1917 versuchte der Freisinnige Arthur Hoffmann, starker Mann im Bundesrat, mit Hilfe des SP-Politikers Robert Grimm einen Separatfrieden von Russland und Deutschland zu erwirken. Als dies bei den Staaten der Entente ruchbar wurde, kam es zu einer schweren diplomatischen #Neutralitätskrise, die Hoffmann zum Rücktritt zwang. Der katholisch-konservative Aussenminister Giuseppe Motta führte die Schweiz mittels einer heftig umkämpften Volksabstimmung 1920 in den Völkerbund. Damit verbunden war eine „differenzielle Neutralität“, die das Land dazu veranlasste, Wirtschaftssanktionen mitzutragen, nicht aber militärische Interventionen. Nach der Besetzung Abessiniens durch Italien, die gefährlichen Sanktionen gegen den faschistischen Nachbarn im Süden nach sich gezogen hätte, konnte der Bundesrat die Schweiz 1938 wieder zur integralen Neutralität zurückführen.
In der Nachkriegszeit verfolgten sämtliche Chefs des Aussendepartements einen mehr oder weniger internationalistischen Kurs. Hatte Max Petitpierre der Neutralität „Universalität“ und „Solidarität“ zugesellt, prägte Micheline Calmy-Rey (SP) 2006 die „aktive Neutralität“. Ihre krachend gescheiterte „Genfer Initiative“ für einen Nahostfrieden war das Resultat des Versuches, auf der Weltbühne eine „aktive“ Rolle zu spielen. Der Begriff „aktive Neutralität“ ist Ausfluss eines undisziplinierten Denkens, denn es handelt sich um einen Widerspruch in sich selbst: Neutralität ist nämlich immer eine passive Haltung. Dennoch wird die bewährte schweizerische „Diplomatie des Vorbildes“ zunehmend durch eine „Diplomatie des erhobenen Zeigefingers“ verdrängt. Die Ergebnisse dieser „Aktivierung“ sind nicht vertrauensbildend.
Die Schweiz verfällt heute zunehmend einer Politik der Phrasen, die einfach das wiederholt, was international gerade üblich ist. Es ist dies eine Politik des blossen Mitschwimmens im Chor der Unwahrhaftigkeit, der Heuchelei, der Sündenbockmentalität und der selbstgefälligen Unterscheidung zwischen „Guten“ und „Bösen“. Damit stossen wir andere Länder vor den Kopf, verärgern Handelspartner und schaffen sogar Feindschaften.
Neuerdings kommt – von Ignazio Cassis (FDP) erfunden – die „kooperative Neutralität“ mit bedingungsloser Übernahme von EU-Sanktionen hinzu. Demnächst wird wohl auch noch die „flexible Neutralität“ entdeckt.
Die Neutralitätsmüdigkeit, die in der Geschichte zum Wohl des Landes immer wieder eingedämmt werden konnte, ist mittlerweile in der offiziellen Schweizer Politik angekommen.