassemblement National mit spezifisch französischen Charakteristika verkörpert, der aber zu einer viel breiteren, global zu beobachtenden politischen Strömung gehört, ist ein potenzieller Faschismus. Er weist bereits viele Züge des Faschismus auf, hält sich aber aus taktischen Gründen, und weil nicht alle Bedingungen für eine Massenmobilisierung zur Eliminierung »der inneren Feinde« im Rahmen einer integralen nationalistischen Ideologie gegeben sind, vor einem letzten Schritt zurück (in dieser Hinsicht sind die Dinge im Indien Modis oder im Amerika Trumps weiter fortgeschritten).

Diese Entwicklung ist jedoch nicht aus eigener Kraft umkehrbar. Es ist klar, dass sie im Gegenteil beschleunigt würde, wenn der RN an die Schalthebel der staatlichen Verwaltung gelangen würde, und zwar sowohl wegen der Vollmachten, die er erlangen würde, als auch wegen der Hindernisse und Probleme, mit denen die Staatsmacht in einer Eskalationsspirale konfrontiert wäre. Die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung aufzuhalten, besteht darin, ihr einen bewussten und organisierten Gegenpopulismus entgegenzusetzen, wie ihn das Projekt einer »neuen Volksfront« implizit anstrebt. Ein Gegenpopulismus ist kein »spiegelverkehrter Populismus«. Obwohl auch er das Ziel verfolgt, »das Volk zu finden« und eine nationale Gemeinschaft zu erschaffen, muss er auf radikal andere Weise vorgehen.

Der Unterschied liegt im Kern darin, dass der Populismus und erst recht der Faschismus die Passivität der Bürger zum Prinzip haben. Dies gilt selbst und vor allem für jene lärmende, gewalttätige Passivität, die die nationalistischen Demonstrationen und Wahlkampfveranstaltungen prägt, da ihr Prinzip die Wiederholung der von den Führern angestimmten Slogans und Diskurse ist. Der Populismus überwindet die ihm zugrundeliegende kollektive Ohnmacht nicht. [...]

Die Wirksamkeit und Authentizität des Kampfes liegt jedoch in der Erfindung einer anderen Art von Massenpolitik: einer Art und Weise, die die Macht der »einfachen Leute« erweitert und ihnen die Möglichkeit gibt, sich durch Aktivität, Solidarität und Autonomie von der Angst zu befreien (und damit die Fähigkeit eröffnet, die Kampfziele und eingesetzten Mittel zu diskutieren). Die These ließe sich auch so formulieren, dass der Unterschied zwischen »popular« und »populistisch« darin besteht, ob die Bürger*innenschaft bei der Verteidigung der Demokratie, mit dieser in ihrem Inneren selbst experimentiert und also aktiv wird, [...]

Die Volksfront hat in ihrem »Programm« für die Wahlen und eine künftige Regierung neben anderen Zielen im Bereich der ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit und der Verteidigung der Demokratie die Wiederherstellung und Ausweitung öffentlicher Einrichtungen (das heißt des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens, der von Handelsmonopolen unabhängigen Kultur, der für alle zugänglichen Justiz, der Nachbarschaftspolizei (police de proximité), der Raum- und Stadtplanung, des bequemen und preiswerten Verkehrs und der umweltfreundlichen Energie) in den Mittelpunkt gestellt. Damit nimmt sie darauf Bezug, was in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluss der neoliberalen Spar- und Privatisierungspolitik zu einer Hauptursache für die Verschärfung der Ungleichheiten und damit für die Prekarisierung geworden ist (nicht nur als Verarmung, sondern als »Ausschluss« oder als das, was Robert Castel in Bezug auf die Bewohner*innen der Vorstädte und insbesondere die arbeitslosen Jugendlichen als »Entkopplung« bezeichnete).

Hier geht es um ebenjene Entwicklungen, von denen ich, wie viele andere, glaube, dass sie für das Unsicherheitsgefühl verantwortlich sind, auf dem das ideologische und affektive Angebot des Rassemblement National gedeiht. Öffentliche Einrichtungen beziehungsweise Dienstleistungen sind nicht »der Staat« – auch deshalb, weil ihre Funktionsweise und Nützlichkeit in erster Linie von der Professionalität und Empathie derjenigen abhängen, die diese Dienstleistungen für Kranke, Schüler*innen, ein Publikum, Einwohner*innen, Rechtssuchende, kurzum für die Bürger*innen erbringen. Nichtsdestotrotz existieren sie in einer Gesellschaft wie der unseren nicht ohne den Staat, der sie durch Steuern oder andere Beiträge finanziert, rechtlich einrahmt und so seinem wuchernden Organismus einverleibt (den Philosophen mit einem großen mythologischen Monster verglichen haben).

Mit dieser Bemerkung führen wir also eine weitere Spannung ein, die im Inneren der Volksfront besteht: der Konflikt zwischen einer Nutzung und Stärkung des Staates (insbesondere gegen die vom Neoliberalismus umgesetzte »Entstaatlichung«, bei der es sich natürlich um eine selektive Entstaatlichung handelt) und dem Prinzip der Freisetzung der individuellen Autonomie und der Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Gesellschaft und ihrer Bewegungen. Die sozialistische Tradition und allgemeiner die Tradition der intellektuellen und parteipolitischen Linken hat immer wieder zwischen diesen Prinzipien geschwankt oder Kompromisse zwischen den Ausdrücken dieses Gegensatzes gesucht, von dem ich versucht bin zu sagen, dass er konstitutiv für die Politik als kollektive Praxis einer, wie man Foucault parodierend sagen könnte, »Regierung des Selbst und der Anderen« ist.

Die Idee der Volksfront ist in dieser Hinsicht auch die Idee einer dynamischen Lösung des Widerspruchs, die diesen verändert, indem sie ihn bearbeitet. Aber das wird erst später kommen, wenn es ein Später gibt, das heißt, wenn es uns gelingt, die extreme Rechte jetzt zurückzudrängen. Nichts ist in diesem Augenblick dringlicher.
- in deutsch: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183406.frankreich-volksfront-oder-kartell-der-linken-das-kommende-volk-n-teil.html
- original: https://aoc.media/analyse/2024/06/25/le-peuple-a-venir-2-2-pour-un-contre-populisme/

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #bürgerlichedemokratie #faschismus #kapitalismus #gegenmacht #offensive #handlungsmacht #europa #frankreich

Auszug aus Étienne Balibar: Das kommende Volk (1/2): Rechtsunion vs. Volksfront

Der französische Philosoph schreibt in seinem Aufsatz über die französische Situation. Was der Auszug wiedergibt betrifft aber die gesamte Linke in Europa, die durch den aufkommenden Faschismus bedroht ist.

Die Politik der Linken erscheint, obwohl sie sich auf sinnvolle demokratische, sozialistische, kommunistische und ökologische Prinzipien beruft, immer noch grundsätzlich defensiv: Defensiv gegenüber der »neoliberalen« Politik der Zerstörung von Arbeitsrechten und Schutzmaßnahmen, defensiv gegenüber der direkten oder indirekten Privatisierung oder Zerschlagung öffentlicher Einrichtungen, defensiv gegenüber der Kommerzialisierung der Kultur, defensiv gegenüber den »atypischen«, dem Finanzkapitalismus inhärenten Formen der Wirtschaftskrise, defensiv sowohl gegenüber der Globalisierung als auch gegenüber den populistischen und nationalistischen Reaktionen, die diese hervorruft. Defensiv vielleicht vor allem gegenüber den »Katastrophen«, die den Horizont verdunkeln, von der Klimakatastrophe über die digitale Revolution bis hin zur Rückkehr des Krieges. Denn jede dieser Katastrophen verstrickt die Linke in Dilemmata, für die sie keine Lösung parat hat (wie das Dilemma zwischen Degrowth und der Verringerung der Ungleichheit), und führt sie in Interessen- und Grundsatzkonflikte, die Hindernisse für das Projekt darstellen und der Aktionseinheit ihre historische Grundlage entziehen, die die Politik umzusetzen und zu festigen versuchen würde. Ein Name allein ändert daran nichts, es sei denn, er beschwört noch unbemerkte Potenziale der Situation herauf, die es ans Licht zu bringen gilt. [...]

Wir müssen einerseits die defensive ideologische Position in eine offensive Position umkehren, die nicht nur aus republikanischen Reflexen oder Antworten auf die Gefahr besteht, sondern aus echten Projekten, die eine »Handlungsmacht« – genauer: die die Macht des Gemeinsamen selbst – freisetzen, und die das Regime der Befürchtungen und Hoffnungen von Grund auf neu organisieren. Andererseits müssen wir das noch virtuelle »Volk« finden, das sich diese Projekte zu eigen macht, die Sprache erschaffen, in der es seine gemeinsamen Interessen und vor allem seine Differenzen und Konflikte diskutieren kann, um die historisch geerbten Antagonismen und Meinungsverschiedenheiten der Gegenwart zu überwinden. Denn nur, wenn es die »Streitigkeiten«, die es von sich selbst trennen, aufarbeitet und so weit wie nötig zu den Ursachen des Konflikts zurückgeht, wird das heute »fehlende«, aus heterogenen und einander beinahe fremden Massen bestehende Volk seine Einheit und seine politische Identität finden. Das »Volk« der Volksfront ist nicht gegeben, in gewisser Weise lässt sich sogar behaupten, dass es nicht existiert, es noch im Kommen ist.
- in deutsch: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183372.frankreich-volksfront-oder-kartell-der-linken-das-kommende-volk.html
Original @ https://aoc.media/analyse/2024/06/24/le-peuple-a-venir-1-2-union-de-la-droite-vs-front-populaire/

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #krieg #ukraine #russland #nato #gegenmacht #antikapitalismus #marxismus #solidarität #widerstand

Auszug aus

Ukrainischer Marxismus und die russische Invasion (Von Lev Sergeev)

[...] Wenn zwei moderne Staaten (d. h. zwei Oligarchien) wie Schafe auf einer Brücke aufeinanderprallen, wer wird dann auf das Schlachtfeld geschickt? Die Söhne der Reichen und die Reichen selbst entziehen sich in 90 % der Fälle der Einberufung, und die Menschen aus der Arbeiterklasse dienen in 90 % der Fälle in der Armee. Wenn du also in Friedenszeiten für die Kapitalistenklasse arbeitest, musst du an der Front auch bereit sein, für ihre Interessen als die mächtigste Gruppe im Staat zu arbeiten. Und im Moment sind es vor allem einfache ukrainische Jungs und Männer, die die Front halten, auf deren anderer Seite die gleichen einfachen Jungs und Männer stehen, nur eben russisch.

Aber der Krieg findet nicht nur an den feindlichen Linien statt, sondern es gibt auch eine Heimatfront, wo er Zerstörung in all ihren Erscheinungsformen bringt, und die Frontgebiete sind am schlimmsten. Es schlagen viel mehr Raketen in Wohngebieten ein als in luxuriösen Gated Communities. Und während die Oligarchen die Ukraine am Vorabend des Krieges verlassen haben, haben nicht alle in der einfachen Bevölkerung die Möglichkeit, die gefährlichen Gebiete zu verlassen. Und sein Haus zu verlassen, selbst wenn es standhält, bedeutet, es der Gefahr auszusetzen, ausgeraubt zu werden. Die meisten Menschen haben nur ein Haus, im Gegensatz zu den Oligarchen, die Villen im Ausland haben und für die der Verlust ihrer ukrainischen Paläste nicht allzu verheerend ist.

Was werden die Menschen am Ende des Krieges bekommen? Zunächst einmal werden Zehntausende das Ende des Krieges nicht mehr miterleben. Diejenigen, die es schaffen, werden versuchen, in ihr altes Leben zurückzukehren und die durch den Krieg verursachten Probleme zu überwinden. Kurz gesagt, die Menschen werden nichts gewinnen, aber sehr viel verlieren. Die Herren kämpfen, aber es sind die Proleten, die die Verletzungen erleiden.

Und was können die Leibeigenen dagegen tun? Sie können weiterhin ein ukrainischer Nationalist oder ein russischer Hurrapatriot sein; sie können unpolitisch bleiben und sagen: "Das geht mich nichts an." Aber dann darfst du nicht überrascht und bestürzt sein, wenn in deiner Wohnung Fensterscheiben zerbrechen, weil in der Nähe eine Granate explodiert, oder wenn du für deine Bourgeoisie in ein fremdes Land einmarschieren sollst. Es ist zum Teil Ihrer Unterstützung oder Gleichgültigkeit zu verdanken, dass die Ereignisse eine solche Wendung nehmen, also sind Sie mitverantwortlich und mitschuldig an dem, was geschehen ist. Sie können versuchen, das alles zu verhindern; Sie können dem Krieg selbst den Krieg erklären.

Aber ihr müsst fest zum Standpunkt eurer eigenen Interessen, der Interessen der Arbeiterklasse, stehen und euch dem Kampf anschließen, um sie konsequent zu verwirklichen. Das bedeutet eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung in dem Sinne, dass das Proletariat den Kapitalisten die Wirtschaft und den Staat entreißen und sie für seine eigenen Bedürfnisse umbauen muss. Und die Arbeiter eines Landes brauchen die Arbeiter eines anderen Landes nicht zu bekämpfen, weil sie im Gegensatz zur Bourgeoisie nichts haben, was sie untereinander aufteilen könnten. Das ist der einzige Weg, den wir sehen, um endlich einen ewigen Frieden und keinen permanenten Waffenstillstand zu schaffen.

Die Revolution sowohl in der Ukraine als auch in Russland, die in der Abbildung in diesem Artikel schematisch dargestellt ist, ist der einzige wahrscheinliche Ausgang des Krieges, der die Völker der Welt zum Sieger macht. Im gegenwärtigen Krieg ist sie jedoch praktisch unwahrscheinlich: Weder in der Ukraine noch in Russland ist die Arbeiterklasse aus mehreren Gründen auch nur eine unabhängige politische Kraft, geschweige denn eine politische Kraft, die in der Lage ist, eine Revolution durchzuführen. Die Schwäche der Arbeiterbewegung spiegelt sich in der extremen Schwäche der Kommunisten wider. Sollten wir jetzt verzweifeln und darauf warten, dass das Gras wächst? Nein, denn der Preis der Untätigkeit und des Nichtstuns ist zu hoch - wir zahlen ihn bereits. Ja, das Ziel ist weit entfernt, aber die Straße wird sich demjenigen, der sie betritt, entgegenstellen; wir müssen nur vorwärts gehen….

Die Vertreter des russischen Sozialchauvinismus werden damit geködert, dass das Putin-Regime mit dem Großen Vaterländischen Krieg und dem Kampf gegen den Nationalsozialismus kokettiert, dass die Behörden Kommunisten offiziell tolerieren usw. usw. Aber das ist der Große Vaterländische Krieg mit einem St.-Georgs-Band im Vordergrund; das ist der Kampf gegen den Nazismus neben der Verherrlichung der Weißen Armee; das sind zahme, loyale Kommunisten - alles eine Lüge, Staub in den Augen, eine Manifestation des seltenen Talents der Kapitalisten, sich an allem zu vergreifen, um ihre Herrschaft zu festigen. Und die russischen Sozialchauvinisten helfen ihnen dabei, wo sie nur können. In Russland tun sie es direkt, denn sie sind, seien wir ehrlich, nichts anderes als roter Putinismus, und in den Nachbarländern indirekt, denn es ist für die Macht bequem, die echten Kommunisten mit diesen falschen in einen Topf zu werfen. Den echten Kommunisten erlaubt es ihr marxistisches Gewissen nicht, den derzeitigen Vormarsch der kapitalistischen russischen Truppen tief in die kapitalistische Ukraine als Befreiung zu bezeichnen. Wäre Russland ein sozialistisches Land, sähe die Sache anders aus. Aber so, wie die Dinge liegen, sind die Ereignisse, die sich abspielen, nichts anderes als eine vulgäre Besatzung.

Vertreter des ukrainischen Sozialchauvinismus neigen dazu, auf die Rhetorik des nationalen Befreiungskampfes der Ukraine gegen die imperialistische Aggression Russlands hereinzufallen. Nur ist dies immer noch Zelenskys Ukraine: ein Marionettenregime des Westens, das gesetzlose Land der lokalen Oligarchen, das Reich der erzwungenen Ukrainisierung, der Tummelplatz der Rechtsradikalen, die Heimat der erdrosselten sozialistischen Bewegung, usw., usw. Und genau dafür fordern sie uns zum Kampf auf; sie schlagen uns vor, das derzeitige Regime und all seine Katastrophen zu stärken. Wenn es die sozialistische Ukraine wäre, die den Schlag des kapitalistischen Russlands abwehrt, würde es keine Frage sein, bis zum Tod für sie einzustehen. Aber ein vernünftiger Marxist kann es sich nicht leisten, alle in einer vereinten Anstrengung anzuführen, um für die heutige kapitalistische Ukraine einzustehen.

Wir können zu Recht beide Seiten des Konflikts anprangern, aber es nützt nichts, unter ihnen nach dem kleineren Übel zu suchen, denn sie sind von Natur aus homogen. Das Einzige, was wir befürworten können, und selbst das ist kritisch, da die Regierungen der Ukraine und Russlands keine gute Arbeit leisten, sind Verhandlungen über einen baldigen Waffenstillstand, Initiativen für humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung, die Einführung aller Arten von Unterstützungsmaßnahmen für die einfache Bevölkerung und alles andere in diesem Sinne. Es stimmt, dass wir selbst mit den oben genannten Maßnahmen keinen Einfluss auf die Verhandlungen und Unterstützungsmaßnahmen nehmen können. Was jedoch die humanitäre Hilfe betrifft, so muss die Freiwilligenarbeit - insbesondere auf der Grundlage ziviler, nicht staatlicher Initiativen - von allen nach ihren Fähigkeiten und ihrer Zeit geleistet werden. In diesen harten und grausamen Zeiten, in denen die Menschen zu Bestien werden, ist es die Hauptsache, menschlich zu bleiben.

Originaltext in Englisch: https://www.nowarleft.com/wfu2

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #krieg #ukraine #russland #nato #gegenmacht #antikapitalismus #solidarität #widerstand

Es bleibt dabei: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“
- Karl Liebknecht, 1916

Die Linke und die Ukraine: Dem Krieg den Krieg erklären!

...Die Position ist sehr simpel und wahr: Kapitalistische Nationen sind zu keinem dauerhaften Frieden fähig. Also muss in der Barbarei des Krieges die Politik der Revolutionäre auf die Beseitigung des Kapitalismus abzielen. Das geschieht, indem das Proletariat, das sowohl der größte Leidtragende des Krieges wie auch die Kraft ist, die ihn beenden kann, sich gegen die eigene Bourgeoisie und ihre politischen Sachwalter wendet.

Beziehen wir sie auf heute: Der Adressat dieser Strategie sind nun tatsächlich die Arbeiterinnen und Arbeiter, die verheizten Soldaten, die Zivilbevölkerung, nicht mehr die deutsche, US-amerikanische, russische oder ukrainische Regierung. Gegen diese Strategie zieht nun auch der von den NATO-Freunden erhobenen Einwand gegen den Pazifismus nicht mehr, man wolle die Anerkennung von russischen Gebietsgewinnen oder die Kapitulation der Ukraine. Denn was der sozialistische Antimilitarismus fordert, ist nicht die Kapitulation, sondern die Aufnahme des Kampfes. Er will auch nicht einfach einen Wisch, der einen temporären Waffenstillstand festschreibt und zur normalen Unterdrückung der kapitalistischen Friedenszeit übergeht, sondern er will den Sturz der Bourgeoisie. Der sozialistische Pazifismus ist nicht generell gegen Waffen, er fragt, in welchen Händen und zu welchem Zweck sie gebraucht werden. In der Formulierung der Arbeiterfront der Ukraine:

„Du kannst weiter ein ukrainischer Nationalist oder ein russischer Chauvinist bleiben; du kannst apolitisch bleiben und sagen: ‚Das geht alles mich nichts an‘. Aber dann solltest du nicht überrascht und bestürzt sein, wenn die Fenster deines Wohnung von einer Granatenexplosion zerbersten oder du von deiner Bourgeoisie geschickt wirst, um in ein fremdes Land einzufallen. Es liegt zum Teil an deiner Unterstützung oder deiner Indifferenz, dass die Dinge diesen Lauf nehmen, also trägst auch du Verantwortung für sie. Du kannst aber auch versuchen, das alles zu verhindern. Du kannst dem Krieg selbst den Krieg erklären. Dann aber musst du strikt auf dem Standpunkt deiner eigenen Interessen, den Interessen der arbeitenden Klasse stehen und den Kampf aufnehmen, sie mit Leben zu erfüllen.“

Was folgt aus dieser Perspektive konkret? In Deutschland ist die Hauptaufgabe von Sozialistinnen und Sozialisten gegen die eigene Klasse zu agitieren, den ohnehin wegen der Kriegskosten aufkommenden Unmut aufzugreifen und zuzuspitzen. Zugleich sind diejenigen, die zu unterstützen sind, die, die sich gegen die Fortführung des Krieges wehren – in der Ukraine wie in Russland. Die Deserteure, die progressive Opposition, die Stimmen für den Frieden. Das ist die einzige Position mit einer auf die Klasse gerichteten Handlungsperspektive. Das Bejubeln russischer Vormärsche oder die Debatte um das Bejubeln westlicher Sanktionen und Waffenlieferungen dagegen sind Kapitulation.

Das einzige, was aus „linker“ Sicht gegen diese Position stets ins Feld geführt werden kann, ist der alte Hut, sie sei „unrealistisch“. Die innenpolitisch antrainierte Auffassung, stets das „kleinere Übel“ im Rahmen des kapitalistischen Spektakels als einzig „realistische“ Alternative lobzupreisen, wurde erfolgreich auf das internationale Parkett verlagert. Jetzt ist den einen das westliche Bündnis aus Mörderstaaten das „kleinere Übel“, den anderen der sich aus „Sicherheitsinteressen“ durch die Ukraine mordende russische Imperialismus. Von „kleinerem Übel“ zu „kleinerem Übel“, das wird kein Mensch mit Augen im Kopf leugnen, geht indessen die Welt zugrunde. Für Linke ist es stets einmal mehr die Ausrede, gerade jetzt nicht mit wirklich sozialistischer Politik beginnen zu müssen, für die man sich zu klein und zu schwach hält, sondern sich irgendeinem Akteur anzudienen, von dem man hofft, das eigene Interesse mit durchzusetzen.

Dem entgegen wäre es an der Zeit, mit dem Opportunismus des gebeugten Haupts zu brechen. Liebknecht, Luxemburg und Lenin gehörten im Ersten Weltkrieg zu einer absoluten Minderheit von Aufrechten, die in Zeiten fast vollständiger nationalistischer Verdummung die rote Fahne hochhielten, hinter der sich wenige Jahre später Millionen Menschen versammelten.
- vollständiger Text: https://lowerclassmag.com/2022/07/09/die-linke-und-die-ukraine-dem-krieg-den-krieg-erklaeren/