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Vor 50 Jahren besetzten indigene Aktivisten die Siedlung Wounded Knee, um auf die Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam zu machen (Von Jürgen Heiser)
Am Abend des 27. Februar 1973 brach eine größere Gruppe von Oglala-Lakota gemeinsam mit Unterstützern des American Indian Movement (AIM) in einer Karawane von 54 Fahrzeugen im Süden des US-Bundesstaats South Dakota auf. Die Angaben zu den Beteiligten schwanken zwischen 200 und 300 Personen. Ihr Ziel war eine etwa 25 Kilometer entfernte winzige Siedlung mit einem großen Namen: »Wounded Knee«, der Ort, an dem 1890 das letzte Massaker der sogenannten Indianerkriege stattfand.
Madonna Thunder Hawk und ihr Cousin Russell Means hatten 1968 das AIM mitgegründet und an den ersten Protestaktionen teilgenommen. So 1969 bei der zwei Jahre dauernden Besetzung der Gefängnisinsel Alcatraz in der Bucht von San Francisco. Und 1972 am »Trail of Broken Treaties« (»Pfad der gebrochenen Verträge«), einem Marsch auf Washington, um die Regierung von US-Präsident Richard Nixon zur Umsetzung der Vereinbarungen mit den Ureinwohnern aufzufordern.
Das Pine-Ridge-Reservat, in dem sich Wounded Knee befindet, war schon seit Jahren in Aufruhr wegen des Rassismus, dem die Oglala-Lakota außerhalb des Reservats ausgesetzt waren. Vor allem aber wegen des korrupten Stammesvorsitzenden Richard »Dick« Wilson, der mit seinem Familienclan wie ein Diktator und als verlängerter Arm des Bureau of Indian Affairs (BIA) über das Reservat herrschte. Alle Versuche des Stammes, Wilson abzusetzen oder aus dem Amt zu klagen, waren gescheitert, nicht zuletzt an dessen Intrigen und der Gewalt seiner Schlägertruppe. Anfang 1973 riefen die Oglala-Lakota das AIM zu Hilfe.
Konfrontation mit der Armee
Thunder Hawk und Means saßen in einem der Autos des Konvois, der in der Nacht des 27. Februar unterwegs war. Thunder Hawk, heute aktiv in der Rechtshilfeorganisation »Lakota People’s Law Project«, schilderte, was dann passierte: »Wir befanden uns einige Meilen nördlich von Wounded Knee, als wir hörten, die Bundespolizei sei hinter uns her.« Über CB-Funk wurden mit Soldaten besetze Schützenpanzer gemeldet, die sich mit FBI und US-Marshals dem Reservat näherten. »Uns war klar, dass wir unsere Leute in Sicherheit bringen mussten«, erinnerte sich Thunder Hawk. »Als wir die Siedlung Wounded Knee erreichten, kam es zum ersten Feuergefecht.« Ihr Auto wurde gestoppt und sie mit ihren Begleitern in Gewahrsam genommen. Die ersten Nächte der Besetzung mussten sie im Gefängnis verbringen. Als sie freigelassen wurden, fuhren sie zurück nach Wounded Knee. Der Großteil der Karawane war den Polizeitruppen entkommen und hatte sich in der Siedlung einquartiert.
Nach der vorzeitigen Konfrontation mit den Sicherheitskräften verschanzten sich die Besetzer in der Kirche, andere im Handelsposten, aus dem sie die dort zum Verkauf gelagerten Waffen und Munition verteilten. Den Laden betrieb das weiße Ehepaar Agnes und Clive Gildersleeve, das vom AIM beschuldigt wurde, die Bewohner des Reservats »abzuzocken«, wie es Ward Churchill und Jim Vander Wall in ihrem Buch »Agents of Repression« (1988) beschrieben.
Den Rest der ersten Nacht blieb es ruhig. Wie geplant wurden Presse und Fernsehen über eine für den nächsten Morgen angesetzte Pressekonferenz informiert. Auf der wollten die Besetzer ihre Forderungen bekanntgeben. Zum einem sollte unter Leitung von Senator James William Fulbright (1905–1995) von der Demokratischen Partei im Senatsausschuss für auswärtige Angelegenheiten eine offizielle Überprüfung der rund 370 Verträge stattfinden, die Washington seit dem 19. Jahrhundert mit den Stämmen der indigenen Urbevölkerung geschlossen hatte. Zum anderen sollte sich unter Leitung des Demokraten Edward »Ted« Kennedy (1932–2009) ein weiterer Ausschuss mit dem Vorgehen des US-Innenministeriums und des ihm unterstellten BIA in der Frage des korrupten Stammesvorsitzenden Wilson befassen.
Doch dazu kam es nicht. Am Morgen des 28. Februar wurde klar, dass rund um Wounded Knee Straßensperren errichtet worden waren. Polizei, BIA, US-Marshals und FBI hatten einen Belagerungsring gebildet, der die Besetzer am Verlassen und ihre von außen kommenden Unterstützer sowie die Medien am Betreten des Geländes hinderten. Die Besetzer errichteten daraufhin Verteidigungsanlagen, indem sie auf der Anhöhe Erdbunker und Schützengräben aushoben, in denen bewaffnete Posten Stellung bezogen.
Dies war der Beginn einer 71tägigen Belagerung, in deren Verlauf es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Die Regierung war nicht an einer friedlichen Lösung interessiert. Auf eine Anfrage des Pentagon, ob die vom FBI angeforderten Gewehre auch für »Todesschüsse« gedacht seien, antwortete das FBI: »Gewehre dienen diesem Zweck.« Als es zu immer häufigeren Schusswechseln kam, schlug das AIM in einen Kommuniqué vor, dass »beide Seiten ihre bewaffneten Kräfte aus dem Gebiet um Wounded Knee abziehen«. Der Sprecher des Justizministeriums, Ralph Erickson, ignorierte das Angebot jedoch und äußerte lediglich seine »große Besorgnis über die Sicherheit der US-Marshals und FBI-Agenten«.
Angebliche Geiseln
Die Regierung verlangte von den Besetzern, sich bedingungslos zu ergeben und die elf Einwohner, die das AIM als »Geiseln« halten würde, freizulassen. Mit der angeblichen Geiselnahme versuchte die Regierung den verfassungswidrigen Einsatz der Armee und den unverhältnismäßig hohen Einsatz von Bundespolizisten bei der Belagerung zu rechtfertigen. Die Besetzer verlangten daraufhin ein Gespräch mit Unterhändlern, um ihnen die Lage zu erklären und ihnen den ursprünglich für die Pressekonferenz vorbereiteten Forderungskatalog übergeben zu können.
Als die beiden Senatoren James Abourezk und George McGovern am 2. März eintrafen, um über »die sichere Freilassung der Geiseln« zu verhandeln, klärte sie Pater Paul Manhart von der örtlichen Kirche darüber auf, dass weder er noch die anderen zehn Einwohner Geiseln seien. In einer Pressekonferenz musste Senator McGovern dies öffentlich erklären und übermitteln, die angeblichen Geiseln seien nicht bereit, ihr Zuhause, Wounded Knee, zu verlassen. Sie würden es vorziehen, bei den AIM-Leuten zu bleiben. Der 68jährige Wilber A. Riegert drückte noch klarer aus: »Wären wir nicht geblieben, wären diese Truppen hier eingedrungen und hätten all diese Leute getötet. Die wahren Geiseln sind die AIM-Leute.«
Die Konfrontation endete am 8. Mai unter Vermittlung des National Council of Churches (NCC) mit der Unterzeichnung eines Übereinkommens, in dem die Besetzer aufgaben und das Weiße Haus zusagte, ihren Forderungen nachzugehen. »Diese Wochen der Belagerung waren hart, aber sie waren es wert«, erklärte Madonna Thunder Hawk zum 50. Jahrestag der Besetzung. »Wir haben einen wichtigen Standpunkt vertreten und die Aufmerksamkeit der Welt auf uns gezogen.«
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