18.02.2024 Verlaufsprotokolle des Polizeikessels jetzt öffentlich
"... nicht unkontrolliert ablaufen lassen"
Eine Demonstration für Versammlungsfreiheit am 3. Juni 2023 zum sogenannten „Tag X” in Leipzig führte dazu, dass mehr als 1300 Menschen im Juni 2023 auf einer Wiese im Süden Leipzigs in einem Polizeikessel elf Stunden ausharren mussten. Die Betroffenen wissen nun wie es um die Versammlungsfreiheit in Sachsen bestellt ist.
"Frag den Staat" hat nun den detaillierten Verlaufsbericht des Einsatzes sowie mehrere im Nachgang erstellte Protokolle durch eine Anfrage nach dem neuen Sächsischen Transparenzgesetz aus dem geheimen Dokumentenknast "Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch" (VS-NfD) befreit.
Aus diesen Dokumenten ergibt sich, dass bereits mehr als eine halbe Stunde vor Beginn des Polizeikessels der zuständige Polizeiführer erstmals anordnete, dass die Teilnehmer der Veranstaltung „nicht unkontrolliert ablaufen dürfen“. Zu diesem Zeitpunkt gab es einzelne vermummte Personen, jedoch keine gewalttätige Aktionen oder deren Vorbereitung, wie etwa Steine sammeln.
Kurz darauf wird von der Polizeiführung präzisiert bei jeder Person eine Identitätsfeststellung durchzuführen und "jeden unkontrollierten Abgang" von der Demo zu verhindern. Im Einsatzprotokoll geht die Polizei von 500 Personen aus, die sie festgesetzt hat, andere Protokolle notieren die Zahl 300 bis 400. In dem Polizeikessel befinden sich 1323 Menschen – darunter mehr als hundert Jugendliche und zwei Kinder.
Pauschal allen Eingekesselten die Beteiligung an Straftaten zu unterstellen und gegen sie zu ermitteln, hält der Polizeirechtler Clemens Arzt schon an den folgenden Tagen gegenüber dem MDR für rechtlich unzulässig: "Eine solche Maßnahme gegen Hunderte von Menschen für eine so lange Dauer, die scheint mir rechtlich nicht zulässig gewesen zu sein." Er forderte die Betroffenen dazu auf dagegen vorzugehen. Dies insbesondere, weil alle Eingeschlossenen im Polizeikessel nach Rücksprache mit einem Staatsanwalt als Tatverdächtige von Straftaten geführt und erkennungsdienstlich behandelt werden sollten.
Um 22:01 Uhr notiert die Polizei 100 Personen abgearbeitet zu haben, um 0 Uhr sind es 250, um 1:45 Uhr werden noch 300 Personen im Kessel vermutet. Auch nach einigen Tagen spricht die Polizei "nur" von 1031 Identitätsfeststellungen, inzwischen liegt die offizielle Zahl bei weit über 1300 Eingekesselten. Warum die Polizei mit ihren Personenschätzungen so daneben lag - wir kennen das ja auch oft von den Zählungen bei Demonstrationen - erstaunt, denn der Polizeibericht bestätigt, dass bereits um 17:06 Uhr Polizisten in Zivil inmitten der Versammlung im Einsatz waren.
Genauso unerklärlich ist, dass in den Protokollen bereits um 18 Uhr die Anfrage der Polizei nach Wasser und Toilettenmöglichkeiten für 800 Personen vermerkt wird, wo sie nach ihren Eintragungen von 300 Personen ausging. Um 22:57 Uhr wurde wegen der nächtlichen Temperaturen der Bedarf an Rettungsdecken wegen drohender Unterkühlung notiert. Diese trafen erst um fünf Uhr morgens vor Ort ein und wurden "nicht mehr benötigt“.
Frag den Staat schließt seinen Bericht mit der Feststellung: Gegen alle 1321 strafmündigen Personen, die in jener Nacht im Leipziger Kessel ausharren mussten, laufen seitdem Strafverfahren. Sie alle sind des Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall beschuldigt. Lediglich die beiden Kinder, die inmitten der Gruppe von der Polizei festgehalten wurden, sind davon ausgenommen. Zudem gibt es Hinweise, wonach diese 1321 Personen zwischenzeitlich durch den Sächsischen Verfassungsschutz im gemeinsamen Informationsportal der Nachrichtendienste (NADIS) erfasst worden sein sollen – zugeordnet dem Phänomenbereich Linksextremismus.
Der VS gibt dazu natürlich keine Auskunft ...
Frag den Staat hält das nicht für "natürlich" und hat deshalb einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Sachsens Verfassungsschutz eingereicht.
Mehr dazu bei https://fragdenstaat.de/blog/2024/02/12/chaos-und-widerspruche-zum-leipziger-polizeikessel/
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