„Der Gas- und Strommarkt ist ein Kartell, das Menschen und Wirtschaft schädigt und zerstört. Wer da noch zuschaut, macht sich mitschuldig.“
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Die extrem steigenden Energiepreise sind keine Naturkatastrophe, sondern menschengemacht: Wir stehen vor dem Scheitern der Idee, die Energieversorgung Angebot und Nachfrage zu überlassen
Es rollt ein Tsunami auf uns zu, liest man jetzt oft: Eine Flutwelle aus Teuerungen, Gasrechnungen und Stromnachzahlungen, die sich haushoch auftürmt, uns alle zu überrollen. Ein gigantischer Energiepreisschock. Experten schätzen die daraus folgenden Mehrkosten für Deutschland auf mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts. Für Durchschnittsverdiener würde das bedeuten, dass 2023 mindestens ein Nettomonatsgehalt von zusätzlichen Strom- und Gaskosten aufgefressen wird. Mindestens, vielleicht aber auch zwei. Eine Rezession wäre die unausweichliche Folge. Das ist also der anschwellende Tsumani.
Aber ist es wirklich eine Naturkatastrophe, die über uns hereinzubrechen droht? Nein, keineswegs, das Bild führt in die Irre. Der Schlamassel ist gänzlich selbst eingebrockt. Denn das, was wir gerade erleben, ist das Scheitern der marktbasierten Energieversorgung. Das, worin wir von jetzt an leben, ist die Trümmerlandschaft der liberalisierten Strom- und Gasmärkte.
Diese apokalyptische Szenerie sieht so aus: An der Strombörse in Leipzig kostete am Montag eine Kilowattstunde Grundlaststrom zur Lieferung im nächsten Jahr zeitweise mehr als ein Euro. Das ist astronomisch, wenn man bedenkt, dass die Kilowattstunde Strom für Haushalte 2021 noch 32 Cent kostete und dabei fast zwei Drittel aus Steuern und Netzentgelten dabei waren, was bei dem Strompreis an der Leipziger Börse noch gar nicht eingerechnet ist. Beim Gas, mit dem die Hälfte der Haushalte ihre Wohnungen über den Winter heizen, droht ein ähnlicher Schock: Der Großhandelspreis hat sich über die vergangenen zwölf Monate verzehnfacht.
Der Markt funktioniert – für die Profite der Konzerne
Man muss kein Politikwissenschaftler sein, um sich auszumalen, was das für eine Gesellschaft bedeuten kann. Und man muss keine Ökonomin sein, um vorauszusehen, was es für eine Volkswirtschaft heißt, wenn Durchschnittsverdiener auf einmal fast kein frei verfügbares Einkommen mehr haben: keine Restaurantbesuche mehr, keine Flötenstunden für die Kids, keine neuen Geschirrspüler, keine neuen Schuhe, keine Urlaube. Also Rezession. Aber hey, mit dem Markt ist alles in Ordnung: Angebot und Nachfrage! Die Energieunternehmen juckt es wenig, wenn wir frieren.
Klingt das übertrieben? Dann kann als Gewährsmann ein Politiker dienen, der jeder Radikalität unverdächtig ist: der frühere österreichische Kanzler Christian Kern, seines Zeichens Sozialdemokrat. Kern sagt: „Der Gas- und Strommarkt ist ein Kartell, das Menschen und Wirtschaft schädigt und zerstört. Wer da noch zuschaut, macht sich mitschuldig.“ Seit zwei Jahrzehnten heißt es, der Markt werde dafür sorgen, dass Strom und Gas effizienter produziert werden. Und günstiger. Das wäre ja auch das einzige Argument dafür, die Versorgung von Grundbedürfnissen, auf die wir alle angewiesen sind, dem Markt, also privaten profit-orientierten Unternehmen, zu überlassen.
Doch es zeigte sich – und jetzt gerade in besonders grotesker Form –, was viele ahnten und einige wussten. Der Markt funktioniert tatsächlich effizient, sehr effizient sogar: aber für die Konzerne, nicht für die Verbraucher. Für die Profite der Energiefirmen, aber nicht für das Klima. Warum? Weil der Markt sich nach Angebot und Nachfrage richtet, und nicht nach den wahren Kosten. Weil er als Anreiz allein das Profitstreben kennt und nicht die Bedürfnisse der Menschen.
Wie Junkies vor dem Dealer: Wir brauchen den Stoff
Weshalb auch die Spekulation kein „Versagen“ des Marktes ist, sondern sein Herz. Wann immer ein Gut knapp wird, der Preis nur eine Richtung kennt, gibt es Geld zu verdienen. Und je mehr die Käufer angewiesen sind auf das Gut, je dringender sie es brauchen, desto eher werden sie jeden Preis zahlen. Wir sind auf dem Gasmarkt nun mal keine „Marktteilnehmer“, die ihre Nachfrage beliebig dem Preis anpassen oder gar schnell mal die Heizungsart wechseln können: Wir sind wie Junkies vor dem Dealer. Wir brauchen den Stoff.
Das Problem wird durch die Art potenziert, wie unser Strommarkt funktioniert: Den Preis bestimmt stets jenes Kraftwerk, das als letztes – und damit teuerstes – zugeschaltet wird, um die Nachfrage zu decken. Wenn das ein Gaskraftwerk ist, mit dessen Brennstoff gerade Spekulanten wilde Sprünge aufführen: Pech gehabt, dann geht eben der Strompreis durch die Decke. Warum? Wegen des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage.
Es liegt auf der Hand, was eine fortschrittliche Bundesregierung jetzt tun müsste. Gewiss ist es sinnvoll, umfangreichere und zielgenauere Entlastungspakete zu schnüren, um Menschen vor dem sicheren Frieren und der Überschuldung zu schützen. Und gewiss wäre es sinnvoll, das Geld dafür per Übergewinnsteuer von jenen zu holen, die sich an den horrenden Preisen bereichern: den Energiekonzernen.
Beides aber würde auf mittlere Sicht überflüssig, wenn sich die Ampel an eine grundlegende Neuausrichtung des Energiesektors traute. Keine Rückkehr zu staatlichen Fossilmonopolen, sondern die Zerschlagung der Marktmacht großer Konzerne und ihre Neuausrichtung am Gemeinwohl. Zusammen mit einer Investitionsoffensive für Erneuerbare in BürgerInnenhand. Es wäre ein überfälliges Zurückdrängen des Markts da, wo er zu einer Gefahr für alle geworden ist.
- https://www.freitag.de/autoren/pep/der-energiepreisschock-ist-die-folge-der-strom-und-gasmarktliberalisierung