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Hier in 3 Zitatblöcken die Auszüge aus einem sehr guten und wichtigen Artikel über Opportunismus und die Linke im globalen Norden:
Die Kunst des Umfallens - Zum Antrieb des Opportunismus, zu seiner jüngsten Form und zur Frage, wie zu kämpfen geht
1. Identitätspolitik und Opportunismus
"Es gibt in der Linken stets eine Menge von Leuten, die in das Ensemble der genuin bürgerlichen Ideologien zurückwollen. Diese Tendenz muss sich als eigenständige Strömung artikulieren. Da Opportunismus kein Wesen hat als die Suche der konvenienten Position in einer konkreten historischen Lage, hat er keine Form, die sich festhalten ließe. Er liefert die Haltung, die Form kommt von der Zeit. Womit sie deren Wandel unterliegt. Die dominierende Form unserer Periode ist die Abspaltung der »Liberals« von den Linken. Das allmähliche Ersetzen sozialpolitischer Fragen durch kulturelle und das zunehmende Messen des Fortschritts an den Kriterien des einzelnen unter Vernachlässigung kollektiver Kriterien – das also, was mit dem Etikett »Identitätspolitik« versehen wird. »Liberals« kompensieren ihre steigende Unlust am Klassenkampf mit einer Sorge um Minderheiten oder ausgestoßene einzelne. Es geht um Geschlechtsidentitäten, Hautfarben, Religion und sexuelle Neigungen. Alles löst sich auf in »Awareness«. Sie stehen ganz auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft, sie gehören in das Ensemble der oben aufgezählten partikularen Grundrichtungen, und zwar genuin, da sie reduzierte Linke sind, bei denen das, was diese Gesellschaft überschreitet oder grundlegend in Frage stellt, ausgetilgt scheint. Allen exzentrischen Posen zum Trotz sind sie Teil der Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Fraktion. Das englische »liberal« wird oft missverstanden. Ich schlage die Bezeichnung Commitmentlinke vor, weil es das ist, worum es dabei im Kern geht – einen Kampf um Anerkennung nämlich. [...] Wir sprechen von Linken, die keine Sorge mehr kennen, als Teil des Ganzen zu werden. Wo es um Anerkennung geht, wird das augenfällig, denn ich kann nicht bekämpfen, um wessen Anerkennung ich mich andererseits bemühe. Die Sorge um Randgruppen missrät zum Ersatz für Sozialpolitik, weil sie projektiv ist. In der Randgruppe erkennt die Commitmentlinke sich wieder. Missachtet, wir hatten das, fühlt auch sie sich, Teil der Mehrheitsgesellschaft möchte auch sie sein. Opportunismus ist also kein unerfreulicher Begleitumstand, sondern das eigentliche Ziel linksliberaler Teilhabepolitik. Das Elend beginnt, wo Linke sich den Kopf der Herrschenden zerbrechen. Wo sie gestalten statt kämpfen wollen. Wo sie anfangen, sich als Teil des Ganzen zu fühlen, haben sie aufgehört, links zu sein."
2. Bewegungslinke vs. Wagenknecht: Zwei Seiten des sozialdemokratischen Opportunismus
"Übrigens sind die Elemente des Widerspruchs einander nicht äquivalent. Das Konzept der Anerkennung liquidiert den Klassenkampf, aber das Konzept des Klassenkampfs schließt Anerkennung nicht aus. Die Politik der Anerkennung muss ihm untergeordnet und auf das utopische Ziel des Klassenkampfs bezogen werden. Sie verliert so nichts von ihrem Gehalt, lediglich ihren integrativen, opportunistischen Charakter. Damit ist zugleich eine Abgrenzung deutlich gemacht von Tendenzen, wie sie prominent besonders von Sahra Wagenknecht vertreten werden. Sie – nicht minder sozialdemokratisch und opportunistisch als ihre Gegenspieler der Commitmentlinken – gibt vor, eine Alternative zur Identitätspolitik zu haben. Was sie dann serviert, ist eine alternative Identitätspolitik. Das Problem scheint für diese Richtung nicht, dass das Bemühen um Anerkennung die Systemfrage und den Klassenkampf liquidiert, sondern dass die Interessen der falschen Gruppen vertreten werden. Von der Arbeiterklasse keine Rede, dafür von der Verteidigung der »Mehrheit« gegen vermeintlich mächtige Minderheiten. Linke Politik, zumal marxistische, hat sich gegen beide Richtungen abzugrenzen. Man kann die Kritik an der Identitätspolitik so überdrehen, dass sie mit den Sorgen der Rechten zusammenfällt. Umgekehrt wird Identitätspolitik, die nicht historisch-materialistisch basiert ist, immer zur Liquidation klassischer linker Haltungen führen, wobei die Preisgabe dieser Haltungen besser verkauft werden kann, wenn sie sich als linkeste Nothandlung darstellt. Entsprechend brüllt der gut trainierte Commitmentlinke, wie auch zur Stunde zu beobachten, praktisch jeden sozialen Protest nieder, weil sich immer ein Rechter findet, der mitgelaufen ist, oder eine Protestlosung, die so verwaschen formuliert war, dass sie auch vom rechten Lager benutzt werden könnte. Die zunehmende Besetzung sozialer Themen durch rechte Parteien – die neben anderen Gründen pikanterweise erst dadurch möglich wurde, dass die soziale Frage im linken Lager den zentralen Status verloren hat –, gerät der Commitmentlinken zur willkommenen Gelegenheit, das abzulehnen, was man ohnedies ablehnen wollte."
3. Unmöglicher Internationalismus?
"Links sein bedeutet wider die Klassengesellschaft wirken. Bedeutet nationale Opposition gegen die Regierung des eigenen Landes. International bedeutet es Solidarität mit der Arbeiterklasse und den mittellosen Schichten der anderen Länder. Diese Solidarität fordert ihre eigene Kampfform, sie lässt sich nicht durch die militärische Macht von Klassenstaaten herstellen. Weder die Streitkräfte Westeuropas noch die der USA oder Russlands können zum Instrument der sozialen Revolution oder Emanzipation werden. Globaler Kampf von links geht nur auf eine Weise, nur durch eine Methode: den Aufbau einer handlungsfähigen, organisierten Internationale.⁵ Der Opportunismus hat einmal die Internationale zusammenbrechen lassen. Unsere Frage lautet: Wie schaffen wir den umgekehrten Fall? Dass wir davon elend weit entfernt sind, bestreitet niemand. Aber allein aus dem Umstand, dass ein erprobter Weg verschüttet ist, folgt nicht, dass es einen anderen geben müsse. [...] Was dem Internationalismus im Weg steht, ist nicht allein der Graben zwischen der klassischen und der Commitmentlinken, der nicht bloß tief, sondern letzthin so breit geworden scheint, dass es keinen Sinn mehr hat, ihn zu überbrücken. Dieser Graben verläuft zugleich international zwischen der Linken des »globalen Nordens« und der des »globalen Südens«. Beide, geprägt durch unterschiedliche Welten, haben sich kaum etwas zu sagen. In den Trikontländern ist das Erlebnis der Not intensiver und allgemeiner. Man kann es nicht ausblenden, zumal in den meisten dieser Länder eine breite, im Wohlstand lebende Mittelschicht fehlt, die eine von den Erlebnissen der Unterschicht abtrennbare Blase bilden und das Selbstverständnis der Gesellschaft dominieren kann. Das fördert bei den linken Organisationen der betreffenden Länder einen intuitiven, unmittelbaren Materialismus, der in Verbindung mit kulturellen Rückständen tritt, sie integrierend oder gar ins Progressive kehrend. Die Linke des Nordens tritt dagegen mehr weltverbesserisch als kämpferisch auf, sie ist geprägt von Ländern, in denen selbst die ärmsten Schichten noch privilegiert leben, sofern man den Weltmaßstab anlegt. Sie hat ihren Frieden mit der Weltordnung gemacht, auch wenn sie die nach wie vor abzulehnen meint. Im Verhältnis zur Linken des Südens dominiert eine Kritik an jenen kulturellen Rückständen, an religiöser Gängelei, Misogynie, Homophobie, Antisemitismus und dergleichen. Aber diese Kritik ist selten solidarisch, sondern ebenso wie die Kritik an den hiesigen Sozialprotesten nur ein Vorwand, das nicht tun zu müssen, was man ohnehin unterlassen wollte. Eine Unlust am Kampf trifft auf die Angst, Privilegien zu verlieren. Man lebt recht gut in dieser Hälfte der Welt. Man will die Ordnung der Dinge erhalten, sie aber nach Feierabend auch ein bisschen unmenschlich finden können. Dem Trieb nachgeben und sich trotzdem gut dabei fühlen. Solange diese Haltung im Norden vorherrscht, wird ein handgreiflicher Internationalismus ebenfalls bloß ein schöner Wunsch zum Feierabend bleiben.