Silvio Meier, am 21.November 1992 von Nazis ermordet
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Erinnerung an die Geburtsstunden des Deutschlands in dem wir heute leben. Ein Auszug:
1992 erlebte Deutschland eine Welle rechten Terrors. Eines der Opfer: der Antifaschist und Hausbesetzer Silvio Meier, der vor 30 Jahren erstochen wurde (Von Florian Osuch)
Das Jahr 1992 war ein Höhepunkt neofaschistischer Gewalt in der Bundesrepublik. In keinem anderen Jahr wurden mehr Menschen durch Rassisten, Neonazis oder andere Rechte verletzt oder getötet. Von Kiel bis Freiburg, von Aachen bis Cottbus wurden Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge gejagt, Sinti und Roma angegriffen, Obdachlose erschlagen, Migrantinnen und Migranten in ihren Häusern verbrannt, Punks und Linke getötet. Vielfach wurden die politischen Motive der Taten bestritten. Doch selbst wenn rechtsextreme Hintergründe offensichtlich waren, wurden sie von Polizei, Justiz und etablierter Politik verschleiert.
Das rassistische Pogrom in Hoyerswerda im Sommer 1991 war der Auftakt zu einer Welle des rechten Terrors. Aus Teenagern wurden Brandstifter, wie am 3. Oktober 1991, als drei Jugendliche im Alter von 18 und 19 Jahren in Hünxe nahe Oberhausen ein Haus in Brand setzten, in dem eine libanesische Familie wohnte. Zwei Mädchen im Alter von acht und zehn Jahren wurden lebensgefährlich verletzt.
Der Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete in Saarlouis vom 18. September 1991 wird seit diesem Monat – 31 Jahre nach der Tat – vor Gericht verhandelt. Damals starb der 27jährige Samuel Kofi Yeboah aus Ghana. Angeklagt ist ein früherer Neonazi. Antifaschistische Gruppen aus dem Saarland hatten bereits kurz nach der Tat auf ein rassistisches Motiv und auf die lokale Neonaziszene aufmerksam gemacht. Interessiert hat das viele Jahre niemanden.
An die wenigsten Getöteten wird erinnert. Die Überlebenden der Anschläge, die Verstümmelten oder Traumatisierten wurden vielfach allein gelassen.[...]
Mord im U-Bahnhof
Zu einer erneuten Eskalation kam es am 21. November. Der 27jährige Antifaschist und Hausbesetzer Silvio Meier wurde am U-Bahnhof Samariterstraße im Bezirk Friedrichshain erstochen. Meier, der sich in der »Kirche von unten« engagiert hatte, war 1987 Mitorganisator des Konzerts der Westberliner Band »Element of Crime« in der Zionskirche im Bezirk Prenzlauer Berg gewesen, das von Neonazis überfallen worden war. Er und drei Freunde trafen an jenem Novemberabend auf eine Gruppe junger Leute, von denen einige aufgrund ihrer Kleidung als Rechte erkennbar waren. Die Neonazis wurden zur Rede gestellt, es kam zu einer Rangelei, und einem der Rechten wurde ein Aufnäher abgenommen. Die Sache schien zunächst erledigt. Als die beiden Gruppen wenig später am Ausgang des U-Bahnhofes erneut aufeinandertrafen, hatten die Rechten bereits Messer gezückt und griffen die Antifaschisten unvermittelt an. Silvio Meier starb, zwei Freunde wurden schwer verletzt.
Die Polizei begann noch in der Nacht des Vorfalls ihre Ermittlungen und versuchte sogleich, den Hintergrund der Tat zu verschleiern. Ein Überlebender des Überfalls schilderte dies in einem Interview: »Die erste Vernehmung wurde mit mir, zwei bis drei Stunden nachdem ich zusammengeflickt worden war, gemacht. (…) Ich hatte den Eindruck, dass sie (die Polizei, jW) von Anfang an parteiisch war.«⁷ Es sei den Beamten darum gegangen, den Mord als unpolitische Tat zu deuten. »Vor allem wollten sie aus der Welt schaffen, dass es sich um Rechtsradikale handelt.«
Da Silvio Meier und seine Freunde in den besetzten Häusern der Stadt gut vernetzt und politisch aktiv waren, gab es bereits am Folgetag eine erste Demonstration. Diese führte in den benachbarten Bezirk Lichtenberg zu einem häufig von Rechten frequentierten Jugendklub. Dort entluden sich Wut und Trauer der Anwesenden. Es war bekannt, dass im »Judith-Auer-Club« auch führende Neonazis ein- und ausgingen. Während der Demonstration wurde der Jugendklub stark beschädigt. Zwei Tage nach dem Mord kamen bereits 3.000 Menschen zu einer Gedenkdemonstration, auch weil über den Vorfall umfassend berichtet worden war. Die meisten Medien übernahmen jedoch die Version der Polizei, wonach es keinen politischen Hintergrund des Mordes gegeben habe. Andere Zeitungen gingen weiter: Sie dichteten den Antifaschisten die tödliche Waffe an und machte die Neonazis zu Opfern. Nur durch Gegenöffentlichkeit der linken Szene kam der tatsächliche Hergang ans Licht.
Mit einem Telefonanruf aus dem »Judith-Auer-Club« stellten sich zwei Rechte nach einigen Tagen der Polizei. Der zur Tatzeit 17jährige Haupttäter wurde wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Zwei weitere junge Männer im Alter von 17 bzw. 18 Jahren erhielten Haft- und Bewährungsstrafen von dreieinhalb Jahren beziehungsweise acht Monaten, vier weitere Beteiligte wurden nicht angeklagt.
Der Mord an Silvio Meier und die Kritik am Versuch, Täter und Opfer umzudeuten, war auch Thema im Berliner Abgeordnetenhaus. Irena Kukutz vom »Neuen Forum« sagte in der Woche nach dem Ereignis: »Ich weiß endlich, in welchem Land ich nun wirklich angekommen bin, drei Jahre nach dem Untergang der DDR. Ein Freund meiner Söhne wurde erstochen. Und immer noch macht Herr Landowsky (damaliger Vorsitzender der Berliner CDU-Fraktion, jW) leichtfertig und verantwortungslos ein Gleichheitszeichen zwischen rechten und linken Gewalttätern, zwischen Eierschmeißern auf Politikerfräcke und vorsätzlichen Brandstiftern und Mördern. (…) Auf die Komplizen des wiedererwachten rechten Terrors in der Presse, in der Polizei, in der Politik sollten wir mit dem Finger zeigen und das Gerede vom Zusammenschluss der Demokratie nicht zur Farce werden lassen.«
Am gleichen Wochenende, an dem Silvio Meier erstochen wurde, verübten junge Rechte einen Brandanschlag auf zwei Häuser in Mölln bei Hamburg. Es starben die drei Türkinnen Bahide Arslan, Ayse Yilmaz und Yeliz Arslan. Neun weitere Menschen wurden schwer verletzt.
Keine drei Wochen später wurde im Bundestag der sogenannte Asylkompromiss verabschiedet. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hatte sich mit der SPD auf eine weitgehende Abschaffung des Grundrechts auf Asyl verständigt. Die Zustimmung der Sozialdemokraten war notwendig, weil es sich um eine Änderung des Grundgesetzes handelte, für die im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit notwendig war. Nun galt: Wer aus einem EU-Land oder aus einem als »sicherer Drittstaat« klassifizierten Land nach Deutschland einreist – das betraf alle Nachbarstaaten der BRD –, konnte sich nicht in allen Fällen auf das Recht auf Asyl berufen, sondern musste dieses im Transitland beantragen. Der rechte Mob hatte gesiegt. Die Zahl der Asylanträge fiel rapide von 438.000 Asylsuchenden im Jahr 1992 auf nur noch 127.000 Anträge 1994.
Glatzenpflege auf Staatskosten
Ebenfalls 1992 startete das CDU-geführte Bundesfamilienministerium ein Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Die militante Rechte sollte mit jährlich 20 Millionen Mark befriedet werden. Das Geld gab es insbesondere für Jugendklubs, auch für solche, die von rechten Jugendlichen dominiert wurden. Während vielerorts linke oder nichtrechte Teenager aus Einrichtungen vertrieben wurden, konnten Jungnazis eigene Räume großzügig einrichten. Findige Faschisten nutzten Fördergelder zur Anschaffung von Musikequipment für Rechtsrockbands. Als »Glatzenpflege auf Staatskosten« bezeichnete dies die Zeit. »Ein falsch verstandenes Konzept ›akzeptierender Jugendarbeit‹ vermittelte gewalttätigen Jugendlichen Anerkennung und Bestätigung.«
- https://www.jungewelt.de/artikel/439169.pogromzeiten-pogromzeit.html