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Ukraine lebt nur noch von moralischem Druck auf westliche Geld- und Waffengeber (Von Reinhard Lauterbach)
Nach außen geben ukrainische Politiker derzeit große Worte von sich. Außenminister Dmitro Kuleba hatte am Wochenende einen Namensartikel in der Welt, in dem er den Krieg der Ukraine zur Jahrhundertauseinandersetzung zwischen »dem kolonialen 19. Jahrhundert« und dem »regelbasierten 21. Jahrhundert« überhöhte. Gleichzeitig trieb er den symbolischen Einsatz hoch: Russland müsse »auf dem Schlachtfeld in der Ukraine« besiegt werden, um allen »Möchtegernaggressoren« der Zukunft eine präventive Lehre zu erteilen. Ist Russland denn nun ein Aggressor oder doch nur ein Möchtegern?
Kulebas Hang zu Großsprecherei ist kein Einzelfall. Die aus Kiewer Sicht unzureichenden Munitionslieferungen an die Ukraine aus der EU kommentierte er Ende vergangener Woche mit den Worten, wenn die EU die von Kiew verlangte Million Granaten des Kalibers 155 Millimeter (für weitreichende Haubitzen) nicht zusammenbekomme, dann erweise sie sich als »unfähig zu strategischer Autonomie«. Noch ein inhaltlich völlig lächerliches Argument: von außen der EU den Inhalt ihrer strategischen Autonomie vorschreiben zu wollen. Genau umgekehrt wäre es ein Armutszeugnis für jene »Autonomie«, wenn sich Brüssel deren Inhalt aus Kiew vorschreiben ließe. Freilich lässt die EU auch so mit sich umspringen. Ihr Außenbeauftragter Josep Borrell wusste auf Kulebas Angriff nicht mehr zu erwidern, als zu bekräftigen, die EU werde die Granaten liefern.
Kulebas Stellvertreter, der aus seiner Berliner Zeit einschlägig bekannte Andrij Melnyk, sagte zu den westlichen Waffenlieferungen, die Ukraine brauche von allem das Zehnfache dessen, was sie faktisch erhalte. Melnyk verlangte von den westlichen Unterstützern nicht weniger als ein zusätzliches Prozent ihres jeweiligen Sozialprodukts zugunsten der Ukraine. Natürlich sind solche Töne Antworten auf die vom Westen angefangene Überhöhung des Existenzkampfes der Postmaidan-Ukraine zur Existenzfrage der »regelbasierten Weltordnung«.
Trotzdem dürfte die gesteigerte Hysterie der ukrainischen Politik gegenüber ihren westlichen Förderern auch eine stillschweigende Einsicht spiegeln, was der Krieg mit der Ukraine selbst anrichtet – einschließlich der Unsicherheit, ob sich mit dem, was er hinterlässt, noch ein erfolgreiches Staatswesen organisieren lässt. Nach außen erklärt Wolodimir Selenskij zum Beispiel, die Ukraine könne Bachmut nicht aufgeben, weil es ein Symbol für den Widerstandsgeist der Nation sei. Was die Ahnung spiegelt, dass eine offene Niederlage in der ukrainischen Öffentlichkeit die Frage aufwerfen muss, ob die schweren Verluste den Einsatz wert waren. Und das öffentliche Bild ukrainischer Politiker spiegelt eine tiefsitzende Unsicherheit darüber, ob der Krieg tatsächlich, wie nach außen behauptet, mit einem Sieg der Ukraine enden werde.
Unangenehme Wahrheiten
Bezeichnend ist dafür die Rolle, die in der ukrainischen Öffentlichkeit der offiziell ehemalige Präsidentenberater Olexij Arestowitsch spielt. Der Mann war Anfang des Jahres aus seiner offiziellen Position ausgeschieden, wird aber nach wie vor im politisch systemhörigen »Fernsehmarathon« immer wieder in die Talkshows eingeladen. Wahrscheinlich mit der Aufgabe, der ukrainischen Öffentlichkeit unangenehme Wahrheiten nahebringen zu können, die der Staatschef seinem Volk nicht zumuten möchte. In einer dieser Sendungen teilte Arestowitsch vor einigen Wochen dem Publikum mit, dass der Wiederaufbau wesentlich schwerer sein werde, als jetzt der Krieg. Denn es werde sich das Problem stellen, wo die Arbeitskräfte herkommen sollten, wenn ein Viertel der Bevölkerung ins Ausland geflohen sei, und was mit den aus dem Krieg zurückkehrenden Veteranen geschehen solle: wo sie Jobs finden würden, die dann ohnehin schlechter bezahlt sein würden als das, was die Männer jetzt als Wehrsold erhielten. Und ob sie dann womöglich ihre Kriegstraumata an ihren Familien austoben würden.
Zuletzt dann, auf die nähere Zukunft bezogen, die Aussicht, dass die vielfach angekündigte und als kriegsentscheidend angepriesene ukrainische Frühjahrsoffensive die Wende vielleicht doch nicht bringen werde. Bei Arestowitsch kleidete sich das in die Worte, das Land müsse sich auf einen zweiten Krieg gegen Russland gegen Ende des laufenden Jahrzehnts vorbereiten. Unterstellt dabei: die Notwendigkeit eines zwischenzeitigen Waffenstillstands aus beidseitiger Erschöpfung. Bis zu jenem antizipierten zweiten Krieg müsse die Ukraine die Geißel der Korruption und Unterschlagung – von der er unterstellte, was jeder Ukrainer weiß: dass sie im Krieg fröhliche Urständ feiert – beseitigen und »Kindereien« wie den Streit über die Staatssprache überwunden haben, weil er einen erheblichen Teil der Bevölkerung potentiell der ukrainischen Staatlichkeit entfremde. Es war nicht weniger als die Bankrotterklärung des ganzen Überbaus der Westwendung der Ukraine seit dem »Euromaidan«.
Hintergrund: Nationaler Notverkauf
Die Ukraine kämpft über ihre Verhältnisse. Die Bedarfsmeldungen aus Kiew nach westlicher Finanzhilfe steigen monatlich um zweistellige Milliardenbeträge. Inzwischen sind sie bei 60 Milliarden US-Dollar angelangt, die allein in diesem Jahr und allein zur buchhalterischen Stabilisierung des Staatshaushaltes – also noch ohne die Kriegsfinanzierung – benötigt werden. Das Staatsdefizit hat inzwischen 100 Prozent des – nominellen – Sozialprodukts erreicht. Jedem anderen Land würde der Internationale Währungsfonds bei solchen Kennziffern sofort den Geldhahn zudrehen.
Aber natürlich nicht der Ukraine. Hier fließt das Geld weiterhin großzügig. Die EU hat Kiew Ende letzten Jahres für 2023 monatlich 1,5 Milliarden Euro zugesagt: 18 Milliarden im Jahr. Die Bundesrepublik zahlt einschließlich ihres Anteils an den EU-Hilfen insgesamt 12,6 Milliarden Euro. Brüssel ist damit, was die Finanzhilfe angeht, inzwischen Kiews größter Geldgeber. Bis zum ersten Jahrestag des russischen Einmarschs waren die Geldzusagen für Kiew um weitere 13 Milliarden Euro gestiegen; das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, das die Zahlen im Rahmen seines Programms »Ukraine Support Tracker« zusammenfasst, nannte das »vergleichsweise gering«.
Um wenigstens einige »eigene« Einnahmen zu generieren, will die ukrainische Regierung jetzt Staatsunternehmen privatisieren. Wenn das Kiewer Parlament Anfang Mai zustimmt, sollen zahlreiche noch staatliche Unternehmen privatisiert werden – zum Schleuderpreis. Mehr als 400 Millionen Euro seien wohl kaum zu erlösen, sagte der Chef des staatlichen Vermögenskomitees, Rustem Umerow, der US-Wirtschaftsagentur Bloomberg vom Donnerstag.
Allerdings müssen die angepeilten Investoren »mutig« sein. So steht unter anderem das Düngemittelwerk am Hafen von Odessa zum Verkauf. Das aber bekommt seit Kriegsbeginn durch die Sanktionen keinen Rohstoff mehr. Das entsprechende Ammoniak wurde nämlich seit Sowjetzeiten aus Toljatti an der Wolga durch eine Pipeline nach Odessa gepumpt. Umerow gab sich realistisch: Wenn die Ukraine die Betriebe dieses Jahr nicht verkauft bekomme, seien sie nächstes Jahr nur noch das Land wert, auf dem sie stünden. Im Grunde eine Einladung an die Investoren, es mit den ukrainischen Schnäppchen nicht eilig zu haben. (rl)
- https://www.jungewelt.de/artikel/449602.entwicklung-des-krieges-auf-allen-kan%C3%A4len.html