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»Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« - Victor Klemperer
Der »Lumpenpazifist« ist eine dieser neuen Wortschöpfungen der Zeitenwende. Der Begriff klingt alt, als sei er vom Volksgerichtshof gestohlen worden. Ist er aber nicht. Schlimm genug, dass man das aber annehmen könnte.
Clemens Wergin ist Chefkorrespondent der Außenpolitik der Tageszeitung Welt. Unlängst sprach er in einem als Meinungsbeitrag gekennzeichneten Pamphlet ganz ungeniert von »Lumpenpazifisten«. Die müssten nun kapieren, dass Putin nicht verhandeln wolle. Woher er das weiß, wo man es doch gar nicht erst versucht, könnte man sich jetzt fragen. Aber das soll nicht das Thema an dieser Stelle sein. Was hier von Belang ist: Woher kommt eigentlich dieser Begriff? Und wieso gilt es nun als völlig unbedenklich, eine derart ehrabschneidende Formulierung zu nutzen?
Entwarnung: Der Begriff entstammt nicht dem Nazi-Jargon. Erstmals augenfällig wurde er im April 2022. Damals gebrauchte Spiegel-Kampfgockel Sascha Lobo diese Komposition. Das war genauer gesagt am 20. April des letzten Jahres: Vielleicht war das ja als Reminiszenz gedacht, mal wieder einen Begriff zu erschaffen, der an alte Tage erinnert. Durchforstet man Google in der Zeit vor jenem 20. April 2022 findet man zu diesem Wortungetüm: Fast nichts. Hier und da nutzte jemand den Begriff in Foren oder Kommentarbereichen – nie aber jemand im offizielleren Rahmen. Und obgleich der Begriff sich anhört wie von einem Volksgerichtshofrichter im geiferndem Monolog hingeworfen, hat er keine Nazi-Vergangenheit. Dennoch weckt er Erinnerungen.
Entehrende Sprache
Schon vor einem Jahr, als Lobo diesen Begriff nutzte und so die Debattenunkultur um ihn bereicherte, fragte ich mich, weshalb mir der »Lumpenpazifist« so übel auffiel. Schließlich gibt es viel schlimmere Beleidigungen, dachte ich mir. Ich dachte an das Lumpenproletariat: Marx hatte jenes Wort angebracht, er bezeichnete damit Proletarier, die ganz unten angelangt sind und keiner klassischen Lohnarbeit nachgingen. Aber dieser Gebrauch war es nicht, der mich unangenehm berührte. In meiner Jugend habe ich gelegentlich gehört, dass dieser oder jener ein Lump sei. Schon damals wirkte das Wort auf mich seltsam antiquiert. Wir jungen Leute sprachen so nicht, es war der Duktus der Alten.
Es kann sein, dass Lobo den Begriff von Marx abgekupfert hat. Wobei man sich Lobo schlecht als belesenen Menschen vorstellen kann. Womöglich hat er einfach nur in jenen Kommentarspalten gewildert, in denen der Begriff selten mal gebraucht wurde. Dass sich Lobo seine Inspirationen – wenn man das so sagen kann bei seiner Person – in Foren und nicht in philosophischer Literatur holt, ist dann schon eher anzunehmen.
Marx hat den Begriff aber sicher unverfänglicher gebrauchen können als Lobo, was vor allem an einer Sache liegt: Er lebte vor Roland Freisler. Es gibt einige wenige Ton- und Bildaufnehmen jenes mörderischen Herrn, der Richter des Volksgerichtshofs war – eine jedoch hat sich mir tief ins Gedächtnis gebrannt, schwarzweißer Film, Freisler schreit einen Angeklagten an: »Sie sind ja ein schäbiger Lump!« Gerichtet waren die Worte an Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanfeld, einem Mitverschwörer des 20. Juni. Für die Deutsche Wochenschau brüllte er ihn nieder. Oft standen die Angeklagten ohne Gürtel oder mit entfernten Hosenknöpfen vor jenen Richter, damit sie im Stehen die Hose halten mussten und so besonders klein und erbärmlich wirkten.
Von Freisler zu Lobo
Natürlich ist Sascha Lobo kein Roland Freisler. Aber er hat es geschafft, dass ich an den Richter, der kurz vor Kriegsende bei einem Luftangriff von einem herabstürzenden Balken erschlagen wurde, denken musste. Lump: Eigentlich ist dieses Wort nicht die Spitzenklasse deutscher Beleidigungskultur. Aber aufgrund dieser spezifischen Geschichte ist das Wort viel ehrabschneidender als man annehmen möchte. Es degradiert den Empfänger, macht ihn zu einer kleinen niedergebrüllten Gestalt, die sich die Hose halten muss, so sie nicht nackt dastehen will.
Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch: Vielleicht meinte Adorno ja mit diesem berühmten Ausspruch genau das, was ich empfinde, wenn man heute demonstrierende Menschen als Lumpenpazifisten tituliert. Denn nach Freisler so einen Begriff zu gebrauchen: Das fühlt sich wie Barbarei an. Der Begriff des Lumpenpazifisten ist ja, oben habe ich es schon ausgeführt, keine Wortschöpfung, die man in den braunen Tagen benutzt hatte. Aber das Perfide ist ja, dass man das annehmen könnte: Es ist eine Art von simulierter Nazi-Begrifflichkeit. Ein Wort, das ein Regisseur mit wenigen bis gar keinen Geschichtskenntnissen seinem Nazi-Mimen in den Mund legen würde, um auf diese Weise seinem Nazi-Film irgendwie ein bisschen Authentizität zu verleihen.
Die entehrende Komponente diverser Begriffe aus jener Zeit damals, war in der Nachbetrachtung stets Thema: Die Welt, in der der oben genannte Clemens Wergin ganz unverkrampft von Lumpenpazifisten schrieb, hatte sich noch 2013 in einem Artikel, einer Rezension genauer gesagt, mit der Nazi-Sprache befasst. Dabei wurde unter anderem Victor Klemperer bemüht: »Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Sprache sei eine Maske der Macht, erklärte Joseph Heid, der Autor des Artikels, im weiteren Verlauf.
Die Verrohung derer, die sich milde und nachsichtig aufspielen
Die Entehrung Andersdenkender wurde seinerzeit gezielt gefördert: Untertrieben formuliert. Eine Debattenkultur sollte es ja eben gerade nicht geben: Sondern lediglich einen Hegemonialanspruch der Machthaber. Ihre Vorstellungen sollten mit keinen anderen konkurrieren müssen. Wer das gängige Weltbild hinterfragte, war eben mindestens ein schäbiger Lump. Oder etwas, das man chirurgisch vom Volkskörper abschneiden sollte: Genau deshalb wurde Komödiantchen Sarah Bosetti vor anderthalb Jahren scharf in den Netzwerken angegriffen: Sie hatte Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, als Blinddarm bezeichnet, der zum Überleben nicht wichtig sei.
Damals konnte man die Verrohung bereits stark spüren. Später sprachen auch schon mal Mitarbeiter des Öffentlich-Rechtlichen von Ratten, Arschlöchern und Scheißhaufen und meinten damit Menschen, die nicht das Meinungsbild des deutschen Staatsfunks teilten. Es mag schon sein, dass wir offiziell keinen Krieg gegen Russland führen – aber einen im Inneren, einen gegeneinander führen wir schon längst. Wir stecken in einem Kalten Bürgerkrieg, in einer Eiszeit fest, in der die Weltanschauungen aufeinanderprallen. Und sich bekriegen. Der Feind wird nicht verschont: Man gewährt ihm keinerlei Respekt, macht ihn runter, brüllt ihn freislerhaft an: Manchem ist das offenbar ein innerer Volksgerichtshof.
Wer heute den Lumpenpazifisten im Munde führt, der führt Krieg: Gegen jene, die keinen Krieg wollen. Er behandelt dabei den Andersdenkenden nicht mit den unteilbaren »Ehrenrechten«, sondern spricht ihn mit dieser Titulierung gewissermaßen genau diese Rechte ab: Denn dass er als Bürger dieses Landes ja eine eigene Meinung haben, sie auch auf die Straße tragen darf, nimmt man ihm dadurch, dass man ihm mit diesem schmähenden Begriff belegt. Lumpen sind schließlich ehrlos, schäbige Kreaturen: Man macht sie runter, auf Augenhöhe sucht man mit solchen Subjekten ganz sicher keine Diskussion. Man überzieht sie mit einem Krieg vorverurteilender Worte: Framing genannt – was nichts anderes heißt als einen Krieg der Worte vom Zaun zu brechen.
Am Ende laufen wir alle in Lumpen
Gleichzeitig täuscht der Gebrauch dieses Unwortes über eine Tatsache hinweg: Menschen, die den Frieden anstreben, die sich selbst und andere in Frieden leben sehen wollen, gehen eher nicht in Lumpen. In Frieden ist nicht alles Reichtum, trägt man nicht feinste Linnen, wir wollen nun wirklich nichts verklären: Auch im Frieden gibt es Armut. Aber Lumpen tragen in solchen Zeiten nur wenige traurige Gestalten – freilich immer noch zu viele. Wenn etwas Lumpen am Leib generiert, dann ist das der Krieg. Im Krieg werden aus den guten Hemden und Hosen langsam speckige Fetzen. Nach dem Krieg bedeckt man seinen Körper mit Lumpen, die mal Kleider waren.
Nicht der Pazifist ist also lumpig im Sinne des Wortes. Die, die den Krieg befürworten und jede Verhandlungslösung ad hoc von sich weisen und dabei auch noch die Friedliebenden stigmatisieren, sind lumpige Gestalten: Sie sprechen sich letztlich dafür aus, dass es Lumpen für alle geben soll. Oder für die meisten, Kriegsgewinnler mal ausgenommen.
Es mag demnach also Lumpenbellizisten geben. Aber etwas wie Lumpenpazifisten gibt es nicht. Hier verdreht man die Wirklichkeiten, macht Vernunftstimmen zu Gefährdern. Denn wenn der Pazifist ein Lump ist, dann muss der Kriegsbefürworter per se das Gegenteil eines so windigen, einen so schäbigen Menschen sein: Man zieht die eigene miese Position hoch, indem man den konstruktiven Lösungsansatz niederdrückt. Wer das willentlich tut, der ist ein Lump. Ein ganz schäbiger dazu. Aber die Hosenknöpfe abtrennen, damit er seine Beinkleider haltend vor uns steht, während wir ihn abkanzeln: Das hat nicht mal so einer verdient. Denn ehrabschneidende Behandlung ist nicht die Sache der Lumpenpazifisten. Es ist die Praxis der Lumpenfaschos. Und die werden dieser Tage immer mehr.
- https://overton-magazin.de/kommentar/politik-kommentar/sie-sind-ja-ein-schaebiger-lumpenpazifist/