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Schutzpflicht und Benachteiligung. Fortschritt und Grenzen des jüngst ergangenen Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses zur Triage (Von Hans Otto Rößer)
...Theorie des Rechts ist nicht in erster Linie Ideologiekritik, sondern analysiert das Recht als System von Formen, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert werden. Diese setzten jenem Rahmen und Grenzen. So ist es gewiss zu begrüßen, dass der Entscheid im Namen der Menschenrechte eine Barriere gegen den krudesten Utilitarismus errichtet, der unterm Fetisch der »Erfolgsaussicht« das »Survival of the Fittest« zu seiner Sache macht. Gleichzeitig ist aber zu konstatieren, dass das Gericht nirgends die Voraussetzungen, die die Anwendung der Triage real möglich erscheinen lassen, in Frage stellt. Der Beschluss wirft keinen Sand ins Getriebe. Es kann weiterlaufen, nichts stockt.
Bereits der Verfassungsbeschwerde ging es allein um die »gerechte« Verwaltung des Mangels, also um die »faire« Zuteilung knapper Ressourcen, nicht um die Infragestellung dieser Knappheit selbst und der Triage als Folge davon. Wenn das Kriterium der Reihenfolge, in der Patienten eine Klinik erreichen, die Reihenfolge der Behandlung bestimmen soll, ist der Mangel nicht beseitigt, sondern wird nur anders verteilt als nach dem fragwürdigen Kriterium der »Erfolgsaussicht«. Die Beschwerdeführerin Nancy Poser formuliert die möglichen Konsequenzen der von ihr geforderten gesetzlichen Regelung der Triage nach dem Prinzip »Wer als erste da ist, wird als erste behandelt« einverständig so: »Dann sterbe ich vielleicht, weil ich zu spät dran war, aber nicht, weil ich behindert bin.« (SWR, 17.11.2020) Solche Äußerungen bestätigen Marx’ Kritik an den Grenzen der Verteilungsgerechtigkeit, die ihre Voraussetzungen (die Produktion usw.) nicht in den Blick nimmt, sondern nur nachgeordnete Probleme bearbeitet.
Im Fall des Gesundheitswesens sind die Auswirkungen negativer Folgen des Mangels schon im »Normalfall« ungleich verteilt, weil sich reiche Menschen ihnen in der Regel entziehen können. Da sich die Covid-19-Pandemie nicht explosionsartig durchsetzt, sondern wellenförmig, als eine Katastrophe »in Zeitlupe« (Christian Drosten), wäre es zumindest Gesellschaften wie jener der Bundesrepublik möglich, in den Pausen der Pandemie die Ressourcen des Gesundheitssystems soweit zu adjustieren, dass triageträchtiger Mangel ausgeschlossen werden kann. Sofern dies nicht geschieht und die Triage praktiziert wird, werden alle Beteiligten und Betroffenen den Imperativen einer inhumanen Situation unterworfen, die keineswegs »schicksalshaft« oder »tragisch« ist, sondern verändert werden könnte. Die Triage ist dann eine immanente Konsequenz der Ausrichtung des Gesundheitssystems an Kostenersparnis und Gewinnmaximierung anstatt am Bedarf. Dem medizinischen Personal wird es überlassen, aus der von ihm nicht verantworteten volkswirtschaftlichen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems die Konsequenzen vor Ort zu ziehen. Das Beharren auf ärztlicher »Primärverantwortung«, sei sie korporatistisch oder individualistisch gefasst, wäre dann das, was Theodor W. Adorno einmal der Autorität des Lehrers attestiert hat: eine (todernste) Parodie wirklicher Handlungsmacht....
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