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mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #literatur #wissenschaft #afrika #sklaverei #ausbeutung #imperialismus #kapitalismus

"Irrtümlicherweise wird manchmal behauptet, die Europäer hätten Afrikaner aus rassistischen Beweggründen heraus versklavt. Europäische Pflanzer und Bergwerksbesitzer versklavten Afrikaner aus ökonomischen Gründen, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Tatsächlich wäre es ohne afrikanische Arbeitskräfte unmöglich gewesen, die Neue Welt zu erschließen und sie zur anhaltenden Reichtumsgenerierung zu nutzen. Es gab keine Alternativen: Die amerikanische (indigene) Bevölkerung war so gut wie ausgelöscht, und die Bevölkerung Europas reichte zu diesem Zeitpunkt für die Besiedelung von Übersee noch nicht aus. Nachdem die Europäer im In- und Ausland völlig abhängig von afrikanischen Arbeitskräften geworden waren, hielten sie es für nötig, diese Ausbeutung auch rassistisch zu begründen. Die Unterdrückung folgt logisch aus der Ausbeutung, um letztere zu gewährleisten. Die Unterdrückung der afrikanischen Bevölkerung aus rein rassistischen Gründen ging mit der Unterdrückung aus wirtschaftlichen Gründen einher, verstärkte sie und war nicht mehr von ihr zu unterscheiden."

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Internationale Peter Weiss Gesellschaft: "Wir sind uns nicht sicher, ob Peter Weiss selbst unter den aktuellen Diskursbedingungen eine Chance gehabt hätte, den Peter Weiss-Preis zu erhalten."

Mit Befremden und Sorge sieht die IPWG die Diskussion um die designierte Peter Weiss-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo. Wir gratulieren der Jury für ihre Entscheidung, die Verfasserin des grandiosen Romans Adas Raum aus dem Jahre 2021 auszuzeichnen, der ganz im Sinne von Peter Weiss als ein Musterbeispiel einer „Ästhetik des Widerstands“ angesehen werden kann. Otoo verbindet in ihrem epischen Meisterwerk Geschichten über die Unterdrückung von Frauen mit antikolonialen Perspektiven sowie mit einer eigenwilligen Thematisierung des Nationalsozialismus. Die Verwendung einer komplexen Dingsymbolik erhöht den ästhetischen Reiz des Romans, der als ein exemplarisches Modell postmigrantischen Erzählens in deutscher Sprache gelten kann.

Umso vehementer kritisiert die IPWG, wie eilfertig Otoo von offizieller Seite – auf alleiniger Grundlage eines tendenziösen Online-Artikels – wegen einer vor längerer Zeit geleisteten Unterschrift unter eine pro-palästinensische Petition als Preisträgerin in Frage gestellt wurde. Peter Weiss, nach dem der Preis der Stadt Bochum benannt wurde, hat sich in seinem Werk eindringlich mit dem Nationalsozialismus und dessen Fortleben befasst; er hat seine unverbrüchliche Solidarität mit Israel als Heimstatt der Juden betont, gleichzeitig aber die konkrete Politik verschiedener israelischer Politiker zu mehreren Gelegenheiten kritisiert. Wir sind uns nicht sicher, ob Peter Weiss selbst unter den aktuellen Diskursbedingungen eine Chance gehabt hätte, den Peter Weiss-Preis zu erhalten.

Wir unterstreichen nachdrücklich, dass Sharon Dodua Otoo nach unserer Überzeugung den Peter Weiss-Preis aufgrund ihres literarisch herausragenden und politisch hellsichtigen Werkes verdient hat, und wir verurteilen eine Cancel Culture, durch die ohne Anhörung der betroffenen Person schlechte Entscheidungen getroffen werden sowie der Ruf einer brillanten Autorin beschädigt wird. Wir fordern die Stadt Bochum auf, der Empfehlung der Jury zu folgen und Sharon Dodua Otoo den Peter Weiss-Preis zu verleihen. Wir wenden uns gegen ein Klima der Denunziation, in dem politische Stellungnahmen literarisch-ästhetische Entscheidungen überlagern. Die IPWG erklärt im Sinne von Peter Weiss ihre unverbrüchliche Solidarität mit dem Staat Israel und gleichzeitig ihre Verbundenheit mit dem palästinensischen Volk, das wie alle Israelis unter dem Terror der Hamas leidet.

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#kunst #kultur #literatur #politik #gesellschaft #moral #solidarität #veränderung #zürich

Milo Rau: Moral und Paralyse. Zur totalen Gegenwart - Der Reiter des Moralismus (Auszug)

«Ich weiss, wie widersprüchlich ich sein muss, um wirklich konsequent zu sein.»

(Pier Paolo Pasolini)

[...] Der Reiter des Moralismus hängt sehr eng mit dem zweiten und dem dritten Reiter zusammen, man könnte sogar sagen: Der Reiter des Moralismus ist der Überbau (oder die Konsequenz) der Reiter der Abgrenzung und der Kritik. Wir befinden uns hier im Kern der Psycho­pathologie des «richtigen Lebens im falschen», um noch einmal Adorno zu zitieren: Nicht die Zustände als solche werden kritisiert – sondern die richtige oder falsche Analyse dieser Zustände wird moralisiert und das falsche Verwenden von Kodizes oder Sprach­regelungen mit Shitstorms bestraft.

Und was bestehende Herrschafts­formen am stärksten stabilisiert: Es breitet sich Paranoia aus, da sich Macht­kritik, ist sie einmal moralisiert und dadurch praktisch unangreifbar geworden, ätherisch in alles und zugleich nichts ausbreitet. Die Paralyse erreicht eine metaphysische Konzentration, es wird überhaupt nichts mehr getan, weil unter dem Gesichts­punkt der totalen Reinheit alles falsch ist. Wie einst die Salon-Adligen in Molières Komödie «Les femmes savantes» – die eine Sprache kreierten, in der alle Widersprüche, alle Gemeinheiten, alle Brutalitäten des Feudalismus auf magische Weise verschwunden wären – haben auch wir postmodernen Feudalistinnen das Unmögliche geschafft: Wir pflücken die Früchte unserer globalen Herrschaft umso entspannter, je kleinlicher wir ihre brutale Realität aus unserer Sprache verbannt haben. Und während wir in Wahrheit stillstehen, geben wir uns dem Rausch des moralischen Fortschritts hin.

Die Ausbeutung wurde verschärft, aber wir haben eine Moral entwickelt, um sie unsichtbar zu machen.

Wir alle kennen diese Erzählung: Gestern im 20. Jahrhundert waren wir Rassisten, Patriarchen, Ausbeuter, Fleischesser – sowieso Arschlöcher. Heute jedoch leben wir bewusst, wir gehen freundlich miteinander um, wir achten nicht nur die Würde der Menschen, sondern auch der Natur. Da wir aber gerade bei Minute 42, also bei sechs vernichteten Arten seit Beginn dieser Vorlesung sind, erlauben Sie mir bitte eine Frage: Warum hat sich die Geschwindigkeit, mit der der Planet zerstört wird, exponentiell zu unserer Sanftmut erhöht?

Vielleicht lautet die Antwort – und sie wird Sie nicht überraschen: Die Ausbeutung wurde verschärft, aber wir haben eine Moral entwickelt, um sie unsichtbar zu machen.

Unsere Kinder müssen nicht mehr in Textil­fabriken und Kohle­bergwerken schuften wie noch zu Zeiten des Industrie­kapitalismus – das erledigen heute die Kinder der Kongolesinnen und Pakistanerinnen. Die Sex- und Pflegearbeit, für die wir Einheimischen uns zu gut sind, wird von entrechteten Geflüchteten geleistet. Und die europäische Billigfleisch­industrie bietet ihre Produkte natürlich nicht in den Hipster-Vierteln Zürichs an, sondern exportiert sie direkt nach Afrika und bringt dort die Märkte zum Einsturz.

Die Devise des Reiters des Moralismus lautet, wenig einfallsreich: Damit es uns gut geht, muss es anderen schlecht gehen. Oder psychologisch ausgedrückt: Je sensibler wir sind, desto irrelevanter muss für uns das Leiden jener sein, die uns unser sensibles Leben finanzieren. Egal, dass unsere Handys, unsere T-Shirts oder Sojadrinks im Globalen Süden unter Missachtung aller Menschen­rechte produziert werden – solange auf den Etiketten dieser Billig­produkte keine rassistischen Abbildungen zu sehen sind. Egal, wie das Geld zusammenkommt, das mir diese Vorlesung auf dieser Bühne ermöglicht – solange ich nicht die Gefühle der Anwesenden beleidige, nicht wahr?

Der unaufgeklärte Rassist macht Witze über die Menschen, die er ausbeutet. Der aufgeklärte Rassist dagegen besucht einen Diversity-Workshop und vermeidet das N-Wort, ohne das Geringste an seiner Geschäfts­praxis zu ändern.

Der Philosoph Theodor Adorno nannte diese Verfeinerung der Sitten bei gleichzeitiger Brutalisierung der ökonomischen Umgangs­formen einst die «Dialektik der Aufklärung». Das klingt kompliziert, die Sache ist aber einfach: Man ändere nichts, sondern verdränge. Aufklärerische Moral bedeutet, Etikett und Inhalt «dialektisch» zu betrachten, also als zwei unterschiedliche Wirklichkeiten. Der unaufgeklärte Rassist macht Witze über die Menschen, die er ausbeutet. Der aufgeklärte Rassist dagegen besucht einen Diversity-Workshop und vermeidet das N-Wort, ohne das Geringste an seiner Geschäfts­praxis zu ändern.

Noch unsere Grosseltern hofften, dass Automatisierung und Bildung einen neuen, sympathischeren Menschen­typus und eine dazu passende Gesellschaft schaffen würden. Die Geschichte bewies leider das Gegenteil: Je höher der Bildungsgrad und je fortgeschrittener die globale Arbeits­teilung, desto brutaler ist der Umgang der Menschen untereinander. Westeuropa wurde zum safe space, in dem Krieg, Sklaverei, Umwelt­verschmutzung und eklige Altherrenwitze tabuisiert wurden; umso unerbittlicher muss dafür ausserhalb unserer Businessclass die Barbarei wüten.

Der Reiter des Moralismus, dessen Schwert unerbittlicher trifft als die Schwerter seiner Kollegen, muss selbstverständlich eine Figur besonders hart bestrafen: jene, die sich praktisch, nicht nur narzisstisch solidarisiert mit den Räumen der Externalisierung. Jene, die tatsächlich hingeht, wo es wehtut, wie man so sagt.

Ich erinnere mich, wie etwa Christoph Schlingensiefs Operndorf zuerst als selbstgerechte Selbst­verwirklichungs­sause eines westlichen Künstlers abgetan wurde. Etwas Ähnliches widerfuhr Ariane Mnouchkine oder noch viel härter Simone de Beauvoir, als sie sich mit ausser­europäischen Freiheits­bewegungen solidarisierte. Sogar die Begeisterung über die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete, die im Juni 2019 50 Geflüchtete bei Lampedusa das Leben rettete, dauerte nur ein paar Tage.

Damals drehte ich gerade in Italien das «Neue Evangelium», und der Reiter des Moralismus schlug mit üblicher Effektivität zu. Schon nach wenigen Tagen der Euphorie erschienen in allen grossen westlichen Feuilletons Essays, die Carola Maternalismus, den «White saviour»-Komplex, die Gefährdung der italienischen Küsten­wache, die Kapitalisierung des Leids anderer zum Vorwurf machten. Wenn nicht einfach die Tatsache angeprangert wurde, dass Carola Rackete Dreadlocks trug.

Solidarität gilt dem westlichen Mainstream als übergriffig, das Aushalten von Wider­sprüchen als unverantwortlich

Man kann das alles kleinlich, kontraproduktiv, zynisch nennen, zugleich ist es aber verständlich: Aufgewachsen in Zuständen globaler Ausbeutung, können wir uns den Versuch von Solidarität oder gar inter­kultureller Zusammen­arbeit nur als Fortsetzung dieser Ausbeutung vorstellen. Solidarität gilt dem westlichen Mainstream als übergriffig, das Aushalten von Wider­sprüchen als unverantwortlich – und wir Künstlerinnen nehmen an diesem Spiel der Externalisierung teil, indem wir aus Angst, ins Sperrfeuer eines überhitzten Identitäts­diskurses zu geraten, moralisch gereinigte Fassaden präsentieren oder uns erst gar nicht mehr mit globalen Wider­sprüchen befassen. Denn tatsächlich ist das, was ich etwas gross­sprecherisch den Globalen Realismus genannt habe (als wäre nicht jeder Realismus zwangsläufig global), zutiefst fragwürdig.

Es bereitet unzählige schlaflose Nächte, im Ostkongo, in den italienischen Lagern oder im Irak zu arbeiten, für alle Beteiligten. Die auch bei jahrelanger Zusammen­arbeit immer ungenügende soziale Nachhaltigkeit ist schwer zu ertragen und lässt viele von uns mutlos werden. Doch erst die Reibungs­punkte: die Debatten über Frauen oder Queerness auf der Bühne in «Orestes in Mossul»; die Streitereien über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Polizei­gewalt darzustellen auf der Bühne im «Wilhelm Tell»; die nie endenden Debatten über Aneignung und Retraumatisierung in all meinen Projekten, sie machen realistische Kunst im dialektischen Sinne wahr: zu einem komplexen, schmerzhaften Abbild einer globalisierten Welt.

Rufen wir also dem Reiter des Moralismus entgegen: raus aus den safe spaces! Keine Angst vor Wider­sprüchen, keine Angst vor Fragwürdigkeiten! Oder um es mit einem Zitat von Pier Paolo Pasolini zu sagen, dessen Jesus in meinem Film als Johannes der Täufer wiederkehrte und mit dessen Fascho-Präsident aus den «120 Tagen von Sodom» ich bald einen Partisanenfilm drehen werde, denn man sollte immer das Gegenteil von dem tun, was eigentlich sinnvoller­weise zu erwarten wäre: «Ich weiss, wie widersprüchlich ich sein muss, um wirklich konsequent zu sein.» Das sollte sich, finde ich, jede Künstlerin und jeder Künstler übers Bett hängen.