Rede von Iris Hefets und Nadija Samour
Es fehlt an zivilem Widerstand gegen totalitäre Tendenzen
Wie in unserem Bericht über die Friedensmanifestation am vorletzten Samstag angekündigt, wollen wir neben den Videos der Reden auch die Texte veröffentlichen. Das sehen wir als notwendig an, zum Einen, weil wir sie inhaltlich wichtig finden einen Weg zum Frieden aufzuzeigen, zum Anderen, weil wir immer noch über das Schweigen in den Medien über diese Demonstration für eine andere Politik entsetzt sind.
Es folgt die Rede von Iris Hefets (Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost) gemeinsam mit Nadija Samour (deutsch-palästinensische Juristin), auf der Kundgebung NEIN zu Kriegen! am 25.11.23 am Brandenburger Tor in Berlin.
Iris
Guten Abend. Vor 21 Jahren habe ich meine Familie aus Israel zur Auswanderung nach Berlin gezwungen. Sie waren damit unglücklich. Ich sah aber keine Zukunft in einer zunehmend militaristischen Gesellschaft. Kurz darauf war ich auf der Straße mit Hunderttausenden aller Couleur in Berlin, die gegen den Krieg im Irak demonstrierten. Als Israelin mit so vielen Menschen zusammen gegen den Krieg zu protestieren, ich dachte, wirklich, dass ich mitten in einem Traum gelandet bin. Das war Deutschland 2003, in dem Nationalismus, Militarismus und Krieg noch umstritten waren. Ein Deutschland, in dem auch noch viele Menschen aus eigener Erfahrung wussten, was Krieg bedeutet. 20 Jahre später werden Menschen, die zum Waffenstillstand aufrufen, als Putin Versteher und Hamas Unterstützer denunziert. Das macht Angst.
Nadija
Ja, 20 Jahre später leben wir in einem Deutschland, in dem die bedingungslose Solidarität mit Kriegsverbrechen und Genozid Staatsräson ist und in dem Palästinenser*innen und ihre Unterstützer*innen de facto keine Grundrechte mehr haben. Ich möchte uns alle daran erinnern, was gerade im Gaza Streifen passiert. Denn es scheint so, als würden die deutschen Medien versuchen, das unermessliche Leid, verursacht durch die israelische Kriegsmaschinerie mit der vollsten Unterstützung der USA und der EU zu verzerren und zu leugnen.
Während wir hier stehen, wurden mehr als 14.800 Menschen ermordet, die Hälfte von ihnen Kinder. Mehr als 6.800 Menschen liegen noch immer unter den Trümmern zerstörter Wohnhäuser und Schulen. 1,7 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Das sind 97% der gesamten Bevölkerung eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Und dabei stellt sich die Frage Wohin sollen sie denn fliehen? Denn der Gazastreifen ist nicht nur seit Jahrzehnten belagert und besetzt, sondern ist auch noch seit Anfang Oktober komplett abgeschnitten von Treibstoff, Strom, Wasser und Nahrungsmitteln, ohne dass die internationale Gemeinschaft etwas unternommen hätte, Leben zu retten.
Fast 100 Journalist*innen sind im Gaza Streifen und im Westjordanland von der israelischen Armee ermordet worden. Medizinisches Personal, Krankenhäuser, Ambulanzen, Schulen, Flüchtlingslager, Moscheen, Kirchen. Alles wird bombardiert und zerstört. Und dann wird auch noch behauptet, die Opfer seien selbst schuld, weil sie sich angeblich mit der Hamas gemein machen würden. Aber die bedingungslose Solidarität mit Kriegsverbrechen und Genozid hat in Deutschland nicht erst seit Oktober die Politik bestimmt. Die Normalisierung und die vollste Unterstützung mit Wort und Tat von israelischem Siedlungskolonialismus, von Apartheid und von Militärbesatzung der palästinensischen Gebiete hat ja gerade Deutschland den Weg dahin geebnet, wieder als Großmacht in der Weltpolitik mitmischen zu können.
Iris
Nach dem letzten Weltkrieg musste sich Deutschland neu aufstellen, weil die Deutschen mit den direkten Opfern nicht sprechen konnten, weil sie entweder von ihnen ermordet worden waren oder wenn sie entkommen konnten, von Deutschland nichts mehr wissen wollten. Es wurde ein passendes Ersatzobjekt für die Wiedergutmachung gefunden. Der israelische Staat. Das war eine gute Lösung für alle Beteiligten. Adenauer konnte weiter mit alten Nazis Deutschlands Wiederaufbau betreiben. Ben Gurion, der für die erste ethnische Säuberung in Palästina verantwortlich war, erhielt dringend benötigtes Geld. Eine Hand wäscht die andere.
Es waren vor allem zivile Initiativen, die in Deutschland die öffentliche Auseinandersetzung mit tiefsitzendem Antisemitismus und den begangenen Verbrechen angestoßen haben. Beispielhaft sind oder seien Projekte wie die Stolpersteine oder die Orte der Erinnerung im bayerischen Viertel genannt.
Die deutsche Politik hat dann diese moralische Goldmine entdeckt. Hat dann die Juden als Objekt der Wiedergutmachung gewählt und Israel als seine Repräsentanz. Aus den Juden, die fast vernichtet wurden, weil sie für das Böse standen, sind die Guten geworden. Sehr bequem. Der Zentralrat der Juden repräsentiert heute, weniger als die Hälfte der etwa 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Noch zu Zeiten von Heinz Galinski und Ignatz Bubis kooperierte er mit anderen Minderheiten und solidarisierte sich mit ihnen. Heute wird er von dem deutschen Staat großzügig finanziert und gegen Muslime instrumentalisiert.
In den 30er Jahren haben auch viele deutsche Jüdinnen und Juden den gegen sie gerichteten Rassismus verleugnet und waren sicher, dass die Deutschen nur etwas gegen Ostjuden haben und dass sie geschützt werden, weil sie im ersten Weltkrieg für Deutschland kämpften. Wenn es heute gegen Muslime geht, wird es morgen auch wieder gegen Juden gehen.
Nadija
Gleichzeitig hat Deutschland die Palästinenser*innen zu Staatsfeinden erhoben und all die barbarischen Eigenschaften wie Antisemitismus, Frauenhass, queerphobie und so weiter werden auf sie projiziert. Die Schaffung dieses Feindbild dient einem deutschen Nationalismus, der wieder wer in der Welt sein will. Israel dient dabei dem Zurschaustellen eines Ersatznationalismus. Ein geläutertes Großdeutschland, das seine tödlichen Grenzen aufrüstet, mit Massenabschiebungen droht, rassistische Ausschlüsse durch die Verschärfung des Aufenthalts-und Einbürgerungsrechts produziert und jeglichen Widerstand dagegen mit Polizeigewalt, mit Demonstrationsverboten und Diffamierungen zu verhindern sucht. Ein geläutertes Großdeutschland, das seinen Standort und Nationalismus an Rüstungsexporten misst, während es meint, mit seinem Werteimperialismus eine reine Weste bewahren zu können.
Iris
Es fehlt an zivilem Widerstand gegen diese ansteckenden totalitären Tendenzen, die unter dem Denkmantel des Kampfs für die westliche Werte in der Ukraine oder dem Kampf gegen Antisemitismus erkennbar sind. Dabei ist der Zusammenschluss Adenauer, Globke, Ben Gurion und ethnischer Säuberungen heute in der Form von Scholz, Habeck, AfD, Netanjahu, Genozid in Gaza lebendig.
Oder besser gesagt tödlich. Wir erleben die Zuspitzung einer Entwicklung, die vor geraumer Zeit einsetzte. Ilan Pappé, Norman Finkelstein oder Hajo Meyer, alle drei Juden und Überlebende des Holocaust bzw. deren Nachkommen wurden schon vor Jahren von der Stadt München der Trinitas-Kirche in Berlin und der Heiligkeits-Kirche in Frankfurt, der Heinrich Böll Stiftung und der Rosa Luxemburg Stiftung nach anfänglichen Zusagen wieder ausgeladen bzw. ihnen wurden versprochene Veranstaltungsräume verwehrt. Die genannten Institutionen gaben damit dem Druck sich pro-israelisch gebender Kreise nach, da Finkelstein, Pappé und Meyer die israelische Politik scharf kritisieren und deshalb als Antisemiten denunziert wurden. Diese Säuberungsaktionen des Staates werden nicht zuletzt durch vermeintlich progressive Akteure und nicht die AfD oder andere braune Organisationen umgesetzt.
Und dabei werden Kinder und mittlerweile Enkelkinder von Holocaust-Überlebenden, von deutschen vorgeblich judenfreundlichen Politikern belehrt, was Antisemitismus ist. Das deutsche Grundgesetz wird entleert, wenn der Bundestag Gesetzgebungen durch Resolutionen ersetzt. Die Anti-BDS-Resolution des Bundestages, die von der AfD bis zur Linken fast ausnahmslos unterstützt wurde, war ein alarmierendes Zeichen. Die Abgeordneten wussten, dass deren Inhalt als Gesetz keine Chance hatte, weil der Beschluss gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf Meinungsfreiheit verstieß. Das Perfide ist, dass gegen eine solche Resolution juristisch nicht zu unternehmen ist, weil sie juristisch nicht bindend ist.
Jetzt droht uns eine weitere Resolution unter der Überschrift "Jüdisches Leben in Deutschland schützen". Wer danach noch Israel kritisiert, also sich des sogenannten Israel bezogenen Antisemitismus schuldig macht, riskiert nicht eingebürgert oder abgeschoben zu werden. Die AfD muss gar nicht mehr an die Regierung kommen. Ihre ausländerfeindliche Agenda wird schon umgesetzt.
Nadija
Als Anwältin, die viele Mandate aus der palästinensischen Gemeinde erhält, kann ich berichten, dass uns antipalästinensische und antijüdische Repression, wie sie Iris beschreibt, seit vielen Jahren sehr gut bekannt ist. Menschen verlieren ihre Arbeit und ihr Aufenthaltsrecht. Kunst und Kulturinstitutionen verlieren ihre Förderung. Polizeigewalt gegen Demonstrierende wird bejubelt. Es herrscht eine erschreckende Stimmungsmache in den Medien und auch ein generelles Klima der Einschüchterung.
Doch seit Oktober erleben wir all dieses mit einem Ausmaß, das selbst ich nicht habe kommen sehen. Allein in Berlin sind im Oktober per Allgemeinverfügung alle Palästina Demonstrationen pauschal verboten worden. Die pro-israelischen Jubeldemos allerdings, organisiert durch den Staatsapparat, die fiel natürlich nicht unter das Demonstrationsverbot. In Neukölln, ein arabisch geprägter Arbeiterkiez, beherrschte die Polizei die Straßen in einem Klima der Straflosigkeit. Arabisch aussehende Menschen wurden willkürlich auf der Straße angehalten, durchsucht und registriert. Schulkinder wurden Disziplinarmaßnahmen und Gewalt durch Lehrer*innen ausgesetzt, weil die Berliner Schulsenatorin die Kufi oder andere palästinensische Symbole verbieten wollte. Und wir haben es nun mit tausenden, wirklich tausenden Gerichtsverfahren gegen Menschen zu tun, die ihr grundrechtlich verbrieftes Versammlungsrecht wahrnehmen wollten. Aber wir müssen es auch klar und deutlich sagen. Es waren die täglichen unbeugsamen Versammlungen auf der Sonnenallee und in anderen Teilen der Stadt, die es letztlich schafften, die Demonstrationsverbote zu durchbrechen.
Es war die Solidarität zehntausender Berliner*innen und Internationalist*innen, die das Existenzrecht von Palästinenser*innen erkämpft haben. Auch heute hier auf dieser Demonstration ist es wichtig, Solidarität mit dem palästinensischen Volk laut und deutlich einzufordern. Und warum?
Das sagt uns einer der bekanntesten palästinensischen Intellektuellen, Edward Said. Er sagte, denken Sie an die Solidarität mit dem palästinensischen Volk hier und überall - in Lateinamerika, in Afrika, Europa, Asien und Australien. Und denken Sie auch daran, dass es eine Sache gibt, für die sich viele Menschen engagieren, trotz der Schwierigkeiten und der schrecklichen Hindernisse. Und warum? Weil es eine gerechte Sache ist. Ein edles Ideal. Ein moralisches Streben nach Gleichheit und Menschenrechten.
Hoch die internationale Solidarität. Freiheit für Palästina. Vielen Dank.
Mehr dazu bei https://nie-wieder-krieg.org/
und die Rede im Video Iris Hefets (Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost) gemeinsam mit Nadija Samour (deutsch-palästinensische Juristin),
und https://www.aktion-freiheitstattangst.org/de/articles/8598-20231126-ruestungswahnsinn-stoppen.html
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