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Sie wird im Bundestag fehlen
Zum Abschied aus dem Bundestag: Dokumentation über 3 Jahrzehnte im Parlament
Liebe Leserinnen und Leser,
1990 zog ich erstmals als damals noch parteilose Westdeutsche über die Liste der PDS in den Bundestag ein. Ich gehörte dem Parlament dann – mit einer Unterbrechung von drei Jahren zwischen 2002 und 2005 – für 28 Jahre bzw. sieben Legislaturperioden an. Nun scheide ich aus dem Bundestag aus.
In den 80er Jahren hatte ich als Abgeordnete für die Grün-Alternative Liste (GAL) in der Hamburger Bürgerschaft bereits parlamentarische Erfahrungen sammeln können. Ich war dort im Rechts-, Frauen- und Sozialausschuss tätig. Im Bundestag lag mein Arbeitsschwerpunkt dann in der Innenpolitik – ich war Innenpolitische Sprecherin zuerst der Gruppe bzw. Fraktion der PDS und später der Fraktion DIE LINKE und Obfrau im Innenausschuss. Es ging dabei um die Verteidigung von Grundrechten gegen einen zunehmenden Trend zum Überwachungsstaat und gegen die fortschreitende Stärkung von Polizei und Geheimdiensten und eine Tendenz zur inneren Militarisierung. Ein zentrales Anliegen war für mich immer die Verteidigung der Rechte von Geflüchteten angesichts einer seit dem sogenannten Asylkompromiss 1993 stetig fortschreitenden Demontage des Grundrechts auf Asyl und der EU-Abschottungspolitik mit ihren tödlichen Folgen. Der Kampf gegen alte und neue Nazis aber auch für eine Entschädigung von NS-Opfern zog sich ebenfalls durch meine gesamte parlamentarische Tätigkeit. Auch internationale Themen wie die Solidarität mit dem Freiheitskampf der Kurdinnen und Kurden oder der Einsatz für die Anerkennung des Genozids am armenischen Volk 1915/16 waren Kontinuitäten.
In rund 850 Sitzungen vertrat ich als Obfrau im Innenausschuss des Bundestages zuerst die PDS und ab 2005 die Fraktion DIE LINKE, zuletzt als dienstälteste Abgeordnete in diesem Gremium. Ich hielt genau 400 Reden vor dem Bundestagsplenum, weitere 191 Reden gingen zu Protokoll. Plenarreden sind eine gute Gelegenheit, die Politik und die Forderungen der Fraktion vor einer großen Audienz deutlich zu machen und die Regierungsfraktionen direkt zu konfrontieren. Doch um der Regierung auf den Zahn zu fühlen, sie zur Preisgabe von unliebsamen Informationen oder manchmal überhaupt erst zu deren Erfassung zu zwingen und Regierungspolitikerinnen und -politiker immer wieder auch der Lüge zu überführen, ist das parlamentarische Fragerecht eine der wichtigsten Waffen der Opposition. Als „Nervensäge“ nicht nur aber vor allem des Innenministeriums reichte ich 2747 von meinem Büro ausgearbeitete Kleine Anfragen mit zahllosen Unterfragen ein und zeichnete insgesamt 14.638 von der Linken initiierte Kleine Anfragen mit. Dazu kamen noch unzählige Schriftliche und Mündliche Fragen sowie einige umfangreiche Große Anfragen.
Ich verstehe mich als Sozialistin. Politisch komme ich aus der 68er-Bewegung und habe mich lange in der autonomen Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung engagiert. Auch als Abgeordnete zuerst in der Hamburger Bürgerschaft und dann im Bundestag war mir bewusst, dass wirkliche politische Veränderung hin zu einer sozialistischen, feministischen und ökologischen Gesellschaft nur mit Druck von unten, von der Straße, aus den Betrieben, Universitäten und Stadtvierteln gegen Staat und Kapital möglich sein wird. Ich habe mich daher auch als Abgeordnete immer als Bündnispartnerin außerparlamentarischer Bewegungen verstanden, deren Anliegen ich im Parlament zur Sprache zu bringen suchte.
Die hier angehängte Dokumentation soll einen kleinen Einblick über meine Themenbereiche und meine Tätigkeit im Bundestag geben. Sie soll aber auch längerfristige politische Entwicklungen insbesondere in der Innenpolitik seit 1990 beleuchten. Deutlich werden darin zudem Chancen und Möglichkeiten ebenso wie Gefahren und Grenzen für revolutionäre Realpolitik im bürgerlichen Parlamentsbetrieb.
Ulla Jelpke