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Das Bürgergeld ist da – und betrifft die Leben von fünf Millionen Menschen. Unsere Expertin Inge Hannemann hat alle Fakten zum neuen Hartz IV zusammengetragen (von Inge Hannemann)
Ab dem 1. Januar 2023 ersetzt also das Bürgergeld das bisherige Hartz IV – die „größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“, „ein starkes Signal für Sicherheit und mehr Respekt“, wie Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD sich einst begeistert selbst auf die Schulter klopfte. Nach dem Kompromiss mit der CDU im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat ist davon nicht viel übrig geblieben. Was ändert sich mit dem neuen Bürgergeld tatsächlich im Alltag der Menschen? Und wie viele Menschen betrifft es überhaupt? Eine kleine Übersicht.
Achtung: Aufgrund des Umfangs erfolgt die Umstellung in zwei Schritten: 1. Januar und 1. Juli 2023. Zum 1. Januar gilt die Erhöhung der Regelsätze, die neue Bagatellgrenze, die Karenzzeit für Angemessenheit der Wohnung und Schonvermögen, Abschaffung des Vermittlungsvorrangs.
Die weiteren Änderungen greifen ab Juli: Dazu zählen die Fördermöglichkeiten, das Weiterbildungsgeld und der neue Kooperationsplan (ehemals: Eingliederungsvereinbarung), die Erhöhung der Freibeträge für Erwerbstätige.
1. Wie viele Menschen leben von Hartz IV – und vom Bürgergeld?
Im Oktober 2022 lebten 5,3 Millionen Menschen von Hartz IV. Davon galten rund 3,8 Millionen als erwerbsfähig. 1,5 Millionen zählten als nicht erwerbsfähig. Dies sind vor allem Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Wer vom Arbeitslosengeld II lebt, wird von den Jobcentern in sogenannte „Bedarfsgemeinschaften“ eingeteilt: Im Juli (neuere Daten liegen vonseiten der Bundesagentur für Arbeit nicht vor) gab es 2,85 Millionen solcher Bedarfsgemeinschaften.
Die größte Gruppe, die Hartz IV bezieht, ist dabei die „Single-Bedarfsgemeinschaft“, bestehend aus alleinstehenden Personen (1,55 Millionen). Jede fünfte Bedarfsgemeinschaft war eine Alleinerziehende mit Kindern (566.000) oder ein Haushalt mit zwei Personen (543.000). Insgesamt lebten ein Drittel Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (1,9 Millionen) mit ihren Eltern oder einem Elternteil in den Bedarfsgemeinschaften zusammen.
Diese Zahlen sind wichtig, um einen Überblick darüber zu erhalten, von wie vielen Menschen gesprochen wird, wenn es um Veränderungen beim zukünftigen Bürgergeld geht. Die monatlichen medialen Arbeitslosenzahlen nennen zumeist nur die Menschen, die arbeitslos sind (also: erwerbsfähig, und dem Arbeitsmarkt gerade zur Verfügung stehend). Das sind laut der Statistik, inklusive statistischen legitimen Rechentricks, knapp 1,7 Millionen Menschen.
2. Wer gilt nicht als „arbeitslos“, bezieht aber Hartz IV?
Die nicht berechneten Arbeitslosen befinden sich oftmals in Trainings- oder Qualifizierungsmaßnahmen, in Elternzeit, in einer längeren Krankenphase, sie pflegen Angehörige oder sie ergänzen ihren Lohn mit Arbeitslosengeld II.
Im Juli haben 814.000 von 3,8 Millionen Arbeitslosen neben ihrer Arbeitslosigkeit gearbeitet. Somit hat jede fünfte Bedarfsgemeinschaft mit Hartz IV „aufgestockt“. Die meisten davon waren abhängig beschäftigt (752.000). Davon knapp die Hälfte in einem Minijob bis 450 Euro und rund 40 Prozent im Bereich bis 1.300 Euro brutto. 16 Prozent der abhängig Beschäftigten Bedarfsgemeinschaften verdienten mehr als 1.300 Euro brutto. Kurz gesagt, diese Menschen verdienten so wenig, dass ihr Lohn nicht ausreicht und sie mit Hartz IV ergänzen müssen („Ergänzer“).
Die Ampel-Koalition möchte nun mit dem neuen Bürgergeld die Freigrenzen beim Arbeiten etwas erhöhen, sodass ein wenig mehr im Geldbeutel bleibt. Oder anders ausgedrückt: „Damit sich arbeiten lohnt“. Davon würden, wenn die Zahlen vom Juli genommen werden, 293.000 Menschen profitieren. Sie dürfen nämlich zukünftig 30 statt 20 Prozent von ihrem Bruttoeinkommen behalten.
Ab Juli gilt, dass Schüler:innen, Auszubildende, Studierende, Bundesfreiwilligen- und FSJ-Dienstleistende bis 25 Jahre, die neben ihrer Ausbildung oder Schule arbeiten, bis zu 520 Euro monatlich (Minijobbasis) anrechnungsfrei behalten dürfen. Zuvor waren es 100 Euro plus 20 Prozent vom Bruttoeinkommen. Einkommen aus Schülerjobs in den Ferien bleiben komplett anrechnungsfrei. Für über 25-Jährige gibt es diese Regelung nicht. Bei einem 520-Euro-Minijob bleiben 184 Euro übrig. Der Rest wird vom Jobcenter angerechnet.
Neu eingeführt wurde ein höherer Freibetrag bei einer Beschäftigung und einem Bruttoverdienst zwischen 520 Euro und 1.000 Euro. Hier dürfen bis Juli 2023 20 Prozent vom Einkommen behalten werden und ab Juli dann 30 Prozent. Die bisherige Regelung von 100 Euro Freibetrag aus einer Erwerbstätigkeit bleibt bestehen. Wer zwischen 1.000 Euro und 1.200 Euro verdient, erhält auf diesen Teil nochmals zehn Prozent nicht angerechnet. Lebt ein minderjähriges Kind im Haushalt, kann man bis zu 1.500 Euro verdienen, um hier den zusätzlichen zehnprozentigen Freibetrag zu erhalten.
3. Wie viel Euro sind uns die Finanzierung einer menschlichen Existenz Wert?
Eine weitere Veränderung sieht die Erhöhung des Regelsatzes um 53 Euro von 449 Euro auf 502 Euro für eine erwachsene alleinstehende Person vor. Bei den Kindern und Jugendlichen gibt es eine Steigerung zwischen 33 Euro und 44 Euro und in einer Partner-Bedarfsgemeinschaft jeweils 48 Euro.
Diese Erhöhung gleicht gerade mal in Teilen die derzeitige Inflation aus. Die Stromkosten sind mit 40,74 Euro bereits im Regelsatz inkludiert. Ist der Strom teurer, muss dieser aus dem Restregelsatz selbst beglichen werden. Einen Extrazuschlag vom Jobcenter gibt es nicht.
4. Was bedeutet die „Karenzzeit“?
Wie bereits unter dem Sozialschutzpaket I während der Corona-Pandemie seit Ende März 2020 bleibt die Regelung bestehen, dass es eine sogenannte Karenzzeit für das Wohnen und die Prüfung des Vermögens gibt. Das gilt aber nur für Arbeitslosengeld-II-Neuanträge. So soll es nun für ein Jahr, statt zwei Jahren, einen höheren Schutz von selbst genutztem Eigentum und zur Miete genutzten Wohnraum geben. Die Miete wird im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit in tatsächlicher Höhe übernommen und die Heizkosten sollen in diesem Zeitraum in angemessener Höhe übernommen werden, um sich in dieser Zeit auf die Arbeitssuche oder Qualifizierung zu konzentrieren.
Um die eigenen Ersparnisse, auch eventuell für das Alter nicht anzutasten, wurde die Karenzzeit für das Vermögen beschlossen. So gilt ein Schonvermögen von 40.000 Euro für eine Person und für jede weitere Person 15.000 Euro im ersten Jahr. Diese Summe ist angelehnt an das Wohngeldgesetz, in dem definiert ist, was erhebliches Vermögen ist. Ab dem zweiten Jahr gilt eine Grenze von 15.000 Euro für jedes weitere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft.
Zum Vermögen zählt zukünftig auch eine Erbschaft. Wurde während des Arbeitslosengeld-II-Bezugs geerbt, galt es bisher als einmaliges Einkommen und wurde über einen Zeitraum von sechs Monaten verteilt angerechnet. Überstieg das Erbe den Arbeitslosengeld-II-Anspruch, entfiel dieser komplett. Nach sechs Monaten konnte jedoch ein neuer Antrag gestellt werden. Der nicht verbrauchte Teil des Erbes war dann als Vermögen im Rahmen der Vermögensfreigrenze geschützt.
5. Was heißt „Abschaffung des Vermittlungsvorrangs“ und „Förderung der Qualifizierung“?
Galt bisher in den Jobcentern: Arbeit um jeden Preis, soll nun die Qualifizierung, eine Ausbildung und die Beratung auf Vertrauen und Augenhöhe in den Mittelpunkt rücken. Im Oktober waren 1,1 Millionen Arbeitslose ohne abgeschlossene Ausbildung. Knapp 431.000 hatten eine betriebliche oder schulische Ausbildung und rund 90.000 konnten ein Studium vorweisen.
Dass der sogenannte „Vermittlungsvorrang“ abgeschafft wird, ist positiv zu bewerten, solange sichergestellt wird, dass die anvisierten Ausbildungen und Qualifizierungen finanziert werden können und für alle angeboten werden. Dieser Punkt wurde bisher vonseiten der Ampel-Koalition noch nicht so eindeutig kommuniziert, insbesondere, was die Finanzierung betrifft.
Ein Bonus gibt es noch dazu. Wer eine abschlussorientierte Qualifizierung absolviert, erhält monatlich 150 Euro Weiterbildungsgeld. In diesem Rahmen kann nun auch ein drittes Ausbildungsjahr übernommen werden. Wer eine nicht abschlussorientierte Maßnahme, wie etwa einen Sprachkurs besucht, bekommt einen sogenannten monatlichen Bürgergeldbonus in Höhe von 75 Euro. Parallel dazu bleibt der „soziale Arbeitsmarkt“, Beschäftigungen für Langzeitarbeitslose, unbefristet bestehen. Ein Coaching soll Menschen dabei helfen, die keine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden, wieder Fuß zu fassen.
6. Welche „Sanktionen“ bleiben beim Bürgergeld, und wen betrifft das?
Bei den Sanktionen wurde im Kompromiss als erstes das Versprechen des Sanktionsmoratorium der Ampel-Koalition gebrochen. Eigentlich sollte das Moratorium bis zum Juli 2023 gelten. Nun gilt: Das Saktionsmoratorium endet zum Jahreswechsel. Ab Januar 2023 können die Jobcenter wieder Kürzungen aussprechen.
Terminversäumnisse werden mit zehn Prozent gekürzt, bei den anderen Pflichtverletzungen sind diese gestaffelt. Wird sich zum Beispiel auf ein Stellenangebot vom Jobcenter nicht beworben, so wird dieser erste Verstoß mit zehn Prozent für einen Monat sanktioniert. Beim wiederholten Verstoß werden 20 Prozent für zwei Monate vom Bürgergeld gekürzt und beim dritten Verstoß 30 Prozent für drei Monate. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019 dürfen maximal 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden, wenn zum Beispiel auf einen Vermittlungsvorschlag vom Jobcenter keine Bewerbung erfolgt, eine Trainingsmaßnahme verweigert wird oder Termine versäumt werden. Junge Menschen unter 25 Jahre erhalten bei einer Sanktionierung ein sogenanntes Beratungsangebot. Nicht mehr zulässig ist die Sanktionierung bei den Kosten der Unterkunft.
In den Jahren vor der Corona-Pandemie lag die Anzahl der Sanktionen bei durchschnittlich 950.000 pro Jahr. Drei Viertel davon waren Sanktionen wegen Terminversäumnissen. Diese werden mit jeweils zehn Prozent sanktioniert. Im Jahr 2021 wurden knapp 194.000 Sanktionen durch die Jobcenter ausgesprochen. 2022 waren es in den ersten sechs Monaten bereits rund 250.000 – im Juli 2022 startete dann das Sanktionsmoratorium der Ampel-Regierung.
7. Die „kleinen Erleichterungen“: Bürokratieabbau für die Jobcenter
Für die Jobcenter gibt es Erleichterung in der Bürokratie, da sie bis zu 50 Euro keine Rückforderungen mehr stellen müssen. Zukünftig sollen Anträge digital möglich sein und eine Ortsabwesenheit vom Wohnort soll für alle leichter geregelt werden. Durch den Wegfall der Prüfungen zur Angemessenheit der Wohnung und des Vermögens in den ersten zwei Jahren erhofft man sich hier wertvolle Kapazitäten für die Beratung und Vermittlung von Arbeitslosen.
8. Fördern und Fordern: Das neoliberale Erbe der Schröder-Regierung bleibt uns erhalten
Knapp zusammengefasst: Für „Bestandskunden“ der Jobcenter wird sich, außer der Erhöhung der Regelsätze, nicht viel ändern. Als die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) 2005 Hartz IV einführte, prägte er die Losung: „Fordern und Fördern“. Das Fördern soll mit dem Bürgergeld tatsächlich weiter ausgebaut werden – das Fordern bleibt, was es seit Schröder war: die Erpressung der Leistungsempfangenden und Leistungsberechtigten zum Zwecke ihrer „Mitwirkung“ durch staatliche Drohung mit der Sanktionierung des absoluten Existenzminimums – und damit ein Angriff auf die Würde von 5,3 Millionen Menschen in Deutschland.
- https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/buergergeld-alle-fakten-zu-freigrenzen-miet-und-heizkosten-und-sanktionen
- Inge Hannemann arbeitete jahrelang als Arbeitsvermittlerin im Jobcenter und deckte dortige Missstände auf. Sie war erst Mitglied der Jusos, dann Mitglied der Linkspartei und Abgeordnete der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. 2020 trat sie aus der Linken aus. Hannemann bloggt auf inge-hannemann.de über Hartz IV, Bürgergeld, über Argumente für ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Würde des Menschen.