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Wie kommt man auf die Behauptung, wer gegen die Fortsetzung des Kriegs in Gaza und mehr Tote demonstriert, sei per se antisemitisch und von »Judenhass« getrieben? Das geht nur durch Gleichsetzungen. Wer »gegen das Sterben in Gaza« ist, dem wird unterstellt, dass er damit auch »Pro-Palästina« ist; wer »Pro-Palästina« ist, soll auch für die »Hamas« sein; wer für die »Hamas« ist, bestreitet das »Existenzrecht Israels«; wer das »Existenzrecht Israels« bestreitet, soll ein Feind aller Juden sein.
Jede dieser Gleichsetzungen ist eine Unterstellung: Wer gegen das Sterben in Gaza ist, ist keineswegs deshalb auch schon für ein palästinensisches Staatsprojekt; wer für eine Zweistaatenlösung, also einen palästinensischen Staat ist, ist nicht unbedingt ein Anhänger der Hamas; wer mit der Hamas sympathisiert, muss nicht deren Programmatik teilen, dass die Existenz des Staates Israel rückgängig gemacht werden müsse. Und wer der Existenz des Staates Israel nicht viel abgewinnen kann, muss deshalb keineswegs ein Feind aller Juden sein oder gar ihre Vernichtung im Sinn haben.
Alle diese falschen Gleichsetzungen werden innerhalb einer Sekunde vollzogen. Das funktioniert eigentlich nur, weil der Vorwurf des Antisemitismus eine so harte moralische Anklage ist, dass schon jede Form von Nachdenken eine Relativierung darstellt.
Sicher gibt es in Deutschland antisemitische Äußerungen und antisemitische Taten. Wie wäre es angesichts dessen mit Kritik des nationalistisch-rassistischen Denkens, zu dem der Antisemitismus gehört? Und es gibt viele Muslime, die einem traditionellen und politisierten Islam anhängen; da wäre – wie bei Christen, Juden, Buddhisten und Hinduisten sowie ihren religiös-fanatischen Ablegern – an die gute alte Religionskritik zu erinnern. Der Antisemitismusvorwurf, wie er in Deutschland im Augenblick verwendet wird, ist aber nicht einfach das Ergebnis einer misslingenden antirassistischen oder religionskritischen Aufklärungskampagne. Vielmehr dient er gezielt dazu, diejenigen einzuschüchtern oder mundtot zu machen, die eine begründete Kritik an Programm und Vorgehen des Staates Israel haben. Es ist nämlich nicht so, dass in der deutschen Öffentlichkeit »Antisemitismus« verboten, »Kritik an Israel« aber erlaubt sei – wie Bild und Robert Habeck behaupten. Im Augenblick wird jegliche »Kritik an Israel« bewusst und willentlich mit »Antisemitismus« in eins geworfen und damit pauschal diskreditiert.
Das beabsichtigte Klima von Angst und Einschüchterung ist auch eingetreten. Das hält etwa die Süddeutsche Zeitung fest, der arabischstämmige Gesprächspartner abspringen, »weil sie um ihren Aufenthaltsstatus fürchten, um staatliche Förderung für ihre Projekte oder einfach nur um ihren Ruf.« (6. November 23)
Nachweise für tatsächlichen Antisemitismus bleiben die Behauptungen in den Medien meist schuldig; vielmehr wird offenbar darauf gesetzt, dass der Hinweis auf eine Palästina-Fahne schon reicht, um die oben dargelegten Verkettungen in Gang zu setzen: »Da sieht man es ja schon!«
Mit seiner als »wundervoll« gefeierten Rede vom 2. November 2023, in der er den gesamten Zweiten Weltkrieg zum »Vernichtungskrieg gegen die Juden« umzudeuten wusste, hat Robert Habeck eine elegante Art und Weise gefunden, das beliebteste deutsche Wahlkampfargument dieser Zeit – Flüchtlingsbashing – mit dem grünen Moralismus zu verknüpfen. Nein, natürlich sind die Grünen nicht einfach gegen Geflüchtete wie die böse AfD; aber ebenso »natürlich« müssen die Grünen und »wir« die »hier lebenden Muslime« sortieren – in gute, die sich an »unsere« Leitlinien halten, und böse, denen »wir« Antisemitismus nachweisen, um sie dann mit dem besten Gewissen der Welt entsprechend zu behandeln. Klare Kante gegen Linke und Muslime – das kostet nichts und sorgt für Stimmen und gute Stimmung »im Land der Täter«.
Halten wir am Ende fest: Es gab in diesem Fall von Anfang an eine nationale Leitlinie. Die etablierten Medien haben das nicht etwa als Anschlag auf ihre viel gerühmte Freiheit begriffen, sondern als Auftrag wahrgenommen. Sie haben sich darin ebenso als Medium bewährt, das die Vermittlung zwischen Staat und Bürgern gewährleistet, wie als vierte Gewalt im Staat, auf die Verlass ist. Das alles ohne staatliche Gleichschaltung und zentrale Direktive. Gespenstisch!
P. S.: Wer die Völkermordanklage Südafrikas liest, spürt schmerzlich, wie gut es den hiesigen Medien gelungen ist, die erschütternde Faktenlage aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszuhalten. Dass die Bevölkerung das mehrheitlich hinnimmt, ist ebenfalls gespenstisch.
- Von Renate Dillmann (höchstwahrscheinlich ab Morgen 15.01. als vollständiger Artikel freigeschaltet. Hier erst einmal nur ein Auszug)
https://www.jungewelt.de/artikel/466880.gaza-krieg-ganz-ohne-zensur.html