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Die Zwangsmaßnahmen, die »in der Frühphase des russisch-ukrainischen Krieges gestartet wurden«, sei es der Ausschluss russischer Banken vom Zahlungssystem SWIFT, seien es die Embargos gegen russische Energieträger, verursachten Kollateralschäden, von denen ungewiss sei, ob insbesondere die Schwellen- und Entwicklungsländer sie bewältigen könnten.
Dass Erdgas teuer geworden ist, hat Folgen für die Verbraucher, und zwar vor allem für die ärmeren unter ihnen. Das gilt schon für die Bundesrepublik und für Europa, also für die eigentlich wohlhabenderen Regionen der Welt. Umso härter trifft es diejenigen Staaten, die kein Wohlstandspolster haben: Für sie wirkt sich der Anstieg des Gaspreises verheerend aus. Nicht anders ist es beim Erdöl, dessen Preis ebenso in die Höhe getrieben worden ist und der bald erneut nach oben schnellen könnte – zum 5. Dezember, wenn die EU nicht nur ihr Embargo in Kraft setzen, sondern außerdem einen weltweiten Preisdeckel für russisches Öl erzwingen will. Beide Maßnahmen, warnte US-Finanzministerin Janet Yellen bereits Mitte September, könnten innerhalb kürzester Zeit zu neuen Höchstpreisen beim Erdöl führen. Die Folgen? Schon im Sommer brachen Proteste in Ecuador, Ghana und Nepal los, weil Benzin für allzu viele unbezahlbar wurde; allein in Indonesien habe es 2022 bislang mehr als 600 Protestaktionen gegeben, hielt die BBC Mitte Oktober in einem penibel recherchierten Überblick fest – ein Vielfaches der gerade einmal 19 Protestaktionen im Jahr 2021. Unruhen verzeichneten bis zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 90 Länder auf allen Kontinenten.
Europa kauft auf
Die Folgen des westlichen Versuchs, auf russische Energierohstoffe zu verzichten, reichen über den globalen Anstieg der Energiepreise hinaus. So hat das Bestreben der europäischen Staaten, so rasch wie möglich aus dem Bezug russischen Pipelinegases auszusteigen, zu einer beispiellosen Jagd nach Flüssigerdgas geführt: Europa kauft, was es nur kriegen kann. Das Problem: Die weltweit vorhandene Menge an LNG ist nicht unendlich. Anfang November konstatierte Torbjörn Törnqvist, Geschäftsführer von Gunvor, dem viertgrößten Ölhandelsunternehmens weltweit, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Bloomberg: »Wir sollten nicht vergessen, dass den Anteil am Flüssigerdgas, den wir kriegen, jemand anderes nicht bekommt.« Dieser »jemand«, das sind in der globalen Konkurrenz diejenigen, die im Preiskampf irgendwann nicht mehr mithalten können: die ärmeren Länder. Pakistans Energieminister Musadik Malik beispielsweise berichtete Anfang Juli resigniert: »Jedes einzelne Molekül, das in unserer Region erhältlich war, ist von Europa gekauft worden.« Warum? »Weil sie ihre Abhängigkeit von Russland verringern wollen.«
Statistiken aus der Energiebranche bestätigten damals Maliks Angaben. Das auf Energie und Rohstoffe spezialisierte britische Beratungsunternehmen Wood Mackenzie teilte mit, die europäischen Staaten hätten ihre Flüssigerdgasimporte vom 1. Januar bis zum 19. Juni gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 49 Prozent gesteigert; dazu hätten sie ihre überlegene Kaufkraft genutzt. Andere seien deshalb zu kurz gekommen: Pakistan etwa, das im selben Zeitraum ganze 15 Prozent weniger LNG habe einführen können als im Jahr zuvor, oder Indien, das 16 Prozent weniger importiert habe. Nicht einmal Lieferungen, die ärmere Staaten sich mit langfristigen Vereinbarungen gesichert zu haben glaubten, waren vor dem Zugriff der Europäer geschützt: Bei den astronomischen Preisen lohnte es sich für Erdgashändler immer wieder, Lieferverträge zu brechen, die deshalb fälligen Strafen zu zahlen, aber viel höhere Summen durch Lieferungen nach Europa zu kassieren. Ein Wood-Mackenzie-Experte stellte konsterniert fest: »Die europäische Gaskrise« – genauer: der unbedingte Wille, russisches Erdgas vom Markt zu drängen – »saugt die Welt bis aufs Blut aus«.
Wozu das führt, kann man exemplarisch in Pakistan beobachten. Bereits Mitte April teilte die Regierung des Landes mit, sie müsse die Stromversorgung künftig drosseln: Die Preise für Flüssiggas seien nicht mehr zu stemmen, und ohnehin hätten LNG-Händler zuletzt fest vereinbarte Lieferungen kurzfristig abgesagt. Anfang Juli berichtete Islamabad, eine LNG-Ausschreibung für rund eine Milliarde US-Dollar habe kein einziges Angebot eingebracht; bei den drei vorigen Ausschreibungen sei gerade mal eines eingegangen – allerdings eines, das unbezahlbar gewesen sei. Die Regierung war gezwungen, Gas zu rationieren; sie kürzte die Arbeitsstunden im öffentlichen Dienst, nötigte Einkaufszentren, ihre Öffnungszeiten zu reduzieren, und erzwang in der ersten Juliwoche gar Betriebsstilllegungen in der für das Land wichtigen Textilindustrie, um Gas für die noch wichtigere Düngemittelproduktion zu sparen. Beobachter warnten, die Textilproduktion, die ohnehin bereits merklich geschrumpft sei, könne noch weiter einbrechen; für die pakistanische Wirtschaft sei das fatal.
Seitdem ist die Lage nicht besser geworden. Während Flüssiggastanker vor den europäischen Küsten kreuzen und warten, bis dort Entladestellen an LNG-Terminals frei werden oder die Preise weiter steigen, gelingt es der pakistanischen Regierung nicht, sich Erdgas in ausreichendem Umfang zu verschaffen. Prinzipiell könnte man Lagerstätten im eigenen Land anzapfen; nur: Das Interesse bei den ausländischen Großkonzernen, die die Fähigkeiten dazu besitzen, ist gering. Pakistan gilt – nicht zu Unrecht – als politisch instabil, also als Risikogebiet. Längst diskutiert Islamabad, ob man nicht Pipelines aus Russland oder aus dem Iran bauen soll. Eine Leitung aus dem Iran ist ohnehin seit vielen Jahren im Gespräch, wird aber von den USA kompromisslos bekämpft. Eine Pipeline aus Russland wiederum wird voraussichtlich an den westlichen Sanktionen scheitern. Was tun? Am 10. November teilte ein Mitarbeiter des Energieministeriums mit, Islamabad bereite für den Winter weitere Rationierungsmaßnahmen vor. Privathaushalte würden dann nur noch für drei Stunden am Morgen, zwei Stunden am Nachmittag und drei Stunden am Abend mit Gas versorgt; mehr sei nicht drin. 16 Stunden am Tag werde ihnen das Gas also abgedreht.
Pakistan mit seinen gut 240 Millionen Einwohnern ist kein Einzelfall. Hart getroffen wird auch Bangladesch (165 Millionen Einwohner). Auch dort kann Flüssiggas kaum noch bezahlt werden. Auch dort mussten bereits im Juli der Strom rationiert, Arbeitsstunden gekürzt und die Nutzung von Klimaanlagen strikt reglementiert werden. Auch dort traf es – und trifft es bis heute – neben Privathaushalten die aufkeimende Industrie des Landes, die nach Jahrzehnten eklatanter Schwäche endlich in einer Hoffnung verheißenden Phase des Aufschwungs angekommen war. Vor allem die Textilindustrie leide, müsse immer wieder Betriebe stilllegen, weil diese nicht zuverlässig mit Energie versorgt würden, berichtete Anfang November ein Spezialist von der Bangladesh University of Engineering and Technology (BUET) in Dhaka der Deutschen Welle. Ähnlich sieht es in weiteren Ländern Süd- und Südostasiens aus – und die Aussichten sind trübe: Die Nachrichtenagentur Bloomberg meldete kürzlich, Europas Bedarf an Flüssiggas werde weiter steigen, wohl um fast 60 Prozent bis 2026. Was das für den Rest der Welt heißt, soweit er bislang LNG nutzte, liegt auf der Hand.
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