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Herunter vom hohen Ross westlicher Werte. Wie wäre es mal auf die Vertreter:innen der Mehrheit der Menschheit zu hören.
Neutralität: China, Indien, Indonesien, Brasilien, Kolumbien und auch andere Länder lassen sich auch ein Jahr nach Kriegsausbruch von keiner Konfliktpartei vereinnahmen. Ein Blick über Europas Grenzen hinaus zeigt andere Perspektiven auf Russlands Krieg
- von Lutz Herden, Christian Wagner, Sabine Kebir, Niklas Franzen
China: Verhaltene Parteinahme
Allzu sehr ist die chinesische Außenpolitik auf friedliche Koexistenz und Respekt vor der UN-Charta bedacht, als dass sie den russischen Krieg in der Ukraine anstandslos billigen würde. Im Gegenteil, sie tut sich schwer damit. Und das unverkennbar. Allein das Risiko eines ausufernden Konflikts mit der NATO beunruhigt, weil der bei einer nach oben offenen Eskalationsskala über die nukleare Schwelle driften könnte. Gilt die Formel von Präsident Xi Jinping von der „verantwortungsvollen Weltmacht“, wäre womöglich mehr Äquidistanz zu den Kriegsparteien angebracht.
Stattdessen lässt sich verhaltene Parteinahme für Wladimir Putin schwerlich leugnen. Dem dürfte die Annahme zugrunde liegen, dass eine russische Niederlage China in der systemischen Rivalität mit den USA schaden würde. Die Volksrepublik kann es sich nicht leisten, aus der Komfortzone eines Unbeteiligten heraus zu verfolgen, wie Russland verliert. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat denn auch Ex-Außenminister Wang Yi eine Friedensinitiative versprochen, die man zum ersten Jahrestag des Krieges verkünden werde.
Als sich Xi Jinping und Wladimir Putin Mitte September 2022 im usbekischen Samarkand während des Gipfels der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) trafen, dankte Russlands Staatschef für die „ausbalancierte Haltung der chinesischen Freunde in der ukrainischen „Krise“ und sprach von einem „außenpolitischen Tandem“, was sein Gegenüber so nicht zurückgeben wollte. Doch brachte Xi seine politische Fürsprache für Russland in einem Moment zum Ausdruck, als dessen Armee im Raum Charkiv an Boden verlor. Nach dieser Begegnung war in der Rhetorik Putins die Drohung mit einem Atomschlag seltener zu hören. Nun hieß es etwa in der Rede vor dem Verteidigungsministerium in Moskau am 21. Dezember: „Kernwaffen sind die Hauptgarantie für die Bewahrung unserer Souveränität und territorialen Integrität“.
Wie China seine Akzente setzt, wurde deutlich, als Li Zhanshu – Vorsitzender des Ständigen Ausschusses im Nationalen Volkskongress und so die Nr. 3 in der staatlichen Hierarchie nach Xi und Premier Li Keqiang – beim Moskau-Besuch am 11./12. September die russische Diktion übernahm und von einer „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine sprach, für die es Gründe gäbe. Während russische Medien dies wohlwollend zitierten, wurden Lis Aussagen in China zurückhaltender oder gar nicht wiedergegeben. Das Geschick der Biden-Administration – sei es bei der Taiwan-Frage oder der „Ballon-Affäre“ – hat Anteil daran, dass China Russland nicht fallen lässt.
Lutz Herden
Brasilien: Lula schickt keine Munition
Einen „Friedensklub“ will Brasiliens Präsident „Lula“ da Silva gründen und zusammen mit China im Ukrainekrieg vermitteln. Im Westen wurde darauf reserviert, teils mit Häme reagiert. Was viele nicht wissen: Während seiner ersten Amtszeit – sie währte von 2003 bis 2011 – war Lula durchaus gefragt, um Konflikte zu entschärfen, beim Atomstreit mit dem Iran ebenso wie zwischen den USA und Venezuela.
Im Mai 2022 hatte ein Interview mit dem US-Magazin Time für Aufsehen gesorgt, bei dem Lula zu verstehen gab, für ihn sei Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj „genauso verantwortlich“ für den Krieg wie Russlands Wladimir Putin. Man müsse mehr über Hintergründe des Konflikts sprechen. Während des Besuchs von Kanzler Olaf Scholz im Januar zitierte Lula ein brasilianisches Sprichwort: „Wenn einer nicht will, können zwei nicht streiten.“ Mit Blick auf Russland meinte er, das Land habe „den klassischen Fehler begangen, in das Territorium eines anderen Landes einzudringen“, deshalb verurteile er zusammen mit Scholz den russischen Angriff. Dies änderte jedoch nichts an der Absage an die NATO, die Artilleriemunition für die ukrainische Armee gefordert hatte. Bei einem Besuch in Washington Ende Januar verteidigte Lula seine Entscheidung. „Würde ich die Munition schicken, würde ich mich in den Krieg einmischen“, sagte er CNN. „Ich will in keinen Krieg eintreten. Ich will den Frieden.“ Auch andere südamerikanische Staatschefs halten sich in ähnlicher Weise gegenüber der Ukraine bedeckt. Kolumbiens linker Präsident Gustavo Petro erklärte, kein russisches Militärgerät, das von der eigenen Armee genutzt werde, in die Ukraine lotsen zu wollen. Ebenso verweigert sich Argentiniens Mitte-Links-Präsident Alberto Fernández einem Waffentransfer. Nur Chiles linker Regierungschef Gabriel Boric will Kiew Schiffe zu Verfügung stellen, um Minen im Schwarzen Meer zu räumen.
Trotz ihres Interesses an einem kooperativen Verhältnis zur EU wollen sich die meisten Staaten des Subkontinents im Ukraine-Konflikt auf keine Seite schlagen. Ihre Außenpolitik folgt einer multipolaren Agenda: Abhängigkeiten von den Großmächten verhindern, stattdessen einen gleichen Abstand wahren und beachten, dass es wirtschaftliche und politische Verbindungen mit Russland wie mit China gibt. Ganz abgesehen davon, dass in der lateinamerikanischen Linken aufgrund der eigenen Geschichte ein tiefes Misstrauen gegenüber den USA besteht. Während der Ukrainekrieg in Europa medial weiter Topthema ist, steht er in Südamerika nur selten im Fokus. Europa ist für viele weit weg.
Niklas Franzen
Algerien: Missverständnis vor der Garküche
Von Anfang an beharrt Algerien im Ukrainekrieg auf Neutralität. Als ich im November in die winzige Garküche „Chez Rebouh“ in Algier treten wollte, wo man aus siedendem Öl gehobene Knuspersardinen bekommt, wurde ich von zwei Passantinnen zurückgehalten. „Sind Sie Russin?“, wurde ich gefragt und kassierte mit meinem Nein eine leichte Enttäuschung. Selten war das seit der Unabhängigkeit 1962 mit Algerien verbündete Russland – früher die Sowjetunion – so angesehen wie heute. Die Bevölkerung ist vom Westen zutiefst enttäuscht, seit den Kriegen im Irak, in Syrien, Libyen und Afghanistan, die „failed states“ hinterließen. Ebenso stößt der westliche Unwille ab, etwas für die Lösung der Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern wie um die Westsahara zu tun. Dass Marokko die Westsahara und Israel die Golan-Höhen sowie Ostjerusalem annektiert haben, verhindert die offizielle Anerkennung der russischen Annexion ukrainischer Gebiete durch Algerien.
Als im Mai 2022 ein NATO-Gesandter Armeechef Said Chengriha nahelegte, Russland zu verurteilen, antwortete der, dass Algerien neutral bleibe und auf gleichen Maßstäben beim Umgang mit UN-Beschlüssen bestehe. Auf einer Konferenz der Mittelmeerstaaten im Dezember bekräftigte Außenminister Ramtane Lamamra, dass sein Land die russische Invasion weder billigen noch verdammen werde. Auch er beschuldigte die westlichen Staaten, bei der Annexion ukrainischer Gebiete andere Maßstäbe walten zu lassen als im Falle palästinensischer Territorien und der Westsahara, deren Inbesitznahme durch Israel beziehungsweise Marokko nicht einmal verbal verurteilt werde.
Wirtschaftlich profitiert Algerien von der in der EU entstandenen Energieknappheit. Hohe Preise für Öl und Gas spülen Devisen in die Staatskasse. Gehälter und Sozialleistungen wurden beträchtlich erhöht. Präsident Abdelmadjid Tebboun empfing im Januar Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, um ein Abkommen über eine schnell zu bauende weitere Gaspipeline Richtung Europa abzuschließen. Die Trasse wird mehrere EU-Länder beliefern, darunter auch Deutschland.
Die meisten Waffen, die Algerien kauft, stammen aus Russland. Am 22. Juli 2022 liefen Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte zum Freundschaftsbesuch in den Hafen von Algier ein. Auf das jährlich von den USA und sieben afrikanischen Staaten in Marokko, teilweise in der Westsahara, veranstaltete Manöver „African Lion“ reagierten Moskau und Algier mit einer Übung im Westen Algeriens.
Sabine Kebir
Indonesien: Das Erbe des „Dritten Weges“
Die Regierung in Jakarta hat Russland im Vorjahr wegen des Einmarsches in die Ukraine nie öffentlich kritisiert. Augenscheinlich galten wegen der Präsidentschaft bei den G20-Staaten Neutralität und Überparteilichkeit als erstrebenswert. Was allerdings Indonesiens UN-Botschafter Dian Triansyah Djani nicht daran hinderte, am 2. März sowie 12. Oktober 2022 in der UN-Generalversammlung für die Resolutionen A/RES/ES-11/1 bzw. A/RES/ES-11/4 zu stimmen, die den russischen Angriffskrieg verurteilten und einen Truppenabzug verlangten. In den Debatten zuvor hatte Triansyah Djani wie auch die Vertreter Südafrikas, Vietnams und Argentiniens moniert, dass in den Dokumenten nicht mit dem nötigen Nachdruck auf Friedensverhandlungen bestanden wurde. Eine Isolation Russlands sei wenig förderlich und trage eher zur Eskalation bei, so der Botschafter.
Ähnlich hat Außenministerin Retno Marsudi den Verzicht auf Sanktionen begründet. Am 7. April 2022 enthielt sich Indonesien wie 57 andere UN-Mitglieder der Stimme, als – wiederum in der UN-Vollversammlung – eine Mehrheit Russlands Präsenz im Menschenrechtsrat suspendierte.
Vor dem G20-Gipfel auf Bali Mitte November 2022 hatte es Forderungen aus den USA und anderen westlichen Ländern gegeben, Russland als Mitgliedsstaat von diesem Treffen auszuschließen. Präsident Joko Widodo lehnte das ab und lud den russischen Präsidenten ausdrücklich ein, der sich dann jedoch von Außenminister Sergej Lawrow vertreten ließ. Ende Juni hatte Widodo – in seiner Eigenschaft als G20-Präsident – erst Kiew und dann Moskau besucht, um sich, wie es hieß, „einen Eindruck von den Positionen beider Staaten“ zu verschaffen, ohne auf eine Verhandlungsmission bedacht zu sein.
Die außenpolitischen Positionen Indonesiens gründen in den Vorstellungen von einer friedlichen Koexistenz zwischen allen Staaten. Eine Auffassung, wie sie schon in den 1950er-Jahren regionale Anerkennung fand. Indonesien war im April 1955 Ausrichter der asiatisch-afrikanischen Friedenskonferenz in Bandung (Westjava), um Länder des „Dritten Weges“ zusammenzuführen. In der Regel erst kurz zuvor in die Unabhängigkeit entlassen oder zum Teil noch kolonisiert, lehnten sie jede Blockbindung strikt ab und sollten wie Ägypten, Indien, Pakistan oder Ceylon (heute Sri Lanka) zu den Wegbereitern der Nichtpaktgebundenen-Bewegung werden.
Indonesiens damaliger Präsident Ahmed Sukarno erregte Aufsehen, als er jede Diskriminierung der Volksrepublik China verwarf und deren Premier Zhou Enlai ebenfalls nach Bandung einlud.
Lutz Herden
Indien: Den geopolitischen Moment auskosten
Russlands Überfall auf die Ukraine hat für Indien einen geopolitischen Moment geschaffen, den das Land für seine außenpolitischen Ambitionen nutzt. Wie nie zuvor buhlen alle Großmächte um seine Gunst. Premier Narendra Modi hat sich zwar mittlerweile vom russischen Krieg distanziert, doch zugleich die wirtschaftliche Kooperation mit Russland ausgeweitet, das zu einem der wichtigsten Öllieferanten Indiens wurde. Zudem investieren russische Staatsfirmen weiterhin und entwickeln Möglichkeiten, anfallende Zahlungen direkt oder über Drittwährungen zu begleichen. Russland, der Iran und Indien haben den internationalen Nord-Süd-Transport-Korridor (INSTC) wiederbelebt.
Indiens überparteiliche Haltung sorgte in den westlichen Hauptstädten anfangs für viel Kritik und Unverständnis. Jedoch musste Delhi keine Sanktionen fürchten, profitiert es doch von den geopolitischen Gemeinsamkeiten mit den westlichen Ländern gegenüber China. Sie resultieren aus der Überlegung, dass Indiens Aufstieg ein wichtiges Bollwerk gegen chinesische Hegemonie im Indo-Pazifik ist. So sind – trotz der fortgesetzt hohen Abhängigkeit von russischen Rüstungseinfuhren – die USA, Frankreich und Israel für Indien mittlerweile die wichtigsten Partner bei der Modernisierung seiner Streitkräfte.
Die EU und die USA haben signalisiert, ihre Beziehungen mit Indien zu intensivieren. Bausteine hierfür sind der neue Handels- und Technologierat EU/Indien sowie die US-Initiative über kritische und Zukunftstechnologien (Critical and Emerging Technology). Selbst China bemüht sich nach dem Grenzzwischenfall im Sommer 2020 wieder um Annäherung, was Delhi als geopolitisches Moment für den eigenen internationalen Aufstieg zu nutzen versteht, um an einer strategischen Autonomie festzuhalten und sich als Pol in einem multipolaren Asien zu etablieren. Dazu zählt, dass die Regierung Modi von den westlichen Staaten einen Blankoscheck für den innenpolitischen Umbau erhält, bei dem Demokratie und Meinungsfreiheit erodieren, dazu die Rechte der Minderheiten zugunsten der Hindu-Mehrheit zurückgedrängt werden.
Indiens auf den ersten Blick komfortable Position ist nicht ohne Risiken. Erstens verursacht die militärische Kooperation mit dem Westen deutlich höhere Kosten als die mit Russland. Zweitens fürchtet Delhi eine allzu enge Anlehnung Russlands an China. Indien bleibt für die westlichen Staaten ein gleichermaßen unabdingbarer wie schwieriger Partner.
Christian Wagner