#kommunismus

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Hintergrund | Heide Gerstenberger - Materialistische Staatskritik

Karl Marx hat keine Theorie des Staates ausgearbeitet. Die von Friedrich Engels formulierte Erklärung, dass die Spaltung von Gesellschaften in Klassen die Entstehung gesonderter Herrschaftsapparate notwendig gemacht habe, war in den sozialistischen Debatten des 19. Jahrhunderts gegenwärtig. Im Marxismus-Leninismus wurde sie politisch sanktioniert. Während dieser überhistorische Gesetze für die Entwicklung der Menschheit unterstellte, sind Marxistinnen und Marxisten seit den 1920er Jahren zunehmend bestrebt, die historisch besonderen Merkmale kapitalistischer Staatsgewalt zu erfassen. Die seither entwickelten Konzeptionen unterscheiden sich zwar erheblich voneinander, beziehen sich aber alle auf die Staatsgewalt in Gesellschaften, in denen Kapitalismus schon lange dominant ist. Für die Analyse der besonderen Merkmale postkolonialer und postsowjetischer Staatsgewalt gibt es bislang kaum historisch-materialistische Ansätze.

https://www.youtube.com/watch?v=3yxZU3GiC_4

#Hintergrund #Staat #Staatlichkeit #Materialistische-Staatskritik #Staatstheorie #Kommunismus #Marxismus #Anarchismus #Heide-Gerstenberger #2023-08-20 @Anarchismus

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Hintergrund | Antje Schrupp - Kommunismus, Anarchismus und Feminismus in der Pariser Kommune

Die Etikettierung verschiedener Strömungen der Arbeiterinnenbewegung als Anarchismus oder Kommunismus war zur Zeit der Pariser Kommune (März-Mai 1871) noch nicht üblich. Dennoch spielten die Themen, die zu einer Spaltung der Ersten Internationale in einen “marxistischen” und einen “bakunistischen” Teil führten, auch in diesen Wochen bereits eine Rolle und wurden auf eine konkrete Bewährungsprobe in dieser politischen Ausnahmesituation gestellt.

Der Vortrag zeigt diese Debatten am Beispiel der unterschiedlichen Aktivitäten von Frauen in der Pariser Kommune auf etwa der Kontroversen zwischen der eher “marxistisch” orientierten Union des Femmes unter der Führung von Elisabeth Dmitrieff und des eher “anarchistisch” geprägte Widerstandskomitees Montmartre, wo Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin André Léo oder die Aktivistin Paule Minck aktiv waren. Heiligt der Zweck die Mittel? Auf welche Weise sind feministische und sozialistische Argumentationen verbunden (oder auch nicht)? Warum wandte sich Louise Michel nach den Erfahrungen der Kommune von der Machtpolitik ab und dem Anarchismus zu? Am Beispiel der Pariser Kommune wo die Konfliktlinien zwischen widerstreitenden Strategien der Arbeiterinnenbewegung verliefen.

https://www.youtube.com/watch?v=SGRNRQMF40s

#Hintergrund #Pariser-Kommune #Anarchismus #Kommunismus #Feminismus #ArbeiterInnenbewegungen #Antje-Schrupp #Kantine-Sabot #2023-08-20 @Anarchismus

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#politik #geschichte #antifaschismus #kommunismus

»Nur wenn wir verstehen, dass der Faschismus eine zündende, mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen ausübt, die die frühere Existenzsicherheit und damit häufig den Glauben an die Ordnung von heute schon verloren haben, werden wir ihn bekämpfen können.«

  • Clara Zetkin: Der Kampf gegen den Faschismus, 20. Juni 1933

Die ganze Rede und Hitergrundinformationen: https://jacobin.de/artikel/clara-zetkins-kampf-gegen-den-faschismus-kommunistische-internationale-kapitalismus-bourgeoisie-sozialismus-strategie/

Eine Würdigung des antifaschistischen Engagements Clara Zetkins anlässlich des 100. Jahrestags ihrer Rede »Der Kampf gegen den Faschismus«: https://www.jungewelt.de/artikel/453185.erinnerungspolitik-geehrt-und-verfemt.html

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#kultur #kunst #malerei #schreiben #malen #töpfern #kubismus #kommunismus

Picasso: Malen ist Schreiben

Vor fünfzig Jahren starb der Künstler und Kommunist Pablo Picasso (Von Stefan Ripplinger)

Als Pablo Picasso vor fünfzig Jahren, am 8. April 1973, starb, hingen die Fahnen nicht auf Halbmast. Der Präsident Frankreichs hielt keine seiner salbungsvollen Reden. Kein Ehrenbataillon feuerte eine Salve ab. Doch die Töpfer von Vallauris, denen Picasso eng verbunden war, legten eine Schweigestunde ein. Mehr kann ein Künstler in unserer Zeit schwerlich erreichen als dies: dass ihn die Herrschenden verachten und die Handwerker ehren.

Bei Politikern und Kulturleuten gleichermaßen in Ungnade gefallen zu sein, verdankte er zwei Umständen, die zusammenhängen. Erstens befragte seine Kunst die gesellschaftlichen Gegenstände. Zweitens war er Kommunist geworden, und zwar nicht bloß auf dem Papier. Das war beides im Westen nicht erwünscht. Dabei blieb seine Frage dieselbe wie zu Beginn seiner Laufbahn: Wie müsste Kunst aussehen, wäre sie von heute? Wer Jazztanzer, Atomphysiker oder Marxistin ist, neigte von jeher dazu, die Frage so zu beantworten wie Picasso.

Prostituierte hinter Glas

Die enorme Produktivkraftentwicklung, die sich in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs entladen sollte, hatte gleichzeitig zu einer Verdinglichung und zu einer Verflüssigung der Welt geführt. Diesen Widerspruch undialektisch nach einer Seite, nämlich der Verflüssigung hin aufzulösen, war Sache der italienischen Futuristen. Sie gestalteten überaus effektvoll den Krach der Großstadt, die gleichzeitig einstürmenden Signale, die Auflösung alles Traditionellen, die rasende Beschleunigung, kurz die industriell-kapitalistische Moderne auf ihrem ersten Höhepunkt. Die Futuristen stürzten sich ins Getümmel und wurden Faschisten. Den Gegenentwurf bot Picasso.

Picassos »dialektische, von cervantischem Kontrast angefüllte, zerkeilte Natur«, wie Carl Einstein 1923 unnachahmlich formulierte (»Werke«, Band 2), hielt stets die Dissonanzen fest. Einerseits löste sich vieles auf und stieß vieles zusammen, andererseits rückte die Welt als verdinglichte ab, wurde fremd, und alle Humanismen zergingen wie Zucker im Kaffee. Dieses Resümee zieht eines der gewalttätigsten Gemälde der Moderne, die »Demoiselles d’Avignon« (etwa: Die jungen Damen aus der Avignonstraße; 1907).

Sehr weniges in der von Max Raphael (»Proudhon. Marx. Picasso«; 1933) »sentimental« genannten blauen oder rosa Periode mit ihren anmutigen Harlekinen, Akrobaten und Absinth-Trinkerinnen hätte auf diesen Generalangriff vorbereiten können, vor dem Georges Braque erklärte: »Es ist, als ob einer Petroleum getrunken hätte, um Feuer zu spucken.« Die »Demoiselles« werden gewöhnlich als Feier des Sexuellen gedeutet, aber nichts könnte falscher sein. Wir sehen eine Bordellszene, und die sich nackt präsentierenden Sexarbeiterinnen sind weit davon entfernt, irgendeinen Gefallen an ihrer Situation zu finden.

Prostitution ist der Inbegriff der Verdinglichung, weil der Arbeiterin nicht nur ihr Produkt, sondern auch der eigene Körper als Ware zum fremden Ding werden muss. Und Verdinglichung hat sich hier in der Form niedergeschlagen. Vordergrund und Hintergrund des Bildes sind oft ununterscheidbar, die fleischfarbenen Figuren gehen wie Mobiliar in den Raum ein. Figuren und Raum bestimmen sich gegenseitig und befinden sich in einem dem bloß optischen Realismus nicht mehr erklärbaren, unbequemen Verhältnis. Die zweite Gestalt von links, angelehnt an Michelangelos Skulptur »Der sterbende Sklave« (1513–1516), steht und sitzt gleichzeitig, es ist eine eingefrorene Bewegung, ein Sitzen zwischen den Stühlen.

Wie schon Charles Baudelaire schrieb, heißt die Prostituierte so, weil sie sich vorn hinstellt (pro-stituere), sie bietet sich am Straßenrand oder hier im Salon an. Wir stehen vor diesen Prostituierten wie vor einem Schaufenster, ihre Augen sind auf uns, die potentiellen Konsumenten oder Konsumentinnen, gerichtet. Die karyatidenhaft nach oben gereckten Arme der Damen wollen bedeuten: »Nimm mich, wenn du zahlst.« Doch Einladung ist hier zugleich Aussperrung. Zwar ist, wie Miles J. Unger (»Picasso and the Painting That Shocked the World«; 2018) bemerkt, »alles in Reichweite unserer gierigen Hände gerückt und entzieht sich doch völlig unserem Zugriff«. Es ist die antifuturistische Lösung, das Festhalten an der Entfremdung.
Am erstaunlichsten sind die beiden Figuren rechts außen, die Picasso ganz am Ende einfügte. Die obere reißt einen Vorhang auf, entblößt ihre Brüste, aber sie sind nichts als prismatische Form. Beider Gesichter wirken maskenhaft, was gewöhnlich mit der afrikanischen Kunst assoziiert wird. Und doch, schrieb Gertrude Stein in ihrem klugen Porträt des Freundes (1938), könnte nicht der afrikanische, sondern der arabische Einfluss wirksam sein. Die Afrikaner hätten die arabische Kunst ebenso aufgenommen wie die Spanier, die von den Arabern enorm profitierten, »und darum war die afrikanische Kunst, die Matisse naiv und exotisch fand, für Picasso, einen Spanier, etwas Natürliches, Direktes und Zivilisiertes«.

Völlig gleich, wie man zu ihrer These steht, erfasst sie einen ganz wichtigen Zug am Kubismus: Er ist immer auch, wie die arabische Kunst, kalligrafisch und deshalb – worauf Picassos Galerist Daniel-Henry Kahnweiler (unter anderem in »Mallarmé und die Malerei«; 1948) nachdrücklich hinwies – zeichenhaft. Der kubistische Picasso hat geschrieben, nicht bloß gemalt.

Geistige Waffen

Das Kalligrafisch-Zeichenhafte des Kubismus zeigte sich in seiner frühen, analytischen Phase (bis etwa 1911) allein schon an seinem Strich, der viel stärker ist als alle Gestalt und alle Farbe (ohnehin ist die Palette in dieser Zeit auf Braun- und Grautöne gedämpft). Gut zu erkennen ist eine Auflösung in Striche etwa auf dem »Gitarristen« von 1910. Es ist dies kein Prozess der Malerei allein. »Unabhängig von bloßen Subjektivismen ist die Wirklichkeit in Zeiten der Krise selber eine weithin zerspellte, eine keinesfalls nur mit breit-ruhiger Vermittlung treffbare«, schrieb Ernst Bloch 1940 à propos Picasso (»Erbschaft dieser Zeit«; 1962).

Carl Einstein stellt in seiner »Kunst des 20. Jahrhunderts« (1926) fest, bei den Kubisten seien die Dinge zu »Funktionssymptomen« geworden. Doch als die Funktionen sieht er, anders als Raphael, nicht die des Körpers selbst an, sondern die des Bearbeitens der Welt. »Man formuliert Aktzusammenhänge«, und der Akt ist zunächst der zergliedernde »Sehakt«, dann aber auch das Konstruieren, das Schöpfen der Welt und das von ihr Geschöpftwerden. »Das Wirkliche wird durch den Menschen erfunden.« Kubistische Gemälde dienen, so Einstein, als »geistige Werkzeuge«, wenn nicht sogar, wie es in Picassos bekannter Formel heißt, als »Waffen zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind«.

Auch wenn man Raphael darin nicht zustimmen mag, Picasso habe »die auseinanderstrebenden Bildteile in eine statische Harmonie« zusammengezwungen (das ist eher eine Tendenz bei Braque), ergibt sich auf dem Zenit des analytischen Kubismus eine wimmelnde Einheitlichkeit. Weil die Gegenstände der Welt aufgrund ihrer Kommodifizierung sich abstrakt einander angeähnelt hatten, konnten sie in ihre standardisierten Einzelteile zerfallen. Alles Organische war zu beliebig kombinierbarem Halbzeug aufgesprengt. Unbarmherziger ist die kapitalistische Welt seither nicht mehr behandelt worden.

In der synthetischen Phase tauchen – bei Picasso wie bei Braque – ganze Wörter und Sätze auf, sowohl aufgemalt oder schabloniert als auch aufgeklebt. Die erste Collage Picassos, »Stilleben mit Rohrstuhlgeflecht« (1912), lässt die Buchstaben »JOU« erscheinen. Wie viele spätere Collagen bestätigen, soll das »Journal« oder »Zeitung« bedeuten, und gerade mit der Zeitung, dem damals bedeutendsten Ideologischen Staatsapparat, wird so mancher Scherz getrieben. Ihre Wörter werden zu Spielmaterial. Verlieren sie darüber ganz und gar ihren Sinn? Vielleicht nicht, aber es wird klar, dass gerade die fettesten Schlagzeilen hohl sind.

Der zeichenhafte Kubismus war gleichzeitig die Erfüllung und die Verweigerung von Platons Staatsästhetik. Platon, der geharnischte Gegner aller nachahmenden Kunst, machte eine Ausnahme bei den Ägyptern, deren oft vielansichtige (man könnte sagen: kubistische) Bilder mit Piktogrammen versehen, also zugleich ikonische und symbolische Zeichen sind. Auf diese Weise sei der Sinn ihrer Bilder festgeschrieben worden. Bei den Ägyptern sei es den Künstlern nicht gestattet, »Neuerungen zu treffen oder anderes als das von den Vätern Überkommene anzusinnen« (»Nomoi«, 2, 656d).

Der Kubismus dagegen war zwar zeichenhaft, aber weder gesetzes- noch sinnkonform. Er brach mit der Kontemplation der Väter, also der Impressionisten. Er verweigerte sich der futuristischen Überaffirmation. Er war eine intellektuelle Anstrengung, aber wiederum nicht das, was später als begriffliche Konzeptkunst das Bild mit dem Bad ausschüttete. Politisch an ihm wirkt, dass er sich weder aus allem heraushielt noch sich in alles hineinmengte, sondern überall da materialistisch eingriff, wo sich ein überkommener Substanzbegriff breitmachte und vergessen wurde, dass die Welt denen gehört, die sie produzieren.

Auch das Bild, das die Verdinglichung anklagt, durfte sich nicht verdinglichen. Vor nichts, erklärte Einstein, müsse sich der Künstler so in acht nehmen wie vor der Gefahr, dass das eigene Schaffen zum Stil gerinnt, ja »gerade die dauernde Niederlage und Vernichtung der einheitlichen Person« ermögliche die »Mannigfaltigkeit der Gesichte«. Das allein schon erklärt Picassos rasanten Methodenwechsel. Bevor etwas Trademark werden konnte, war er längst woanders. Und doch gibt es Aspekte, die sich durchs Werk ziehen. Das Interesse am Kalligrafisch-Zeichenhaften etwa wird in den Dreißigern zu einem am Mythos.

Mut zum Mythos

Die mythischen Gestalten und Symbole sind besonders reich in der »Suite Vollard« (1930–1937) mit ihrer nicht überall ernsten, oft antipatriarchalisch zu deutenden Minotauromachie (das ist der vom Stierkampf überblendete Mythos von Theseus und dem Stiermenschen Minotauros). Mythologeme sind wie alle Symbole kollektiv, doch ist ihnen in unserer Zeit das Kollektiv verlorengegangen. Wo Picasso mythisch wird, greift er ein altes Kollektiv auf und verweist voraus auf ein neues. Nirgendwo ist das so deutlich wie auf »Guernica« (1937), auf dem die Minotauromachie in völlig neuer Beleuchtung erscheint.

Der Anlass zu diesem Hauptwerk ist wohlbekannt, sei aber mit Gijs van Hensbergen (»Guernica. Biographie eines Bildes«; 2004) noch einmal in Erinnerung gerufen: »Insgesamt 23 Junkers Ju 52, 4 Heinkel III, 10 Heinkel He 51, 3 Savoia-Marchetti S81 Pipistrelli, 1 Dornier Do 17, 12 Fiat CR 32 und möglicherweise auch einige Messerschmitt Bf109-Flugzeuge, frisch vom Fließband, hatten als vereinte deutsche und italienische Luftwaffe den Nichteinmischungspakt gebrochen. Es war das erste Flächenbombardement auf europäischem Boden.« Der Ort Gernika wurde völlig zerstört.

Diese Greuel frech für kommende Auslandseinsätze ausbeutend (wie es wenig später der grüne Joseph Fischer mit Auschwitz tun sollte), veröffentlichte die Bundeswehr 1990 eine doppelseitige Anzeige mit »Guernica« und dem Text (Auszug): »Die Bundeswehr hat ihren Auftrag nie mit Feindbildern begründet. Nicht ›Wogegen?‹, sondern ›Wofür?‹ lautet die Frage nach dem Sinn ihres Einsatzes. Denn es gibt viel zu verteidigen: Freiheit und Bürgerrecht, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von fremdem Druck. Und den Frieden … Dafür steht die Bundeswehr.«

Jenseits solcher heute allgegenwärtigen Propaganda bleibt aber im Bewusstsein, was Gernika war. Wie wird das von »Guernica« vermittelt? Dass es nicht möglich ist, das Bild ohne Wissen um seine mythischen Figuren zu begreifen, führt Peter Weiss im ersten Band seiner »Ästhetik des Widerstands« (1975) vor Augen. Zunächst sehen der Erzähler und seine Gefährten den Stier auf der linken Seite des riesigen Bildes (350x782 cm) als ein Tier, unter dem die schreiende Frau und ihr inzwischen totes Kind »Schutz gesucht hatten«. Überhaupt alle Gestalten und Gerätschaften erscheinen ihnen als im Untergang Gernikas wirklich vorhandene Objekte. Über diese buchstäbliche Ebene legen sie, nach dem Schema des vierfachen Schriftsinns, den Versuch, den Stier und das im Zentrum stehende Pferd allegorisch zu deuten; den Stier als »Dauerhaftigkeit des spanischen Volkes«, das Pferd als »ekelerregendes Ungetüm, mit Gesichtszügen, die an den Generalissimo erinnerten«. Auch das greift erkennbar daneben. Als erwägenswerte moralisch-anagogische Deutung fügen sie immerhin an, »das Zerfetzte« schließe sich »zu einer neuen Ganzheit«, zu einer »Abwehr« zusammen.

Erst als die Romanfiguren auf eine Minotauromachie Picassos stoßen, erkennen sie: »Dieses graphische Blatt war der Brunnen, aus dem das Guernicabild gestiegen war.« Beispielsweise ist das Pferd im Stierkampf der schwächste und verletzlichste Akteur. Deshalb trägt es auf dem Bild die Hauptlast des Leides. Der Stier als profaner Nachfahre des feindseligen Minotauros kann schwerlich das Volk sein. Und die elektrische Birne über allem ist anders, als Weiss’ Figuren meinen, nicht nur eine »Küchenlampe«, sondern auch ein traditionelles »Auge Gottes«, obwohl oder gerade weil Er tot ist.

Der geteilte Picasso

Die von Picassos Gefährtin Dora Maar fotografierten Stadien der Entwicklung von »Guernica« zeigen, dass sowohl der Marktplatz von Gernika als auch eine geballte Kommunistenfaust zu sehen war. Im Zuge einer immer größeren Verallgemeinerung oder Mythisierung nahm der Künstler diese Entwürfe zurück. Anders als die zeitgleich entstandenen Radierungen »Traum und Lüge Francos« soll »Guernica« nicht unmittelbar politisch intervenieren. Seine Politik ist allegorisch, das heißt aber gerade nicht, dass sie sich allein Kunsthistorikern erschließen soll, die doch ohnehin die falschen Parteien wählen. Allein schon das bifunktionale Format des zusammenrollbaren Wandbildes zeigt, dass es sich an viele, wenn nicht alle wendet. Wie später das monumentale Diptychon »Krieg und Frieden« (1952/1959) ist »Guernica« zugleich architektonisches Element und reisefähig, gedacht für den öffentlichen, nicht den Museumsraum, for all to see.

Das mythische Symbol richtet sich – wie einst die Kirchenbilder an Bauern – an die des Lesens nicht Kundigen. Paradoxerweise ist es in einer Zeit, in der alle lesen können, nur für wenige noch lesbar. Vielleicht würde es helfen, mit den Fingern lesen zu lernen. Die Figurenwelt von »Guernica« begreift besser, wer die keramischen Arbeiten Picassos betrachtet, mit denen er 1947 bei den Töpfern von Vallauris begann. Diese Artefakte spiegeln eine höchst eigenwillige Volkstümlichkeit. Einerseits greift Picasso ein uraltes Kunsthandwerk auf, andererseits wandelt er dessen Formen auf völlig eigenständige Weise ab. Auch hier sind Tiere pseudo-totemistische Abkömmlinge einer teils erfundenen, teils wiedergewonnenen Mythologie.

Die Politik des alten Picasso wird nicht nur in dieser Hinsicht immer praktischer. Im Oktober 1944 war er in die Kommunistische Partei Frankreichs eingetreten. Politischer Aktivismus war ihm auch zuvor nicht völlig fremd. Als junger Mann hatte er wiederholt für die Unabhängigkeit Kubas demonstriert, 1909 gehörte er zu denen, die vehement gegen die Hinrichtung des Anarchosyndikalisten Francesc Ferrer i Guàrdia protestierten. Doch die Parteiarbeit brachte eine neue Qualität in sein Leben, wovon der Bericht seines Genossen Georges Tabaraud (»Mes années Picasso«; 2002) zeugt. Obwohl Picasso nicht gern reiste, nahm er nun an Friedenskongressen in ganz Europa teil. Er zeichnete Plakate und Titelseiten. Er unterzeichnete Petitionen, überredete manchmal auch Henri Matisse zu einer Unterschrift. Er war sich buchstäblich für nichts zu schade.

Konflikte gab es einige. Nach dem Tod Stalins hatte Picasso ihn so gezeichnet, wie er 1917 ausgesehen haben mochte. Der Stalin des Oktober, nicht das »Väterchen der Völker« galt ihm etwas. Das führte zu einem Aufruhr der Funktionäre. Picasso war nicht amüsiert: »Ihr haltet mich wohl für einen Volltrottel. Ich fertige eine Zeichnung als Hommage an, und dafür kriege ich von euch Tritte in den Arsch.« Der legendäre Parteiführer Maurice Thorez klärte die Angelegenheit.

Thorez’ Tagebuch belegt, dass er mit dem Künstler in ständigem Kontakt stand. Unter dem 31. Januar 1963 notiert er, ein Genosse habe Picasso die Zeichnungen eines jungen sowjetischen Malers gezeigt. »Pablo sagt: ›Er soll nur weitermachen!‹ und fügt hinzu: ›Man spricht gern von reinen Linien, aber wenn man es beispielsweise beim Zeichnen eines Gesichts in dieser Hinsicht zu weit treibt, kommt ein Ei heraus. Das ist die reinste reine Linie‹.« So hatte er Thorez beiläufig das Geheimnis seiner kalligrafischen Kunst und die Dialektik der Reinheit offenbart. Und Thorez war vermutlich der letzte Parteiführer, der für so etwas empfänglich war.

Picasso, der vor dem Zweiten Weltkrieg seine Zeit verkörperte, verkörperte nach dem Krieg eine Gegenzeit. Er förderte in einer sich atomisierenden Gesellschaft ein kollektives Moment des Mythischen, des Handwerks, des Proletarischen, des Revolutionären.

Wie Julia Friedrichs wegweisende Ausstellung »Der geteilte Picasso« (Köln 2021; 2022 gefolgt von einer kleinen, aber verdienstvollen Schau der NGBK Hellersdorf) aufgezeigt hat, konnten Picasso auf diesem Weg im Westen nur sehr wenige folgen. Im Osten dagegen, wo kaum eines seiner Werke zu sehen war, verlief die Diskussion kontrovers, jedoch auf hohem Niveau. Carlfriedrich Claus, der wohl bedeutendste Künstler der DDR (und selbst ein Kalligraf), wies in der Zeitschrift Bildende Kunst (7/1956) zugunsten Picassos darauf hin, Realismus gehe über »den optisch wahrnehmbaren Ausschnitt, der gern als ganze Wirklichkeit hingestellt wird«, hinaus.

Malen ist nicht nur Sehen, es ist auch Schreiben, nicht etwa, um platonistisch eine Idee zu fixieren, sondern um Gruppen von Leserinnen und Lesern anzuziehen. Der alte Pablo Picasso stellte sich seine Werke, explizit »Krieg und Frieden«, als Orte der Versammlung, des Festes, der Diskussion vor. Kunst erfüllt sich im Gebrauch. Das hatte vor ihm nur der Dichter Stéphane Mallarmé in dieser Radikalität gesehen.
- https://www.jungewelt.de/artikel/448476.bildende-kunst-malen-ist-schreiben.html

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#kunst #kultur #literatur #kommunismus #politik #chile #mord #faschismus

„Auch wenn du alle Blumen abschneiden kannst, kannst zu nicht vermeiden, dass es Frühling wird.”

  • Pablo Neruda ## 50 Jahre danach: Mord an Pablo Neruda bewiesen #### Forensische Untersuchung bestätigt: Chilenischer Dichter wurde 1973 von rechten Putschisten vergiftet (Von Volker Hermsdorf) Knapp 50 Jahre nach dem Tod Pablo Nerudas hat ein internationales Team von Forensikern festgestellt, dass der chilenische Poet und Literaturnobelpreisträger an einer Vergiftung gestorben ist. Laut der bisherigen offiziellen Version soll Neruda am 23. September 1973 – zwölf Tage nach dem von der CIA initiierten Putsch Augusto Pinochets gegen die Linksregierung des Präsidenten Salvador Allende –, nur wenige Stunden bevor ein Flugzeug ihn ins mexikanische Exil bringen sollte, in einer Klinik in San­tiago an Prostatakrebs gestorben sein. Sein früherer Sekretär und Fahrer Manuel Araya hatte dagegen ausgesagt, dass dem prominenten Gegner der faschistischen Junta dort eine tödliche Spritze verabreicht worden sei. Nun scheint es Gewissheit darüber zu geben, dass Neruda, der auch Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chiles war, ermordet wurde.

Am Mittwoch (Ortszeit) überreichte ein Expertengremium Ministerin Paola Plaza den forensischen Bericht, dessen Übergabe wegen der Waldbrände in Chile zweimal verschoben worden war. Nach Angaben der Justizbehörden sollen die vollständigen Ergebnisse am 7. März veröffentlicht werden. Nerudas Neffe, der Anwalt Rodolfo Reyes, hatte sich allerdings vorab bereits zum Inhalt des vorläufigen Berichts geäußert. Danach konnte durch die gerichtsmedizinische Untersuchung das Bakterium Clostridium botulinum im Körper des Dichters nachgewiesen werden. Das Bakterium produziert ein Toxin, das die Muskeln lähmt und zum Tod führen kann. »Wir wissen jetzt, dass es keinen medizinischen Grund gab, warum Clostridium botulinum in seinen Knochen war«, sagte Reyes am Montag der spanischen Nachrichtenagentur Efe. Neruda ist neben seiner Frau Matilde Urrutia in seinem langjährigen Wohnort Isla Negra (120 Kilometer westlich von Santiago de Chile) begraben. Die Keime seien laut dem forensischen Bericht der Experten weder aus dem Sarg noch aus der Umgebung in den Körper des toten Poeten eingedrungen. »Das bedeutet, dass Neruda 1973 durch das Eingreifen staatlicher Agenten ermordet wurde«, erklärte Reyes.

Die Untersuchung bestätigt die von Nerudas ehemaligem Chauffeur bereits vor mehr als zehn Jahren erhobenen Vorwürfe. Araya hatte stets behauptet, Neruda habe ihn nur wenige Stunden vor seinem Tod aufgeregt aus dem Krankenhaus angerufen und gesagt, ihm sei im Schlaf eine Spritze verabreicht worden. Nachdem der Anschuldigung zunächst nicht nachgegangen worden war, stellte die Kommunistische Partei Chiles im Jahr 2011 Strafantrag wegen Mordverdachts, um dadurch eine Aufklärung zu erzwingen. Aufgrund der Anzeige ordnete ein Gericht in Santiago 2013 die Exhumierung der sterblichen Überreste Nerudas an. Der Dichter sei höchstwahrscheinlich durch die Einwirkung Dritter getötet worden, hieß es dann 2015 von seiten der chilenischen Behörden. Genaueres konnte jedoch nicht ermittelt werden, da das chilenische gerichtsmedizinische Institut zu diesem Zeitpunkt nicht über die Technologie verfügte, um eine Vergiftung nachzuweisen, die 40 Jahre zurücklag. Internationale Experten bekräftigten allerdings 2017, dass der Schriftsteller nicht an Prostatakrebs gestorben sei.

Der Kommunist Pablo Neruda war einer der international prominentesten Fürsprecher der chilenischen Volksfrontregierung (Unidad Popular) und ein ernstzunehmender Gegenspieler der faschistischen Putschgeneräle. Die Werke des 1971 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Poeten waren von 1973 bis 1990 in Chile verboten. Der Anwalt der Kommunistischen Partei, Eduardo Contreras, hatte vor der Exhumierung im Jahr 2013 als Motiv für einen möglichen Mord vermutet, dass Nerudas Flucht nach Mexiko verhindert werden sollte. Von dort aus hatte er den weltweiten Widerstand gegen die Diktatur in seiner Heimat organisieren wollen. Wegen seiner internationalen Reputation und seines Einflusses wäre Neruda im Exil sowohl für Diktator Pinochet und seine Junta als auch für die USA, deren Geheimdienste den Staatsstreich vorbereitet und unterstützt hatten, eine Bedrohung gewesen, erklärte Contreras. Rodolfo Reyes sagte damals aus, dass seine Mutter bereits kurz nach dem Tod Nerudas zu ihm gesagt habe: »Sie haben deinen Onkel ermordet.«
- https://www.jungewelt.de/artikel/445236.vor-50-jahren-mord-an-neruda-bewiesen.html

mikhailmuzakmen@pod.geraspora.de

#kunst #kultur #literatur #theater #politik #kommunismus #avantgarde #geschichte

„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“

  • Bertolt Brecht, Me-Ti. Buch der Wendungen

Der Nicht-Tui: Bertolt Brecht zum 125. Geburtstag

Faschistische wie liberale Antikommunisten haben versucht sein Werk auszumerzen: Die Faschisten verbrannten seine Bücher im Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz. Sie hätten ihn auch umgebracht, wäre er nicht wenige Wochen zuvor, am Tag nach dem Reichstagsbrand, geflohen – zunächst für einige Jahre ins Exil nach Dänemark und dann über Schweden, Finnland und die Sowjetunion schließlich nach Santa Monica an der US-amerikanischen Pazifikküste. In den USA zerrte man ihn wenige Jahre später, zu Beginn des „Second Red Scare“, also der zweiten Welle der Kommunistenverfolgungen in den USA (1947-1957), mit Hunderten anderen Intellektuellen vor das „House Committee of Un-American Activities“. Und nach seiner Rückkehr nach Europa belegte ihn das Bürgertum in der postfaschistischen Bundesrepublik und in Österreich zunächst mit Aufführungsboykotten oder versuchte sein durch und durch politisches Werk zu entpolitisieren.

Totzukriegen war der vor 125 Jahren, am 10. Februar 1898, im bayrischen Augsburg geborene Schriftsteller Bertolt Brecht jedoch nicht: Schon in den frühen 1920er Jahren war der Dramatiker, Lyriker und Belletrist eine lebende Legende. Und bis heute kann man ihn mit Fug und Recht als den bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker der Welt bezeichnen.

In den westlichen Besatzungszonen hatte man Brecht die Einreise verwehrt. Auch auf die Bemühungen seiner Berliner Freunde, nicht zuletzt Wolfgang Langhoff vom Deutschen Theater, zog er 1948 nach Berlin in die Sowjetische Besatzungszone und spätere DDR. Das „Theater am Schiffbauerdamm“, das bis heute das Brecht-Theater „Berliner Ensemble“ beherbergt, wurde zu seiner neuen Heimat. Von hier ging sein globaler Einfluss aus. Sein „episches Theater“, seine theoretisch unterfütterten Überlegungen zum „Verfremdungseffekt“ und die Überwindung der „Guckkastenbühne“, der spezifische Einsatz von nichtaristotelischen Lied-Chorälen revolutionierten das moderne Theater weltweit. Es gibt ein internationales Theater vor und ein internationales Theater nach Brecht. „It’s very Brechtian“ gehört zum Arsenal heutiger Theaterkritiken ganz selbstverständlich dazu, denn Brechts Handschrift und die Übernahme seiner Techniken durch nachgeborene Stückeschreiber*innen sind unverkennbar. Ohne ihn gäbe es heute weder Tony Kushner noch Osvaldo Dragún.

Als Marxist liebte Brecht das Historische, das materialistische Denken und die Dialektik. Sein philosophisch-aphoristisches Hauptwerk „Me-ti: Buch der Wendungen“ war in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren neben den Marx’schen „Grundrissen der politischen Ökonomie“ und den Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci eine wesentliche Lektüre für die Wiederentdeckung eines unverknöcherten, lebendigen Marxismus. Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug erhob Brecht später zusammen mit Gramsci zurecht in den Stand eines marxistischen Philosophen erster Güte. Für Brecht, der seinen Marxismus in der Mitte der 1920er Jahre im Umfeld der KPD – Mitglied wurde er indes nie – und von Intellektuellen wie Karl Korsch, Ernst Bloch, Fritz Sternberg und seinem engen Freund Walter Benjamin lernte, waren alle scheinbaren Dinge in Wirklichkeit Verhältnisse und (Entwicklungs-)Prozesse. Und so sah er auch sich selbst, als Intellektueller in einem Netz von Beziehungen, im Kollektiv, im Bund mit den revolutionären Teilen der organisierten Arbeiter*innenbewegung. Für die ich-fixierten Intellektuellen hatte er nur Spott übrig.

Mithilfe der Dialektik lässt sich auch der Schriftsteller selbst entschlüsseln: Brecht war Sohn eines Prokuristen und späteren Direktors einer Papierfabrik, also Sohn bürgerlicher Funktionseliten. Aber er liebte Arbeiter*innen, Gosse, Kleinkriminelle und den Boxkampf. Und er beging konsequenten Verrat an seiner Herkunftsklasse, indem er sein Denken und Schreiben in den Dienst der sozialistischen, revolutionären Arbeiter:innenbewegung stellte.

Brecht kritisierte nun nicht die Gier einzelner kapitalistischer Gauner, sondern wollte den Kapitalismus als System abschaffen und durch die klassenlose Gesellschaft, durch den Kommunismus ersetzen. Aber er beharrte darauf, dass die „Kapital-Verbrecher“, die „Charaktermasken“ des Kapitals auch „Name und Anschrift“ haben. Gegen sie schrieb er Texte wie „Das Lied vom Klassenfeind“.

Brecht war ein weitläufig gebildeter, sich ständig weiterbildender Großintellektueller. Aber er misstraute seiner Zunft grundsätzlich, nannte sie ziel- und erkenntnislose „Tuis“ (Tellekt-Uell-Ins“), die ihren Intellekt vermieten, „Bemäntler“, „Weißwäscher“, „Kopflanger“ der Bourgeoisie. Sei es, weil sie sich unmittelbar und bewusst in den Dienst der Verteidigung der bestehenden Eigentumsordnung und Machtverhältnisse stellten oder durch apolitische Haltungen und Eskapismus aus dem Streit der Welt herauszuhalten trachteten. Hiergegen forderte Brecht ein „simples Denken“, das gesellschaftliche Zusammenhänge erhelle statt sie zu verrätseln, das in Zustände des Unrechts eingreife und sich ins Handgemenge mische statt schöngeistig nur sich selbst zu gehören.

Brecht war mithin ein großer Kritiker des Formalismus, spottete über die Formalisten, die aus einem Lorbeer eine Kugel zu formen trachten, bis vom Lorbeer, also dem Inhalt, nichts mehr übrig ist. Dennoch verteidigte er im „Expressionismusstreit“ mit Georg Lukacs auch die modernen Literaturtechniken: den Gedankenassoziationen im Kopf wiedergebenden „Bewusstseinsstrom“, den inneren Monolog, die Montage, also das Zusammenfügen verschiedener Textgattungen, oder das filmisch beschreibende „camera eye“, so wie sich diese Erzählformen in der Literatur der Zeit finden ließen, bei John Dos Passos, James Joyce, Virginia Woolf, William Faulkner oder Franz Kafka. Die Vorstellung, dass sozialistische Literatur sich ausschließlich am bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts zu orientieren und, darauf aufbauend, einen „sozialistischen Realismus“ zu entwickeln habe, lehnte Brecht ab.

Brecht kritisierte aufs Schärfste und verspottete mit beißender Ironie die bürgerliche Moral, rechts- wie linksliberal. Sicherlich wäre er, um die jüngste Frage der FAZ zu beantworten, heute nicht im wohlfeil-moralinsauren Sinne des Wortes „woke“. Aber er fühlte zutiefst egalitär, solidarisch, sozialistisch, internationalistisch und lebte seine Ideale, pflegte tiefe Freundschaften.

Brecht war ein „zoon politikon“, ein durch und durch politischer Mensch und Kämpfer. Aber er mahnte, dass der Kampf auch die Züge verzerre und betonte nicht zuletzt in seinen Gedichten, in der „Hauspostille“ und andernorts, das Sinnliche, nah am Herzen Stehende, Achtsame so sehr wie er es auch selbst lebte.

Er scharte eine Reihe der avantgardistischsten Komponisten seiner Zeit um sich, vor allem den Arnold Schönberg-Schüler Hanns Eisler, aber auch Paul Dessau und Kurt Weill. Letzterer wiederum machte ihn in den USA und der Welt berühmt. Zugleich pflegte er die Nähe zu Arbeiterschriftstellern wie Willi Bredel aus dem kommunistischen „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ und Arbeiterschauspielern wie Ernst Busch oder Erwin Geschonneck, die die von Eisler, Dessau und Weill vertonten Brecht-Stücke und Lieder zur Aufführung brachten und als Massengesang in der Arbeiter*innenklasse verankerten, nicht zuletzt durch Brechts Arbeit am Film „Kuhle Wampe“.

Brecht war klug und gebildet und als „Enfant terrible“ des jungen Weimarer Theaters erfolgreich. Schon mit Anfang 20 sagte er über sich, er sei auf dem Weg zum „Weltstar“. Aber er war bescheiden genug, seine Grenzen anzuerkennen, und begab sich wieder in die Rolle des Schülers, des Lernenden, des Lesenden und studierte zum Verständnis der Funktionsweise der Weizenbörsen „Das Kapital“, wurde Marxist.

Brecht lehrte Generationen von Schüler*innen, von Manfred Wekwerth bis zu Carl „Charly“ Weber. Aber er lernte auch ständig selbst und war in diesem Sinne unserem heutigen Verständnis der dialogischen Pädagogik von Antonio Gramsci weit voraus, ein lebendes Beispiel. „Alle Menschen sind Intellektuelle, aber nicht jeder Mensch erfüllt die Funktion eines Intellektuellen“ – Brecht lebte diesen Gramscianischen Satz.

Später wurde ihm unter anderem von Johen Fuegi der Vorwurf gemacht, dass er in seinen vielen Liebschaften auch intellektuelle Vorteilsnahme betrieben habe. Der Vorwurf: Seine Stücke wären nicht ohne die Frauen in seinem Umfeld – Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Margarete Steffin – möglich gewesen. Die Brechtforscherin Sabine Kebir hat hiergegen eingewandt, dass Brecht durch und durch Feminist war. Er habe nicht nur die emotionale und finanzielle Unabhängigkeit der Liebenden als Voraussetzung für Liebesfähigkeit gesehen, sondern auch als Ghostwriter unentgeltlich für die Frauen in seinem Umfeld gewirkt, als ihre Karrieren nicht vom Fleck kamen. Auch hätten Helene Weigel und er die Frauen – für Weigel ja eigentlich Nebenbuhlerinnen – immer uneigennützig unterstützt, wo dies nötig war. So oder so: In jedem Fall entsprach dies Brechts Vorstellung von kollektivem, kooperativem Arbeiten und Verantwortungsübernahme über die Kleinfamilie hinaus. Für Brecht war dabei Liebe ganz allgemein eine „Produktion“, die „Freundschaft“ voraussetze, weil nur durch sie sich Liebe immer wieder neu herstellen könne.

Und schließlich: Der 16jährige Gymnasiast Brecht war auch einmal kriegsbegeistert und sah im Ersten Weltkrieg die Pflicht zur Verteidigung des Vaterlands, als die russische Armee in Ostpreußen einmarschierte und man im Westen gegen den französischen Erzfeind kämpfte. Aber er erkannte, wie so viele Schriftsteller seiner Zeit, bald seinen fürchterlichen Irrtum und schrieb alsbald Antikriegsgedichte wie „Die Legende vom toten Soldaten“. Und später sein berühmtes Drama „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Schwejk im Zweiten Weltkrieg“ und die „Kriegsfibel“.

Begraben liegt Bertolt Brecht heute auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte, wo sie – fast – alle liegen, die ihn inspirierten, die mit ihm lebten, liebten und kämpften: Der große Dialektiker Hegel, Helene Weigel, Ruth Berlau und Elisabeth Hauptmann, die Brecht-Komponisten Hanns Eisler und Paul Dessau, die Zeitgenossinnen aus dem Umfeld des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Anna Seghers, Elfriede Brüning und Wieland Herzfelde, die Regisseure Wolfgang Langhoff, Slatan Dudow und Peter Palitzsch, die Brecht-Schauspieler Erwin Geschonneck, Ekkehard Schall und Gisela May, Peter Palitzsch, seine Tochter Barbara Brecht-Schall, der Brecht-Herausgeber Werner Hecht und der ohne Brecht undenkbare Heiner Müller.

Brecht ruht so direkt neben dem Haus, in dem er in Ostberlin zusammen mit Helene Weigel lebte, und in dem heute das Literaturforum im Brecht-Haus sein Zuhause hat. Der Mensch, dessen grundsätzlicher Antikapitalismus für das Bürgertum so unbequem war, dass man ihn und sein Werk auszulöschen versuchte, bleibt lebendig und aktuell. Denn die Aufgabe, das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen, die Klassengesellschaft zu überwinden und eine neue Welt, in der der Mensch dem Menschen kein Wolf mehr, sondern ein Helfer ist, ist nach wie vor unverwirklicht.
- von Ingar Solty (Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur der Zeitschrift LUXEMBURG.)

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https://www.hagalil.com/2023/01/rede-an-den-kleinen-mann/

Wilhelm Reich erlebte als Zeitzeuge und, letztlich wehrloser, Akteur, anfangs mit ungläubigem Staunen und dann mit Entsetzen, wie der „kleine Mann“ – also auch der deutsche bzw. österreichische Kommunist; Reich war in Wien und Berlin anfangs noch KPD-Mitglied und wurde von diesen dann 1933 aus politischen Gründen ausgeschlossen – anfangs litt, dann seine Feinde verehrte und schließlich in durchaus nicht wenigen Fällen zu ihnen überlief.

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