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Hauptsache regelbasiert und werteorientiert
Bundesregierung will die türkischen Angriffe auf syrische Kurd:innen völkerrechtlich nicht einordnen (von Florian Rötzer)
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke) versucht unermüdlich, die von der Bundesregierung gepflegte Doppelmoral in der Außen- und Militärpolitik aufzuzeigen. Zuletzt hatte sie von der Bundesregierung in einer Schriftlichen Anfrage eine Beurteilung der 2018 erfolgten türkischen Invasion in die syrischen Kurdengebiete Afrin und deren Annexion gefordert. Die „Operation Olivenzweig“ war bereits die dritte türkische Besetzung syrischen Gebiets nach der Operation „Schutzschild Euphrat“ (2016) und der Besetzung von Teilen von Idlib (2017). 2019 folgte der nächste Angriff mit der „Operation Friedensquelle“. Erdogan droht seit einiger Zeit mit einer neuen Invasion in kurdische Gebiete in Syrien, die auch schon wieder beschossen wurden, was zum Tod auch von Zivilisten geführt hat. Überdies greift das Nato-Land Türkei mit Kampfflugzeugen und Drohnen immer wieder angebliche PKK-Stellungen im Irak an. Im Augenblick findet unter russischer Vermittlung eine Annäherung zwischen Ankara und Damaskus statt, die auch zu Lasten der Kurden ausgehen dürfte.
Die Türkei, die nicht von einem Krieg, sondern von militärischen Operationen spricht, beruft sich dabei auf das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta vor den syrischen Kurden, die mit der PKK gleichgesetzt werden, um präventiv Angriffe abzuwehren. Von den syrischen Kurden in der YPG/SDF ging und geht weiter keine akute Gefährdung der Türkei aus, vielmehr war sie maßgeblich für die Bekämpfung des Islamischen Staats, unterstützt durch die von den USA geführte Koalition, obgleich das Nato-Land Türkei selbst den IS und später andere islamistische Gruppen unterstützt hat. Die Intervention der US-geführten Koalition in Syrien geschah überdies ohne Einverständnis mit der syrischen Regierung und ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats.
Auf das Selbstverteidigungsrecht hat sich auch Russland berufen. Die zuvor in die Russische Föderation aufgenommenen Volksrepubliken des Donbass hatten Russland um Hilfe vor einem angeblich bevorstehenden Angriff und stärkerem Beschuss von zivilen Gebieten gebeten, Russland habe die russische Bevölkerung schützen und sich selbst gegen die Erweiterung der Nato in der Ukraine zur Wehr setzen müssen.
Im Fall von Russland lautet die Nato-Formel, es handele sich um einen nicht provozierten Angriffskrieg, der ebenso völkerrechtswidrig sei wie die Annexion ukrainischer Gebiete. Die Türkei ist nicht nur mit Truppen und islamistischen Milizen in syrisches Staatsgebiet eingedrungen, sondern hat auch gezielt und mit dem Begehen von Kriegsverbrechen die dort lebende kurdische Bevölkerung vertrieben, um angeblich eine Sicherheitszone zu schaffen, die mit den Familien der Milizen, anderen Islamisten aus Idlib und sunnitischen Syrern besiedelt wird.
Was auf der Hand liegt, hatte auch bereits der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Hinblick auf die zynisch so genannten Operationen „Olivenzweig“ und „Friedensquelle“(2019) in einem Bericht konstatiert, dass selbst bei großzügiger Auslegung des Selbstverteidigungsrechts eine akute Selbstverteidigungslage im Sinne des Art. 51 VN-Charta zugunsten der Türkei nicht“ erkennbar ist. Damit ist der Angriff völkerrechtswidrig, aber auch die Besetzung der Gebiete als angebliche Sicherheitszone:
„Mangels Vorliegen einer Selbstverteidigungslage lässt sich in der Errichtung einer türkischen ‚Sicherheitszone‘ in Nordsyrien auch keine völkerrechtlich zulässige Selbstverteidigungshandlung sehen. Selbst für den (hypothetischen) Fall, dass eine Selbstverteidigungslage bestünde, lassen Kommentierungen in den Völkerrechtsblogs keinen Zweifel an der Unangemessenheit der türkischen Militäroperation.“
Zudem führt die beanspruchte Sicherheitszone zur Vertreibung bzw. Umsiedlung bzw. ethnischen Säuberung der kurdischen Bevölkerung: „Besatzungsrechtlich sind jegliche Formen der Umsiedlung geschützter Personen in besetzten Gebieten untersagt.“ Es liegt ein Verstoß gegen das Gewaltverbot und ein Aggressionsverbrechen (crime of aggression) vor, das in die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs fällt. Wenn Russland also wegen eines Aggressionsverbrechens angeklagt wird, müsste dies die Türkei auch.
Bundesregierung weigert sich, die türkischen Militäroffensiven als Völkerrechtsverletzungen zu bezeichnen
Auf dem Hintergrund, das die Türkei erneute Angriffe auf kurdische Gebiete in Syrien durchgeführt hat und eine neue Bodenoffensive ankündigt, forderte Sevim Dagdelen die Bundesregierung zu einer Stellungnahme auf: „Hat die Bundesregierung nach bald fünf Jahren eine rechtliche Bewertung vorgenommen, ob sich das NATO-Mitglied Türkei bei der am 20. Januar 2018 unter dem Codenamen ‚Operation Olivenzweig‘ gestarteten Militäroffensive im Norden Syriens um die Stadt Afrin auf das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs i. S. d. Artikels 51 der VN-Charta gegenüber dem Staat Syrien berufen kann?“
Interessant ist das natürlich im Hinblick auf Russland, wo die Bundesregierung selbstverständlich von einem unbegründeten Angriffskrieg und daher von einer Völkerrechtsverletzung ausgeht. Die Bundesregierung windet sich erwartungsgemäß in ihrer Antwort. Auch 5 Jahre später will man das auch mit der Hilfe des Wissenschaftlichen Dienstes nicht beurteilen können, wozu man keinen Tag beim russischen Angriffskrieg brauchte. Man entblödet sich nicht zu sagen: „Die Bundesregierung verfügt weiterhin nicht über das zur abschließenden völkerrechtlichen Einordnung des türkischen Vorgehens in der nordsyrischen Region Afrin nötige Lagebild.“ Damit duldet man Völkerrechtsverletzungen, wenn es den eigenen Interessen und denen von Nato-Partnern dient, die wie die Türkei Deutschland und die EU wirksam erpressen können.
Aber man hat ja etwas freundlich zur Türkei gesagt, das muss der neuen moralischen Außenpolitik genügen, die beim geopolitisch wichtigen Freund die Augen zudrückt, geht es doch nur um die Kurden im Land und in Syrien und im Irak: „Die Bundesregierung hat sich wiederholt kritisch zur fortgesetzten türkischen Präsenz in Nordsyrien geäußert und die Türkei aufgefordert, das humanitäre Völkerrecht, insbesondere die Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung, zu achten und ihre Militärpräsenz in Nordsyrien so rasch wie möglich zu beenden.“ Zu „Schutz der Zivilbevölkerung“ muss man sagen, dass türkische Bombardements nicht nur zivile Ziele treffen, sondern auch Zivilisten töten.
Verwiesen wird auf eine andere Antwort (S. 35) auf eine Anfrage von Sevim Dagdelen, wo der Staatssekretär Andreas Michaelis (Grüne) erneut abwehrend geantwortet hatte. Wieder sei, allerdings jetzt eingeschränkt auf das aktuelle Geschehen, keine „abschließende völkerrechtliche Bewertung“ möglich, allerdings schließe „das Recht auf Selbstverteidigung nicht das Recht auf Vergeltung“ ein. Aber weil man ja angeblich nicht abschließend weiß, bleibt es bei konsequenzlosen moralischen Ermahnungen. Interessant ist in diesem Kontext dann wieder die Antwort des Grünen auf die Frage, ob es das Ziel der Bundesregierung sei, dass die Ukraine den Krieg gewinnt (ebd. S. 36). Auch wird eine direkte Antwort vermieden, aber die Forderungen an Russland hätte man genauso auch an die Türkei stellen müssen: „Russland muss den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort beenden, sämtliche Truppen vollständig aus der Ukraine abziehen und die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen achten.“ Solange dies erforderlich ist, werde man die Ukraine unterstützen, davon ist gegenüber den syrischen Kurden, die noch immer als Wachhund gegenüber dem IS und die in Lagern gefangenen Kämpfer und Angehörigen gebraucht werden, nicht die Rede.
Sevim Dagdelen zur ausweichenden Antwort der Bundesregierung: „Die Ampel bleibt ihrer Doppelmoral treu, wenn sie auch nach fünf Jahren den Angriffskrieg des NATO-Partners Türkei in Syrien nicht als völkerrechtswidrig verurteilt. Bei dieser Bundesregierung verkommt das Völkerrecht zum Steinbruch bloßer Geopolitik.“
Doppelsprech: Kriege werden zu „Militäroperationen“, Besatzung zu „türkischer Präsenz“
Michaelis hatte bei seiner Antwort auf die Antwort auf eine Kleine Anfrage von Sevim Dagdelen und der Linksfraktion im Januar 2022 verwiesen, wo wiederum keine völkerrechtliche Beurteilung des türkischen Kriegs geleistet wird. Man spricht hier auch nicht von Krieg, sondern von „Militäroperationen“, wie das auch Russland macht, wo man sich allerdings darüber aufregt, und nicht von Besetzung oder Annexion, sondern von „türkischer Präsenz“. Das klingt harmlos, auch wenn zur Präsenz mitunter deutsche Leopard-Panzer gehören.
Aber es kommt noch besser. Ich hatte vorher schon darauf verwiesen, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags davon ausgeht, dass die „Präsenz“ mit dem Ziel eines Bevölkerungsaustausches einhergeht. Erdogan hat auch nie besondere Verrenkungen bei der Absicht gemacht, aus der „Sicherheitszone“ die Kurden zu vertreiben und der Türkei genehme Syrer dort anzusiedeln. Mit dem Bau von Siedlungen für Millionen Syrer wurde bereits begonnen. Und was sagt die Bundesregierung:
„Der Bundesregierung sind öffentliche Äußerungen türkischer Politikerinnen und Politiker zur Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen in von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien bekannt. Die Rückkehr syrischer Flüchtlinge kommt für die Bundesregierung nur im Rahmen eines VN-koordinierten Prozesses unter Achtung des Non-Refoulement-Prinzips, freiwillig, in Sicherheit und Würde und ohne gezielte Veränderung der demographischen Struktur vor Ort in Betracht.“
Das ist nett und moralisch gesagt, allerdings ist das natürlich unter Verletzung des Non-Refoulement-Prinzips und mit der gezielten Veränderung der demographischen Struktur – als ob massenhafte Ansiedlung und Vertreibung nicht per se die demographische Struktur verändern würden – geschehen. Aber da kann wohl die Bundesregierung „abschließend“ noch nichts sagen.
- https://overton-magazin.de/top-story/die-bundesregierung-will-die-tuerkischen-angriffe-auf-syrische-kurden-voelkerrechtlich-nicht-einordnen/